Das Wilde und das Heilige
Rezension des gleichnamigen Buches von Thomas Berry
Sind Sie heilig? Oder wild? Oder beides? Was für Fragen! Thomas Berry hält sie für angemessen und Heilig- und Wildsein für die notwendigen Eigenschaften, „die wir brauchen, um den Übergang zu vollziehen … von einer Epoche, in der die Menschen auf der Erde als zerstörerische Macht wirken, in eine andere, in der sie und der Planet sich wechselseitig bereichern“.
Anlass zur Hoffnung
In seinem Alterswerk „Das Wilde und das Heilige“ beschäftigt sich Berry nicht nur – sehr profund und doch gut leserlich – mit den Grundlagen der westlichen Zivilisation; begabt mit analytischer Intelligenz und beseelt von einem spirituellen Optimismus, sinnt er darauf, „die Rolle der Menschengemeinschaft in ihrer Beziehung zu den anderen Teilhabern des Planeten auszumessen“ und die Mittel und Möglichkeiten zu prüfen, wie wir das Steuer noch einmal herumreißen können, bevor die Titanic gegen den Eisberg kracht.
Das Wilde, weil unkontrollierbar und unvorhersagbar, ist für ihn ein Anlass zur Hoffnung. Anders als gewohnt und für ihn unabdingbar für den fälligen Fortschritt der Menschheit ist die ebenfalls hoffnungsvolle Erkenntnis, „dass es sich bei Geist und Materie um zwei Dimensionen einer einzigen Realität handelt, die während des Prozesses der Selbstorganisation überall im Universum in mannigfachen Formen in Erscheinung tritt“. Das Universum ist ihm der Rahmen, in den alles menschliche Handeln und alle Natur eingebettet sind; und in eben diesem uns übergeordneten, „ebenso furchterregenden wie gütigen“ Universum „lebt eine letztendliche Wildheit“.
Das Universum: eine Gemeinschaft von Subjekten
Diese Wildheit ist in allem Leben, auch dem menschlichen, angelegt „als Wurzel jeglicher authentischen Spontaneität“. Es seien die wilden Tiefen des Universums und unseres eigenen Seins, aus denen Berry „die großen Visionen erwachsen“ sieht. Groß und machtvoll müssen sie sein, denn nur so können sie den Energien Paroli bieten, die den Schaden an der Welt hervorgerufen haben. Und groß und machtvoll können sie sein, weil Sein und Bewusstsein von Anbeginn Funktionen des Universums sind. „Da das Universum uns mit all unserem Wissen und unseren künstlerischen und kulturellen Leistungen ins Dasein treten lässt, muss es folglich selbst ein Prozess sein, der Intellekt, Ästhetik und Vertrautheit hervorbringt.“ Das Wilde und das Heilige gehen nahtlos und wechselseitig ineinander über. „Selbst auf der elementaren Ebene beobachten wir die Fähigkeit zur Selbstorganisation, folglich auch die Befähigung zu intimer Verbindung.“ So verfüge jede Seinsform über ihre eigenen spontanen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich aus ihrer jeweiligen Wesensart ergeben. „Diese Spontaneitäten bringen die inneren Wertanlagen jeglichen Wesens in solcher Weise zum Ausdruck, dass wir das Universum als eine Gemeinschaft von Subjekten, nicht als eine Ansammlung von Objekten ansehen müssen.“
Rettende Innerlichkeit
Den Wissenschaften und „der Universität“ schreibt Berry eine eminent wichtige Rolle zu, doch können sie ihre Bedeutung erst dann gewinnen, wenn ihnen eine neue Positionsbestimmung gelingt. Ökologie sei kein Seminarinhalt, „eher ist sie das Fundament aller Seminare, Programme und Fächer, da Ökologie funktionale Kosmologie ist. Ökologie ist kein Teil der Medizin, sondern Medizin ist ein Teilbereich der Ökologie. Ökologie ist kein Teil der Rechtslehre, sondern das Recht ist ein Teilbereich der Ökologie. Dasselbe kann auch von der Ökonomie und sogar von den Geisteswissenschaften behauptet werden.“ Es geht um ein neues Verständnis der Erde; noch sind wir Erd-Analphabeten, die in einem Prozess der „Erdbildung“ zu Erd-Alphabeten zu formen sind. „Was wir brauchen, ist eine Geografie als Erforschung von Innerlichkeit. Ebenso wie es eine Zuneigung zwischen Menschen und Tieren gibt, so gibt es auch eine emotionale Verbindung in der Weise, wie der Mensch die Landschaft sieht. Nichts steht letztlich außerhalb dieser Innerlichkeit. Selbst die Raumkrümmung kann als eine Art Zuneigung des Universums zu jedem Wesen in ihm aufgefasst werden. … Nur Innerlichkeit kann uns davor bewahren, weiterhin einer industrielle Plünderungswirtschaft verfallen zu sein.“
Die Entkoppelung von Mensch und Planet ist im Rahmen einer „Makrophasen-Ethik“ rückgängig zu machen. Der Planet wird erst dann – wieder – das menschliche Streben fördern, wenn der Mensch mit einem erweiterten Verantwortungsgefühl „auch umgekehrt einen fördernden Beitrag für den Planeten leistet“. Eine solche Erweiterung, fort von der „anthropozentrischen Selbsterhebung“, ist notwendig, weil wir es nicht mehr mit ethischen Fragen wie Suizid oder Genozid zu tun haben, sondern mit dem „drohenden Biozid, der Auslöschung der sehr störanfälligen Lebenssysteme der Erde, sowie [dem] möglichen Geozid, der Vernichtung der Erde selbst“. Erst, wenn sich der menschliche „Gencode mit den Codes der anderen Spezies der großen Erdgemeinschaft verbindet … können wir die Grenzen überschreiten, die der Anthropozentrismus gezogen hat“.
Der ontologische Bund des Universums
Noch seien wir von einer solchen neuen Ausrichtung „zur maßgeblichen Orientierung bei der Betrachtung menschlicher Aufgaben“ weit entfernt; doch würden die „Fortschrittsgläubigen“ (parteipolitisch Denkenden) zunehmend durch die „Ökologen“ mit ihrer „Perspektive auf die natürliche Welt“ ersetzt, durch Denker, die „den Menschen als einen Teilhaber an der umfassenden Gemeinschaft des Planeten Erde“ verstehen. Die der Erde zugefügte Gewalt liege „jenseits des Akzeptablen“ und könne nur „als die Konsequenz einer schweren kulturellen Fehlorientierung angesehen werden“. Die allgegenwärtigen offiziellen Verlautbarungen zum Umweltschutz sind für Berry „lediglich billige Lippenbekenntnisse mit geringem substanziellen Nutzen für die Natur“. Solange nicht verstanden ist, dass eine industrielle Betätigung nur in dem Maße akzeptabel sei, als sie den Ökosystemen keinen Schaden mehr zufügen, „wird man keinen Weg finden, eine wirklich adäquate Neuorientierung zu erreichen“. Die Maßnahmen der bisherigen Umweltpolitik dienen Berry zufolge lediglich „der Vermeidung einer grundsätzlichen Änderung“.
Was wir brauchen, fordert Berry, ist eine nachhaltige Lebensweise. Deren Grundlage bildet die Anerkennung der offenkundigen Tatsache, dass „das Universum, das Sonnensystem und der Planet Erde die primären Gegebenheiten bei jeder Betrachtung menschlicher Angelegenheiten [sind] … Jede Seinsform innerhalb der phänomenalen Ordnung verweist auf das Universum … Das Universum ist in der phänomenalen Welt der oberste Wert, der erste Ursprung von Existenz, das vornehmlichste Schicksal von allem, was existiert.“ Das Universum zeige sich auf der Erde als „außerordentlich differenzierter Komplex von Lebenssystemen“, die so intim miteinander verbunden sind, „dass es nichts für sich ohne alles Übrige gibt. Nichts existiert isoliert. Jedes Wesen kann nur gedeihen, wenn das weitere Umfeld zu einer Existenz gedeiht“. Berry bezeichnet das als „den ontologischen Bund des Universums“.
Den Menschen neu erfinden
Berrys Anklage gegen die momentanen Verfahrensweisen der westlichen Zivilisation könnten fundamentaler kaum ausfallen. Das „Gedeihen der Erde“ müsse ein wesentliches Anliegen der Menschheit sein. Da dem aber (noch) nicht so ist, zerbreche die Menschheit „den Bund mit der Erde“. Unsere Ökonomie der Ausbeutung sei nichts weniger als eine „Störung der biologischen Integrität des Planeten“. Nur deren Wiederherstellung in den verschiedenen Bioregionen könne das ganzheitliche Überleben der Erde in Zukunft sichern. Eine der Todsünden der Industriekultur seien ihre standardisierten Abläufe, die in einem fundamentalen Widerspruch stehen zu dem Prinzip der Natur, individuelle Vielfalt hervorzubringen. „Natur produziert Individuen. Nicht zwei Tage sind gleich, nicht zwei Schneeflocken, nicht zwei Blumen, Bäume oder alle anderen ungezählten Lebensformen.“ Letztlich gehe es darum, „den Menschen neu zu erfinden“ als ein Wesen innerhalb der Prozesse des Planeten und „nicht diesen in den dynamischen Prozessen des Menschen [zu] verorten“. Dies betreffe nicht nur die Ökonomie, sondern auch das Rechtssystem. „Ein Rechtssystem exklusiv für Menschen ist wirklichkeitsfremd. So muss beispielsweise das Recht auf Lebensraum einen legalen Status erhalten und als geheiligt und unverletzlich gelten.“ Mit einer „romantischen Begeisterung für die Natur“ habe das nichts zu tun. „Die Natur ist ebenso brutal und gefährlich wie milde und voller Güte.“ Doch gehe es bei dem „Kampf mit natürlichen Kräften“ insgesamt darum, „die innere Substanz der lebendigen Welt zu stärken“. Der Mensch habe erst dann „eine angemessene Lebensform erreicht“, wenn diese „keinen Druck mehr auf das Erdsystem“ ausübt.
Der kosmologische Imperativ
Als „kosmologischen Imperativ“ bezeichnet Berry die Beobachtung, „dass das ganze Universum so sehr in und mit sich verbunden ist, dass die Anwesenheit jedes Individuums in seiner gesamten räumlichen, zeitlichen Ausdehnung wahrgenommen wird. Diese Fähigkeit, alle Teilaspekte des Universums miteinander zu verknüpfen, bringt die unabsehbare Vielfalt der Wesenheiten in der faszinierenden Fülle und umfassenden Einheit, die wir um uns erleben, hervor.
Davon ausgehend können wir die leitende und Energie stiftende Funktion, die von der Geschichte des Universums ausgefüllt wird, begreifen. Diese uns durch empirische Beobachtung der Welt bekannte Geschichte ist unsere wertvollste Quelle sowohl für die Entwicklung einer tragfähigen menschlichen Lebensform, also für all jene wunderbaren Lebenssysteme, durch die unsere Erde ihre Fülle, Fruchtbarkeit und Fähigkeit zur endlosen Erneuerung ihrer selbst erlangt.“ Die ständige Weiterentwicklung des Kosmos, die Kosmogenesis, sei die „ursprüngliche, geheiligte Reise“, an der jedes einzelne Individuum im Universum teilnimmt. Diese große Reise von „unserer Mikrophasen-Identität“ hin zu den umfassenden Sinndimensionen der „Makrophasen-Identität“ ist für Berry „das Kernstück der menschlichen Lebensaufgabe“. „Die Mühe und Arbeit, die mehrere Milliarden Jahre lang und in unzähligen Milliarden Experimenten aufgewandt wurde, um so eine prachtvolle Erde hervorzubringen, ist in weniger als einem Jahrhundert zugunsten dessen ausgelöscht worden, was wir als Fortschritt zu einem besseren Leben in einer besseren Welt bezeichnen … In solcher Zeit bedürfen wir einer neuen Offenbarungserscheinung, einer Erfahrung, durch welche das menschliche Bewusstsein zum Erlebnis der heiligen und majestätischen Größe der Erde erwacht. Solches Erwachen kennzeichnet unsere menschliche Teilhabe am Traum der Erde, der in seiner Fülle nicht nur alle kulturellen Ausdrucksformen auf der Erde durchwaltet, sondern bereits in den Tiefen unserer genetischen Codierung angelegt ist … Wahrscheinlich haben wir seit uralten germanischen Zeiten nicht mehr im Traum der Erde mitschwingen können, aber in ihm liegt unsere Hoffnung für unsere Zukunft und die der gesamten Erdgemeinschaft.“
The Great Work
Die große Arbeit, The Great Work, können und werden wir angehen, weil wir in einer Zeit angelangt sind, in der wir im Evolutionsprozess nicht nur mitgehen, sondern ihn „selbst anleiten und bereichern“ müssen. Gelingen kann dies, wenn der Wille eine bewusste Verbindung mit den tieferen Strukturen der Realität ausbildet und so „mit dem Universum selbst im wahrhaftigen Wunder seines Daseins“ in Kontakt ist.
„Wir sollten spüren, dass wir von derselben Macht unterstützt werden, die die Erde hervorgebracht hat, jene Kraft, die sich im Raum ausbreiten lässt, die Sonne zum Strahlen bringt und den Mond in seine Kreisbahn gesetzt hat. Es ist die Kraft, durch welche die lebendigen Formen aus der Erde emporwuchsen und die Menschen zu einer besonderen Form reflexiven Bewusstseins kamen. Es ist die Kraft, die uns mehr als eine Million Jahre lang als Jäger und Sammler leitete. Es ist dieselbe Vitalität, die uns unsere Städte bauen ließ, und die Denker, Künstler und Dichter der Zeitalter inspirierte. Dieselben Kräfte sind noch immer gegenwärtig. Wir können tatsächlich ihre Wirkung auch in dieser Zeit fühlen und verstehen, dass wir nicht allein in der Kälte des Weltraums sind, mit der Last der Zukunft auf unseren Schultern und ohne die Hilfe irgendeiner anderen Macht. Wir verfügen über eine umfassende Präsenz. Man kann den Menschen als diejenige Realität definieren, in der die gesamte Erde zu einer besonderen Form von reflexiver Bewusstheit gelangt. Wir sind selbst eine mystische Qualität der Erde.“
Den großen Identitätswandel vollziehen
„Die geistige Bewegung [vom] räumlich beharrenden Kontext personaler Identität hin zu einem Gefühl von Identität mit einem sich entwickelnden Universum ist ein Wandel, der bis jetzt noch in keiner angemessenen Weise von irgendeiner spirituellen Tradition der Welt vollzogen worden ist.“
Und doch haben ihn einzelne Stimmen seit Langem verkündet. Der chinesische Philosoph Wang Yang-ming (Wang Shouren) schrieb schon im sechzehnten Jahrhundert: „Alle vom Herrscher, Minister, Ehemann, Eheweib und Freunden bis hin zu Bergen, Flüssen, himmlischen und irdischen Geistern, Vögeln, Tieren und Pflanzen, sie alle sollten wahrhaft geliebt werden, damit ich so meine Menschlichkeit verwirkliche, die eine Einheit bildet; dadurch wird auch mein eigentlicher Charakter vollständig entwickelt, und ich werde wahrhaftig einen Körper mit Himmel, Erde und den Milliarden Dingen bilden.“
Die Energie und Evolution des Kosmos sind Berrys Hoffnung, die sein sonst so kritisches Buch durchzieht: „Die Führung, die Inspiration und die Energie, die wir brauchen, sind verfügbar. Die Verwirklichung des großen Werkes ist das Ziel nicht nur der menschlichen Gemeinschaft, sondern des ganzen Planeten Erde. Ja, über die Erde hinaus ist es das große Werk des Universums selbst.“ Die klassischen Kulturkreise in Ost wie in West, wiewohl auch künftig als Grundlagen nicht zu vernachlässigen, seien nun an „das Ende einer wesentlichen Phase ihrer historischen Mission gelangt“. Dies leuchte allein schon wegen der Tatsache ein, „dass sie nicht imstande waren, die gegenwärtige Situation zu verhindern oder einer angemessenen Kritik zu unterziehen. Etwas Neues geschieht jetzt. Eine neue Vision und eine neue Energie zeigen sich.“ Allmählich werde die „gesamte menschliche Gemeinschaft, vor allem in den Industrienationen …, von einem Umdenken erfasst. Zum ersten Mal seit dem Beginn des industriellen Zeitalters wird eine gründliche Kritik dieser Zerstörungen vorgetragen. Es vollzieht sich eine bestürzte Abkehr von dem, was wir angerichtet haben, und wir gewinnen eine Zuversicht vermittelnde Perspektive der bereit liegenden Möglichkeiten.“
Thomas Berry, Das Wilde und das Heilige, Arun Verlag, ISBN 978-3-86663-060-4, 19,95 Euro
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