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„Spüren was ist“ – Rezension von Bobby Langer

Mit Messern sollte man vorsichtig umgehen, sie am Griff anpacken und nicht an der Schneide. Lässt sich dieser Satz auf Bücher übertragen? Im Endeffekt ja. Was ich damit meine?

Manche Bücher sind harmlos wie stumpfe Messer. In so ein Buch kann ich mich hineinwerfen und das Buch lässt das mit sich geschehen, weil es genau diesen Typ von Leser will. Dann zieht es mich am Handlungsstrang bis ans Ende, an dem ich aufatmen kann: „Ah, das war also der Mörder!“ Oder: „Ja, so ist das Leben.“ So zu lesen ist ein bisschen wie Sex ohne Zuneigung.

Bei anderen Büchern empfiehlt sich eine vorsichtige Herangehensweise. Man nähert sich ihnen am besten an, indem man sich in ihren Sinn und ihre Aussagen hineintastet, hineinspürt. Man macht dem Buch gewissermaßen den Hof, bis es einen erhört – oder abweist. Lese ich so, dann lasse ich die ersten Sätze und Seiten in mich einfließen, ohne sie zu bewerten und schaue, was sie in mir bewirken, was mit mir geschieht. Und wenn alles gut geht, dann werde ich getragen, statt fortgerissen.

Marc Seegers Buch „Spüren was ist – Die Symmetrie des Lebens“ gehört zur zweiten Kategorie. Und das, obwohl es ein Ratgeber ist. Man könnte es auch als ein Lehrbuch der Achtsamkeit verstehen. Denn „spüren“ ist der Kernbegriff, um den es hier geht. Spüren verstanden als „achtsam sein in Bezug auf etwas“, „Bewusstheit für etwas entwickeln“, also zum Beispiel sein Herz spüren, seinen Atem spüren, oder, schon komplizierter, sein Bewusstsein spüren, seinen Willen, sein Innen und Außen. Dabei knüpft Seeger an den Satz von Saint-Exuperys Kleinen Prinzen an: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

1001 Gedanken wirbeln in diesem Buch durcheinander, werden in Verbindung gebracht, wieder aufgelöst, neu verknüpft; eine Denk- und Spüranregung ersten Ranges. Übungen erleichtern die teils sehr theoretischen Zugänge und öffnen Türen ins eigene Selbst. „Ziel ist es“, so schreibt Marc Seeger, „zu spüren, was ist. Um dahin zu kommen, um ins Spüren zukommen, ist es hilfreich, die eigene Lebenswelt und die verschiedenen Kräfte zu betrachten. Das Spüren ermöglicht es, in ein Gleichgewicht zu kommen und in der eigenen Mitte zu sein.“ Und: „Spüren bringt uns wieder in unseren Rhythmus, den wir an den Takt von Maschinen und Technik verloren haben.“ Dazu gehört auch ein fruchtbarer Umgang mit der eigenen Intuition.

In vielen spirituellen Ratgebern wird zu einem achtsamen Leben aufgefordert. Die Antwort darauf, wie man da hinkommt, bleiben sie oft schuldig. Anders in „Spüren was ist“. Hier werden die nahezu unbegrenzten Dimensionen achtsamen Lebens sehr detailliert beschrieben und jeweils mit Übungen vertieft: „Sich spüren – Alles oder Nichts“, „Gefühle spüren – Unsere Realität“, „Zwischenmenschliches Erspüren – Der Raum entsteht“, „Mitwelt – Die Dimension von Natur und Umwelt“, „Unsere Gegenwart – Die zeitliche Dimension“.

Um nicht im Ungefähren hängen zu bleiben, liefert Marc Seeger mit Hilfe der Blume des Lebens verschiedene Musteransätze, mit denen sich die Verwobenheit von Wirklichkeit und Innenwelt in ihren verschiedensten Aspekten erschließen lässt. Beispiele zeigen, wie man damit umgehen könnte, und unbeschriftete Modelle lassen sich individuell ausfüllen. Letztlich geht es wieder und wieder darum, „sich in der Mitte zwischen den Kräften einzufinden“, sich nicht in Polaritäten zu verlieren, in der Symmetrie des Lebens die Gegensätze aufzulösen.

Das dem Buch angefügte Glossar ist, anders als gewohnt, kein Anhängsel, sondern liefert ganz eigene, oft erstaunliche Anregung, um ins Spüren zu kommen; zum Beispiel das scheinbar so banale Stichwort „Boden“. Ihm kann man sich neu und achtsam nähern mit folgenden Fragen des Autors:

  • Wie nehme ich Böden und den Untergrund, auf dem ich gehe, wahr?
  • Welche Beläge/Untergründe kenne ich? Welche sind natürlich, welche künstlich? Wie wurden die künstlichen hergestellt? Welcher Aufwand ist damit verbunden?
  • Auf welchen bin ich schon barfuß gelaufen?
  • Welche Unterschiede nehme ich wahr?
  • Wie ist mein Gang auf den Böden (vielleicht sicher, fest, locker, weich …)?
  • Nehme ich wahr, dass ich mich auf der ERDE bewege, die sich im Universum befindet?
  • Welchen Kontakt habe ich zu Mutter Erde? Bin ich dankbar dafür, mit auf Mutter Erde zu bewegen? Kann ich ihre Energie aufnehmen und sie durch die Füße in den ganzen Körper verteilen?
  • Welche Unterschiede bemerke ich, wenn ich Energie in der Stadt oder im Wald aufnehme?S

Eine Warnung sei allerdings ausgesprochen: Wer überhaupt keinen Draht zu esoterischen Denkansätzen hat oder sich von Denkmustern wie Feinstofflichkeit, Aura oder Chakra sogar abgestoßen fühlt, sollte von diesem Buch die Finger lassen. Ein Beispiel: „Die Seele kommt auf die Erde, um dazuzulernen, aber auch um das Ursprüngliche zu erhalten und zu bewahren. Da uns das abhandengekommen ist, sind viele Seelen damit beschäftigt, andere Seelen … an ihre Aufgabe zu erinnern.“ Voraussetzung für eine sinnvolle Nutzung des Buches „ist die Bereitschaft, Neues zuzulassen, sich Neuem hinzuwenden und Bekanntes infrage zu stellen“.

Marc Seeger, Spüren was ist. Die Symmetrie des Lebens. Tredition Verlag. ISBN 978-3-347-20955-8 (28,99 €, Hardcover) oder ISBN 978-3-347-20954-1 (19,99 €, Softcover). Am besten zu bestellen direkt beim Autor: marc.seeger@email.de.

Aus einer Kooperation von ökoligenta mit der britischen Plattform The Daily Alternative

13.10.2021

Ein Essay von Jonathan Rowson, Direktor von Perspectiva, über neue Perspektiven zur Klimakrise. Was ist das Wesen des “Wir”, das dieses Problem angeht?

Die Gesamtzahl der Todesopfer von COVID-19 nähert sich inzwischen fünf Millionen, und eine Rückkehr zu unserem früheren Normalitätsempfinden scheint unwahrscheinlich, da Bio-Prekarität zu unserem ökologischen Standard geworden ist. Der Klimawandel wird ein unbestimmter Notfall bleiben, dessen Auswirkungen wahrscheinlich schlimmer sein werden, als die meisten sich vorzustellen wagen.

Ich sage das zum einen, weil die Auswirkungen bisher schlimmer waren als erwartet, zum anderen, weil die Gesamtemissionen von Kohlendioxid in naher Zukunft eher steigen als sinken werden, zum Dritten, weil neue Begriffe wie “nukleare Wirbelstürme” und “Kühlgrenztemperatur” in unser Lexikon Einzug halten, und zum dritten, weil einige Wissenschaftler, wie ein kürzlich erschienener Dokumentarfilm zeigte, begonnen haben, öffentlich über den Klimakollaps zu weinen. Das ist eine andere Art von Daten, aber möglicherweise die überzeugendste Art.

Der technologische Wandel ist exponentiell, und eine Kombination aus speicherbaren und transportierbaren erneuerbaren Energien in Verbindung mit einer bescheidenen politischen Entschlossenheit könnte unseren Lebensraum für eine gewisse Zeit überlebensfähig halten.

Der technologische Wandel ist exponentiell, der Wandel in der Politik ist eisig. Und die Rufe nach Veränderungen bei der Machtverteilung und -ausübung verhallen ungehört, vor allem weil der öffentliche Raum weitgehend von privaten Interessen geprägt ist und Smartphones, die neue Achse der Welt, von vornherein süchtig machen. Wir sind über das Zetern hinaus.

Es besteht die Gefahr, dass der Wandel um seiner selbst willen aufgewertet und die Trägheit unterbewertet wird, aber in jedem Fall ist die Immunität gegenüber dem Wandel Teil des Dilemmas. Ich war vierundzwanzig, als die von den USA angeführten Alliierten 2001 in Afghanistan in den Krieg zogen, um Al-Qaida auszurotten, und bin jetzt, da er 2021 in einem anti-heroischen Abgang endet, vierundvierzig. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl bemerkt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich Zeuge eines Zyklus internationaler Aktivitäten mit einem erkennbaren Anfang, einer Mitte und einem Ende.

Ich fühlte mich an T.S. Eliots Satz erinnert: “Wir werden nicht aufhören zu forschen. Und das Ende all unserer Erkundungen wird sein, dass wir dort ankommen, wo wir angefangen haben, und diesen Ort zum ersten Mal verstehen.” Nach zwei Jahrzehnten, vielen Billionen Dollar und reichlich Blutvergießen war das Land in vielerlei Hinsicht wieder da, wo es angefangen hatte.

Wir alle müssen so viel Freude am Leben finden, wie wir können, aber ein Teil dieser Freude kann und muss sich jetzt vielleicht aus der Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit ergeben, in die wir verwickelt sind.

Posttragische Sensibilitäten

Wir sollten uns also nicht an einer naiven Positivität orientieren, die besagt: “Wir haben die Technologie”, und auch nicht an einem Wachstumstrugschluss, der die individuelle Entwicklung in unserer Nische mit der Kultivierung von Tugenden innerhalb von Machtsystemen in großem Maßstab verwechselt; und auch nicht an der ökumenischen Denkweise – “wir brauchen eine neue Erzählung” -, dass es einen einzigen, klaren, phantasievollen Weg für acht Milliarden missratene Menschen geben könnte.

Ich bin sehr dafür, positiv zu denken, aber es ist an der Zeit, die Tragödie anzuerkennen, weil sie überall sowohl latent als auch manifest ist, und weil uns die Tragödie Sinn, Bedeutung und Verwirklichung erkennen lässt. Das Wissen um die Tragödie gibt uns den Mut, das Leben ernst zu nehmen und es zu lieben, obwohl und gerade weil es so ist, wie es ist.

Im griechischen Mythos war die Hoffnung, die in der Büchse der Pandora zurückblieb, nachdem all das Schlechte herausgeflogen war, eine Art Erwartung (die meisten Gelehrten übersetzen das griechische Wort elpis mit “Erwartung”), aber die Hoffnung, die wir heute brauchen, muss aktiv sein. Unser Gefühl für Macht und Möglichkeiten entsteht durch Handeln, und wir können uns buchstäblich nicht vorstellen, wozu wir fähig sind, bevor wir nicht den Mut zum Handeln finden.

Aber Handlungen, die aus Verblendung entstehen, werden schnell auf Gegenkräfte aus ihrem eigenen Schattenmaterial stoßen, sei es, dass Mutter Natur zuletzt zuschlägt oder die KI sich der menschlichen Kontrolle entzieht – beides ist wohl bereits im Gange. Techno-Optimismus im Allgemeinen und grünes Wachstum im Besonderen sind Beispiele für diese Art von Wahnvorstellungen, aber auch der Liberalismus im Allgemeinen leidet darunter.

WirWer?

Da die Sprache einer der wichtigsten aktiven Bestandteile des sozialen Wandels ist und unsere dringlichsten ökologischen Herausforderungen ein noch nie dagewesenes kollektives und koordiniertes Handeln erfordern, haben wir keine andere Wahl, als sorgfältiger auf die Art und Weise zu achten, wie wir das “wir” – das problematischste Pronomen von allen – verstehen und sprechen.

Ich spreche nicht von einer postmodernen Aufforderung, vielfältiger und inklusiver zu sein. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass die Probleme, die wir als wirtschaftliche, politische, epistemische, technologische oder spirituelle Probleme betrachten, in gewisser Weise auch Probleme unserer Grammatik sind.

Die meist unreflektierte Art und Weise, in der wir das “wir” in unseren Diskussionen über die Ausrichtung der Gesellschaft verwenden, ignoriert sehr oft unterschiedliche Wahrnehmungen, konkurrierende Interessen und Machtdynamiken und verschleiert dadurch die Art der Arbeit, die getan werden muss. Es ist eine Umkehrung von Figur und Grund erforderlich, bei der nicht mehr davon ausgegangen wird, dass unsere kollektive Wahrnehmung, unser Verständnis und unsere Interessen von und an der Welt einen stabilen Standpunkt darstellen, während die Figur oder Situation, die wir gemeinsam betrachten, in Frage gestellt bleibt.

Ich denke, die Herausforderung ist umgekehrt, nämlich uns so in unsere Lage zu versetzen, dass wir das betreffende Wir klarer sehen und vorrangig danach handeln.

Die größte Einschränkung bei der Vorstellung, dass wir mit einem Klimanotstand konfrontiert sind, besteht beispielsweise darin, dass es kein “Wir” als solches gibt, das sich damit befasst. Das “Wir”, das sagen will, dass es einen Notfall gibt, ist nicht dasselbe “Wir” wie das “Wir”, das es hören muss, und das “Wir”, das es hören muss, hat verschiedene Vorstellungen von der Art des “Wir”, das etwas dagegen tun sollte.

Das nicht triviale Problem besteht darin, dass “Wir” ein Begriff ist, der implizit zu der Annahme führt, dass es eine optimal kooperative Form des kollektiven Handelns auf globaler Ebene geben könnte. Diese Art von demokratischem (“wir, das Volk”) und globalem Wir (die Menschheit) wird in Fragen wie der folgenden vorausgesetzt:

  • Was müssen wir tun, um den Klimawandel zu bekämpfen?
  • Wie können wir zusammenarbeiten, um eine bewusstere Gesellschaft zu schaffen?
  • Was können wir tun, um das epistemische Gemeingut [die gemeinsamen Erkenntnisgrundlagen, der Ü.] zu stärken?
  • Wie können wir die Demokratie vor sich selbst retten?
  • Warum können wir die technologische Innovation nicht so kanalisieren, dass sie allen zugutekommt?

Ich beginne zu glauben, dass diese Fragen im Grunde genommen von hinten nach vorne gestellt werden müssen. Betrachten Sie die folgende alternative Formulierung für diese Art von Rätseln:

  • Wie könnte man die Realität des sich anbahnenden Klimakollapses auf eine Weise begreifen und darauf reagieren, die uns hilft, das Wir zu verändern, das es nicht geschafft hat, ihn zu verhindern?
  • Wie können die Institutionen und Normen der Demokratie so gestärkt werden, dass sie dazu beitragen, ein Wir zu schmieden, das des Ideals würdig ist und nicht eines, das es vernichtet?
  • Wie könnte Technologie am besten gestaltet, besessen, reguliert und vielleicht sogar in gewissem Sinne entthront werden, um die Art von Wir zu fördern, die eine gute Gesellschaft möglich macht?

Die intellektuelle Funktion wird heute in vielerlei Hinsicht gedemütigt, aber einer der Hauptgründe, warum wir uns abmühen, unserer Misere einen Sinn zu geben, ist, dass wir gezwungen sind, uns auf ein Wir zu berufen, das nicht wirklich existiert, und wenn wir so reden, als ob es existiert, ruft das eine weit verbreitete Dissonanz hervor. Vielleicht ist dies ein Teil des Zusammenbruchs des mentalen/rationalen Bewusstseinsmodus’, den Visionäre wie Jean Gebser prophezeit haben.

Ich behaupte, dass dieser Fehler in der Wahrnehmung und im Verständnis grammatikalisch bedingt ist, weil “Wir” als beschreibendes Pronomen verwendet wird, das alle Menschen einschließt, aber es sollte in einer dynamischeren und hybriden Form verwendet werden, vielleicht als abstraktes Substantiv, das als lebendige Frage dargestellt wird.

Ich bin Minna Salami dankbar, dass sie “WirWer” als alternative Formulierung vorgeschlagen hat, wie in “WirWer müssen dringend etwas gegen den Klimawandel unternehmen!” Ich erwarte nicht, dass irgendjemand bald anfängt, so zu reden, aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn er es täte.

Ich werde daran erinnert, dass Liebe, laut Iris Murdoch, “die äußerst schwierige Erkenntnis ist, dass etwas anderes als man selbst real ist”. Wenn die Liebe tatsächlich die Antwort ist, dann ist die extrem schwierige Bewusstwerdung auch die Antwort. Die Beatles (kein Geringerer als sie) sagten: “All you need is love”, und sie könnten Recht haben, während das Fetzer-Institut, einer der Hauptunterstützer von Perspectiva, weiterhin großen Wert auf die Liebe als zugrundeliegende Realität, als moralische Richtschnur und als spirituelle Inspiration legt.

Ich bin sehr dafür. Und doch geht es bei der Liebe, die wir auf globaler Ebene brauchen, nicht darum, dass sich alle auf denselben süßen Geschmack der Gefühle einlassen.

Die äußerst schwierige Erkenntnis ist nicht nur, dass es eine Welt jenseits unserer Köpfe gibt, oder dass die Menschen unterschiedliche Werte, Persönlichkeiten und Prioritäten haben. Wir können mit Problemen des kollektiven Handelns umgehen, und wir können verschiedene Arten von Gemeingütern grundsätzlich verwalten, wie Elinor Ostrom, die einzige Frau, die den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, gezeigt hat.

Dennoch gibt es in der Bevölkerung typischerweise 3-5 % Soziopathen und einen alarmierenden Anteil von Menschen, die zu autoritären Einstellungen neigen, und heutzutage werden ihre Stimmen in einer Weise verstärkt, die anderen Angst macht. Man sollte meinen, dass der offensichtliche ökologische Zusammenbruch unseres gemeinsamen Planeten die Zusammenarbeit beflügeln würde, aber es sieht eher nach einer Zeit der Polarisierung und Fragmentierung als nach Konvergenz aus.

Wir haben eine Gestalt. Es ist ja nicht so, dass die Welt nicht schon versucht hätte, ein gewisses Selbstverständnis als ein Organismus, eine Familie, zu entwickeln, und das hat sich im letzten Jahrhundert institutionell zumindest angedeutet.

Der Völkerbund (1919) führte zu den Vereinten Nationen (ca. 1941), und es gab so etwas wie eine internationale Nachkriegsordnung auf der Grundlage des Bretton-Woods-Abkommens für die globale Makroökonomie (1944) und der UN-Menschenrechtserklärung (1948). Während des Kalten Krieges (1947-1991) kam es zu einer grundlegenden Spaltung, aber dennoch wurden wichtige internationale Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie bürgerliche und politische Rechte (1976) geschlossen, und es gab viele Wellen der Globalisierung, die wir in den 1990er Jahren ernstzunehmen begannen.

Als ich in den neunziger und nuller Jahren als Schachspieler unterwegs war, wurde ich mit dem lateinischen Motto des Weltschachbundes F.I.D.E. vertraut: Gens una Sumus. Es bedeutet ‘wir sind ein Volk’. Und doch sind wir es nicht, noch nicht.

[Übersetzung von https://www.thealternative.org.uk/dailyalternative/2021/9/25/alternative-editorial-guest-rowson-impossible-we]

Übersetzung erfolgte durch Bobby Langer in Absprache mit Indra Adnan

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Der vollständige Essay (hier um Einiges gekürzt) findet sich unter whatisemerging.com/opinions/the-impossible-we

Informationen zu Jonathan Rowson auf Wikipedia

Seine Homepage: jonathanrowson.me

(Foto von Bekky Bekks auf Unsplash)

Dass ein großer Wandel ansteht, liegt auf der Hand. Nur: Was tun wir, jede/r Einzelne von uns dafür, fragt Semra Mete

„Nichts ist so beständig wie der Wandel“, heißt es in Anlehnung an Heraklit von Ephesus, der das schon vor rund 2.500 Jahren wusste. Ich denke, vielen Menschen ist heutzutage bewusst, dass wir uns inmitten eines großen gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen Wandels befinden. Doch in welche Richtung wandelt sich das große Ganze und welche Faktoren sind dabei bestimmend? In Anbetracht der Tatsache, dass jeder Einzelne von uns ein Teil des Gesamtgebildes ist und folglich durch Sein Tun auf das Gesamtgeschehen einwirkt, kommt es bei dem steten weltweiten Wandel zweifelsohne auf jeden von uns an. Jeder von uns ist wie der kleinste Wassertropfen des wellenschlagenden Ozeans, jeder von uns ist wie ein Pixel eines Bildes, welches sich in demselben Maße wandelt, wie jedes einzelne Pixel seine Form, Farbe, Größe, Position … verändert. Wir waren und sind stets die Ursache der Veränderungen des großen Ganzen. Wenn wir es schaffen, die Veränderung in uns, also die Ursache, Ursachen, zum Guten zu wandeln, führen wir zwangsläufig den konstruktiven Wandel auch im Außen herbei.

Die weltweite Virus-Krise und der Wandel in jedem von uns

Doch welche Wandlung durchvollzieht sich IN JEDEM VON UNS inmitten der aktuellen,  globalen Krise – ich nenne es mal die Virus-Krise? Welche Gedanken, Emotionen, Handlungen lösen die äußerlichen Geschehnisse im unmittelbaren und mittelbaren Umfeld in uns aus? Welchen Gefühlen geben wir unbewusst Raum? Worum drehen sich unsere tagtäglichen Gedanken? Ist es die Angst vor der ansteckenden Krankheit bzw. vor dem Tod? Ist es die Angst vor totaler Überwachung, Fremdbestimmung oder ist es das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Perspektivlosigkeit? Wut, Zorn, Aggressivität … sind weitere niederreißende, gemütsbelastende innere Zustände, die ich nicht nur bei meinen Mitmenschen beobachte, sondern auch selbst erfahre. Es kommt immer wieder vor, dass mich die eine oder andere Information oder Äußerung stark antriggert und ich mich dann in den unerwünschten, niederschwingenden Emotionen wiederfinde. Wie soll aus solchen überwiegend destruktiv gesetzten Ursachen das Konstruktive im Kollektiven keimen?!

Die Beobachtungsebene – Bewusstwerdung über den inneren Wandel

Die Herausforderung liegt sicherlich darin, sich über die ausgelösten Gedanken und Emotionen im Inneren, sprich über den unbewussten Prozess der eigenen Reaktionen, bewusst zu werden. Nur mit zunehmender Bewusstwerdung unserer inneren Zustände kann es uns gelingen, heilsame Antworten auf die äußeren Geschehnisse zu geben. Nach jeder frustrierten Reaktion wird mir immer wieder klar, dass meine Antwort definitiv nicht von der förderlichen Art war, weder auf mein eigenes Wesen bezogen noch auf das Kollektive. Als wäre das nicht genug, steigert sich manchmal das hemmende Gefühl noch weiter, wenn ich anfange, meine eigene Reaktion zu kritisieren, weil sie meine in der Tiefe bejahten Werte nicht wiederspiegeln.

Ein Weg, aus der Abwärtsspirale der Emotionen rauszukommen, ist erstmal, mir darüber bewusst zu werden, dass der momentane Gemütsstand, was es auch immer ist, die Ursache für äußere Umstände von morgen sein wird. Das, was ich eigentlich nicht weiter verursachen oder sogar verstärken will (Ärger, Wut, Angst…), gedenke ich deshalb loszulassen, auch wenn es inmitten des Emotionssumpfes nicht immer sofort gelingt. Ich vergegenwärtige mir in solchen Momenten, dass es nicht die äußeren Umstände sind, sondern die Bedeutungen, die wir ihnen beimessen, die entsprechenden Emotionen in uns zum Ausbruch bringen; Emotionen, die unsere Perspektive schmälern und unsere Wahrnehmung von größeren Zusammenhängen stark einschränken. Erst die Erkenntnis, in welche ungewünschten Gedanken- und Gefühlswelt ich mich selbst hineinmanövriert habe, führt zur Auflösung meiner unbewussten Identifikation mit den äußeren Umständen. Es ist so wie ein Beobachtungsposten, von dem ich von einer höheren Warte auf mich selbst schaue und erkenne, wie stark ich in den eigenen Urteilen, Meinungen, Bewertungen gefangen bin und vergessen habe, dass ich selbst für meine innere Realität verantwortlich bin.

Wenn wir also die weltlichen Geschehnisse objektiv betrachten, ohne sie in „gut“ oder „schlecht“ einzuordnen, können wir uns aus der Enge unserer Bewertungen befreien und die Weite in uns fühlen. Die Weite, in der wir erkennen, dass wir auch einen konstruktiveren Umgang mit den äußeren Einflüssen wählen können.

Krisen – Chancen zur Bewusstseinsentwicklung

Als eine Frau, die Erfahrung mit einer Lebenskrise in Form einer schweren Krankheit gemacht hat, bin ich fest davon überzeugt, dass auch diese geballte Krise uns große Gelegenheiten zur Bewusstseinsentwicklung bietet, für jeden Einzelnen wie auch kollektiv. Mehr denn je erkenne ich, wie wichtig es jetzt ist, verstärkter nach innen zu gehen. Ich erkenne, dass es jetzt an der Zeit ist, die tief verinnerlichten Werte in der Tat auch zu LEBEN und zu verfestigen. Mehr als sonst erhalte ich die Gelegenheit, mich selbst bei meinen Gedankengängen und unbewussten Handlungen zu beobachten, was mich zu manchem Erkenntnisgewinn über meine unbewusste, innere Welt führt.

Noch tiefergehend als sonst weiß ich, dass es bei dem, was da draußen auch immer passiert, um uns selbst geht. Wir haben den Fokus auf uns selbst zu richten, weil wir bei dem gewünschten Wandel letztlich nur bei uns selbst ansetzen können. Die bedeutende Frage ist nicht, wohin uns die gegenwärtigen Veränderungen bringen, sondern sich darüber bewusst zu werden, wie sie auf uns einwirken, was sie mit uns machen und wie wir damit umgehen. Wir müssen die Samen der gewünschten Veränderungen zunächst in uns säen, damit sie in unserer physischen Realität gedeihen, auswachsen können. Die Samen der gewünschten Veränderungen keimen zuerst in uns. Der äußere Wandel hängt also davon ab, welche Samen wir in uns tagtäglich säen: mit unseren Gedanken, Emotionen, mit der Art und Weise wie wir kommunizieren, handeln … darüber haben wir stets die Wahl. Das ist unsere Freiheit, das ist unsere Macht, das ist unsere Verantwortung gegenüber uns selbst und gegenüber unserer Mitwelt.

Ach, was wir alles haben möchten. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die Wahrheit, das Rechthaben, die Sicherheit, die Zuwendung, das Verzeihen, den Respekt, die Liebe … Geben wir das alles auch?

Nichts ist sicher. Wirklich nichts. Insbesondere jene Menschen, die das „panta rhei“ (alles fließt) gelegentlich effekthalber ins Gespräch streuen, hüten sich vor dieser Erkenntnis wie die Maus vor der Eule.

Sicher fühlt sich ein geliebtes Kind in den Armen seiner Eltern. Es weiß nichts von der Bedrohung, die seine Eltern erleben, nichts von Gewalt, Krankheit und Not. Schon diese kindliche Sicherheit ist eine Illusion, allerdings eine, die wir um alles in der Welt für unsere Kinder aufrechterhalten müssen. Sie ist die Grundlage ihrer inneren Sicherheit. Gelingt sie uns nicht, sind unsere Kinder verloren.

Das Gefühl der sicheren Aufgehobenseins wandelt sich in der Pubertät in das Gefühl, das auf einen zukommende Leben sicher in den Griff zu bekommen. Irgendwie. Diese nächste Illusion wird ergänzt um die Sicherheit, seine große Liebe gefunden zu haben. Auch sie wird sich abnützen wie Schmirgelpapier. So gut wie immer. Leider.

Als Erwachsener suchen wir Sicherheit in Strukturen, in Karriere und Partnerschaft, in Positionen, Funktionen sowie und politischen und weltanschaulichen Gewissheiten. Bis uns die letzte, die zuverlässige Sicherheit erkennbar wird: unser Sterben, das längst begonnen hat, unser Tod.

Erst wenn wir unsere Schönheit und Kraft, unsere Liebe und unsere Würde in die Opferschale legen und diesem dunklen Gott zu Füßen, werden wir in die Sicherheit finden, die wir von unserem ersten Atemzug an so sehr gesucht haben; die unwiederbringliche Sicherheit des Mutterleibs. Sollten wir also von Mutter Tod sprechen? Für mich ein faszinierender Gedanke. Eingehüllt in die Wolke des Nichtwissens davonzuschweben, von allen Sicherheiten entbunden, die ja jede für sich doch immer wechselhaften, endlichen Bedingungen unterliegen.

Ein glückliches Kind wagt sich in die Welt, weil es um seinen sicheren Zufluchtsort weiß. Erst, wenn wir endgültig abgenabelt sind und einen solchen Zufluchtsort in uns selbst erlebt und verortet haben, wagen wir uns in die wilde, freie Welt, in wilde, freie Gedanken und Ideen und wilde, freie Beziehungen. Erst dann brauchen wir keinen Deal mehr mit dem Leben, dann sind wir keine Lebensbank mehr, die von ihren Klienten Sicherheiten einfordert, sondern können frei geben und annehmen, verschenken und uns beschenken lassen. Dann werden wir zu Wassertropfen im ewigen Kreislauf des panta rhei, sind Individuum und Teil des nun nicht mehr bestimmbaren Ganzen. Dann, endlich, sind wir frei für einander.

Von Raimar Ocken

Gesundheit und Krankheit sind komplexe Geschehnisse. Da wir keine Maschinen sind, ist es in der Regel notwendig, vor der Behandlung genau herauszufinden, welche Ursache bewirkt, dass sich ein Mensch nicht wohlfühlt, oder woran er leidet. Zum Beispiel zu sagen: “Rauchen tötet, hör auf zu rauchen, dann bleibst du gesund”, ist kurzsichtig und führt nicht wirklich zum Erfolg, sondern eventuell zu einer Problemverschiebung und dem Auftreten eines anderen Symptoms oder einer anderen Krankheit, soweit überhaupt Symptome oder Krankheit vorliegen.
Viele Krankheiten entstehen aufgrund eines Konflikts bzw. sind Ausdruck eines Konflikts innerhalb einer Person, andere wiederum stehen in Wechselwirkung zur belebten Mitwelt (Mensch, Tier, Pflanze) oder zur toten Materie. So kann ein ungelöstes Problem zwischen zwei Personen auf Dauer dazu führen, dass eine von ihnen krank wird oder verunglückt oder gar beide. Auch ist es zum Beispiel von Bedeutung, wie und wo wir leben. Eine schlechte Behausung beeinträchtigt ebenso unsere Lebensqualität wie Armut, Angst und Lieblosigkeit.

Da wir mit der Mitwelt (Umwelt) in Wechselwirkung stehen, verändert der Zustand der Mitwelt uns und wir sie. Ein Beispiel: Ein gesunder Mensch kümmert sich darum, dass „seine“ Mitwelt gesund bleibt bzw. wieder gesundet. Eine vermüllte oder vergiftete Mitwelt macht uns auf Dauer krank.

Merke: Vor jeder Behandlung steht eine ausführliche, tiefgreifende Ursachenfindung, in der der Mensch (das Lebewesen) in seiner Komplexität der Wechselwirkungen von Psyche (Gemüt), Soma (Körper) und Mitwelt (lebendige und nicht-lebendige Faktoren) gesehen und verstanden wird. Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Wir werden nicht deshalb krank, weil Viren und/oder Bakterien mit uns in Kontakt kommen bzw. gekommen sind. Eine diesbezügliche (körperliche) Reaktion ist nicht zwingend Zeichen einer Krankheit, sondern in vielen Fällen „nur“ Ausdruck einer Schutzreaktion, die in der Regel ein bis zwei Wochen andauert.

von Peter Zettel

Das unterscheidet uns Menschen von den Tieren: Sie tragen einfach keine Maske, hinter der sie sich verstecken. Obwohl, eigentlich ist es genau umgekehrt. Habe ich eine Maske auf, verberge ich nicht mich selbst, sondern ich hindere mich daran, den anderen wahrzunehmen.

Wie ich darauf komme? Kürzlich war ich auf einer Familienaufstellung, ohne irgendwelchen esoterischen und metaphysischen Schnick-Schnack. Dabei fielen mir zwei Dinge auf. Weiterlesen

von Peter Zettel

Wenn doch alles ganz anders ist, wieso ändert es sich dann nur so selten? Ganz einfach: Weil vielen das eigene Selbst wichtiger ist als die Wahrheit, zumindest wichtiger als die, die wir erfassen können. Étienne de La Boétie hat das in seiner „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ wunderbar belegt. Aber leider hat er nur das Symptom beschrieben, nicht die tatsächliche Ursache. In seiner Abhandlung vertritt er die These, dass die Unterdrückung vieler Menschen durch einen Einzigen nur solange möglich sei, wie die vielen sich unterwerfen, statt sich kollektiv zu widersetzen. Weiterlesen

Warum wir fünf vor 12 beschwören müssen, obwohl es längst fünf nach zwölf ist.

Erstmals seit 66 Jahren gehe ich hoffnungslos in ein Jahr. Und das wird auch so bleiben, allenfalls wird es Steigerungsstufen der Hoffnungslosigkeit geben. Da Hoffnungslosigkeit nun mal politisch inkorrekt ist, sie mir aber als die einzige sachlich angemessene Einschätzung der Wirklichkeit erscheint, möchte ich ihre Hintergründe erläutern.

Enttäuschte Liebe

Die erste große Enttäuschung in der Liebe hat aus uns einen anderen gemacht. Oh ja, wir können auch danach noch lieben, vielleicht sogar noch stärker, und gewiss sogar mit größerer Weit- und Nachsicht, doch die weiche, warme, rundum glühende Zuversicht, mit der geliebten Person werde alles und für immer gut sein, ist nach der ersten großen Liebe vorüber.

Wir haben die Moderne und ihre Versprechen geliebt, ihre Freiheit, ihren Luxus, ihre globale Aussicht auf Erfüllung und Sicherheit. Die Klimakrise und die Dominoreihe der damit verbundenen Einsichten haben uns den Glauben an das Projekt der Moderne endgültig geraubt.

Zuverlässige Vergeblichkeit

Noch 2018 hielt wir uns für Realisten, aufgeklärt, nüchtern und weltzugewandt. Wir waren gesellschaftskritisch, regierungskritisch, kapitalismuskritisch, industrialisierungskritisch, religionskritisch. Bis sich ein Mädchen vor das schwedische Parlament setzte und ohne Wenn und Aber die Einlösung der Pariser Klimavereinbarungen forderte. Nichts weiter. Vielleicht haben wir damals ein wenig gespöttelt. Doch was wir vielleicht als gutgemeinte „Verirrung eines Teenagers“ abtaten, entpuppte sich als gesamtgesellschaftlicher Weckruf.

Was ist seither geschehen? Zig Tausende von Wissenschaftlern haben sich hinter Gretas Thesen gestellt – darunter auch ProfessorInnen von Weltruf. Wir wissen das. Und ahnen doch die zuverlässige Vergeblichkeit ihrer wissenschaftlichen Forderungen.

Ans hohe Ross gebunden

Wie könnte es auch anders sein? Letztlich handelt es sich um den Ruf, das Ruder der westlichen Industriegesellschaft herumzureißen und den rasenden Elefanten zu zähmen, bevor er endgültig alles Geschirr zerschlägt. Es geht nicht mehr nur um einen Paradigmenwechsel*, sondern um einen Ontologie-Wechsel**. Doch schon ersterer ist zu viel verlangt. Zuoberst müssten wir nämlich vom hohen Ross des weißen Mannes herabsteigen, um

  • auf indigenen Schulen zu studieren, wie sich eine ausbeuterische Ökonomie in eine Kreislaufwirtschaft verwandeln ließe;
  • zu lernen, wie wir die vielbeschworene Menschwürde in Alltagshandeln übersetzen: gegenüber Arbeitern, gegenüber Chefs, gegenüber den Alten, den körperlich, geistig und psychisch Kranken, gegenüber all denen, die durch die Raster unseres Sozial- und Rechtssystems fallen, gegenüber allen Minderheiten, Hilflosen und Verlassenen, ja gegenüber ganzen Entwicklungsländern. Mit einem Wort, wie wir die hehre Theorie der Menschenwürde so sehr in eine täglich geübte Praxis der Solidarität verwandeln, dass ein SPDler einem CDU-Abgeordneten applaudieren könnte, ohne das Gesicht zu verlieren, und umgekehrt;
  • die Priorität des Gewinns und der Monetarisierbarkeit gesellschaftlich relevanten Handelns durch die Priorität der Nachhaltigkeit auf allen Gebieten zu ersetzen: ökologisch, ökonomisch, sozial;
  • unsere selbstverständlich gewordenen Zivilisationsstandards in Frage zu stellen: unsere Mobilität, unsere allzeitige Verfügbarkeit von Lebensmitteln und Konsumgütern, den medizinischen Luxus, unsere Raumbedarf, den unbegrenzten Vorrat an Energie;
  • den Naturgütern Erde und Wasser als Subjekten gegenüberzutreten, ihnen also ihre Würde zurückzugeben, indem wir sie weder besitzen noch missbrauchen dürfen;
  • Eigentum als die psychische und mentale Grundlage unseres Strebens und Trachtens in Frage zu stellen; denn Eigentum impliziert die mehr oder weniger beliebige Verfügbarkeit über das Besessene, auch wenn es sich dabei um meine Frau, meine Kinder oder jedwede Natur handelt.

Auch nur einen einzigen dieser sechs ineinandergreifenden Aspekte in absehbarer Zeit, also z.B. innerhalb von 30 Jahren, umzusetzen, erscheint mir als ein Ding der Unmöglichkeit und würde einen gesellschaftlichen Diskurs erfordern, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Und voraussichtlich nicht geben wird. Technische Maßnahmen und ein paar Verordnungen und Gesetzesänderungen – gar nur auf nationaler Ebene – werden ein Schrei gegen den Sturm bleiben, der über uns hereinbricht.

Sogar die Geliebten sind weg

Nun gleichen wir enttäuschten Liebende, denen nicht nur die Liebe, sondern obendrein die Geliebten abhandenkamen. Wir glaubten, eine Geliebte namens Parteiendemokratie könne die gute Zukunft richten, eine Geliebte namens soziale Marktwirtschaft, namens Bildungssystem, namens Sozialsystem, namens Innovationskraft oder namens Technologie. In seinem Buch “Die unbewohnbare Erde” fasst der New Yorker Journalist David Wallace-Wells die Situation so zusammen: “Es ist schlimmer, viel schlimmer, als Sie glauben.” Letztlich spielt es nämlich keine Rolle, ob bis zum Zusammenbruch der zivilisatorischen Systeme noch zehn oder 50 Jahre vergehen. The Great Turning wird keiner dieser Geliebten zustande bringen.

Warum? Weil wir diesen Großen Wandel letztlich nicht wollen. Weil wir zu der erforderlichen Großen Solidarität, einer vollumfänglichen Natursolidarität, nicht bereit sind. Sie ginge weit darüber hinaus, einem Bettler ein paar Euro in den Hut zu werfen – was uns meist schon überfordert – oder sorgsam zu Hause unsere Blumen zu gießen. Mit einem Heer von Uneinsichtigen und Unwilligen lässt sich kein Großer Wandel bewerkstelligen. Erst wenn wir nicht mehr – offen oder insgeheim – herablassend schmunzeln, wenn Indigene die Tiere als ihre Geschwister bezeichnen oder ganz selbstverständlich von „Mutter Erde“ sprechen; erst wenn wir menschliche Wärme, Nähe und Zuverlässigkeit höher schätzen als alle Güter dieser Erde; erst wenn wir uns als Teil eines großen Ganzen verstehen, werden wir eine Chance haben. Sie wird unsere einzige sein. Sie IST unsere einzige.

Mit Zweckhoffnung in die Graustufen

Es ist längst fünf nach zwölf. Darf ich also Hoffnung haben? Oder ist Hoffnungslosigkeit die angemessene Haltung? Vielleicht ist es aber die Zweckhoffnung? Wenn es Zweckoptimismus gibt, warum dann nicht auch Zweckhoffnung? Nach dem einen oder anderen Liebeskummer erhielt ich den Hinweis: „Der liebe Gott hat noch mehr schöne Mädchen gemacht.“ Auch wenn es schon halb eins sein sollte, so wird doch der Wandel zum Schlechten und Schlimmen nicht plötzlich kommen, sondern sich so einschleichen wie die Wetterextreme der letzten Jahre. Die fielen uns anfangs ja auch nicht auf. Es wird also auf das Weiß des Status Quo nicht gleich eine schwarze Zukunft folgen, sondern manche Stufen von Grau. Wenn die vielen Geliebten uns verlassen haben, können wir uns immer noch eine/n neue/n suchen – und handeln, als sei es noch fünf vor zwölf. Das ist das einzige, was uns übrigbleibt: Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie.

*Paradigma: Denkmuster, das die Weltsicht einer Zeit prägt
** Ontologie: die Lehre vom Sein

[Bild von Pexels auf Pixabay]

von Michael Johanni

Vielerorts besteht in Menschen Verwirrung.
Sich wiederholende Gedanken lassen uns an der Menschheit,
auch an uns selbst zweifeln.

Wem kann ich noch glauben?
Alles dreht sich doch nur ums Geld.
Wo gibt es noch Menschlichkeit?
Was wird in der Zukunft auf mich zukommen? Weiterlesen

Seit ich weiß, dass es Prostitution gibt, frage ich mich, weshalb es so anrüchtig ist, einen winzigen Teil seines Körpers zu verkaufen, aber völlig akzeptabel, dass man seinen Körper oder Geist vollständig verkauft. Wir alle, die wir als Arbeiter, Angestellte, Beamte oder Selbständige arbeiten, verkaufen uns, und meistens sogar unter Wert.

Wir prostituieren uns

Letzteres ist ein eigenes Thema, das im linken Spektrum rauf und runter diskutiert wurde und wird. Worum es mir hier geht, ist die Tatsache, dass wir uns ganz unhinterfragt, ganz selbstverständlich verkaufen; so dass uns die eigene Verkäuflichkeit so normal vorkommt wie die Jahreszeiten. Doch indem wir uns verkaufen, verbrüdern uns mit den Käufern, begeben uns auf die gleiche Ebene mit ihnen und streiten nur darum, ob wir mehr oder weniger wert sind. Mit anderen Worten: Wir prostituieren uns in einer Tour. Und wir bringen unseren Söhnen und Töchtern von klein auf bei, Weiterlesen