Die auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Bank Triodos legt in ihrem neuen Bericht über die Wirtschaftsaussichten für das Jahr 2024 ein überraschendes Bekenntnis ab: Sie setzt sich nicht für Wirtschaftswachstum um jeden Preis ein. Vielmehr will sie eine “Postwachstumsökonomie” fördern. Aus ihrem langfristigen Investitionspapier:

Die globalen Volkswirtschaften wachsen. Man schätzt, dass der Durchschnittsbürger heute 1,5 Mal reicher ist als im Jahr 2000. In diesem langfristigen Ausblick erörtern wir, dass Wachstum ein grundlegendes Merkmal von Marktwirtschaften ist, wie wir sie kennen.

Marktwirtschaften in ihrem derzeitigen Aufbau benötigen Wachstum, um stabil zu sein. Aber selbst wenn die fortgeschrittenen Volkswirtschaften Wachstum um jeden Preis anstreben würden, sind die langfristigen Wachstumsaussichten dürftig.

Wir argumentieren, dass Wachstum ein ökologisches Problem darstellt. Wir überschreiten gegenwärtig 6 von 9 planetarischen Grenzen, die durch die Wirtschaftstätigkeit angetrieben werden. Die ökologische Krise verschärft sich. Auch in sozialer Hinsicht hat das Wachstum nicht gefruchtet.

Die Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung sind ins Stocken geraten, und die Armut hat weltweit zugenommen. Wir zeigen, dass das Vertrauen in die Innovation, um die Wirtschaftstätigkeit vollständig von den ökologischen Auswirkungen zu entkoppeln, nicht evidenzbasiert ist.

Anschließend erörtern wir drei Wege, auf denen eine Wirtschaft aufgebaut werden könnte, die innerhalb der planetarischen Grenzen Wohlstand für alle bietet.

Wir diskutieren
1) eine nachhaltigere Art zu produzieren,
2) eine nachhaltigere Art zu konsumieren und
3) eine kollektive Entscheidung, mehr Freizeit zu haben.
Obwohl wir sie theoretisch voneinander trennen, könnten diese Wege in der Praxis vermischt werden.

Nach einer kurzen Erörterung der Dynamik, die diese Wege mit sich bringen, geben wir eine vorläufige Prognose für ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die ökologischen Folgen ab. Alle Wege führen zu einer erfolgreichen Verringerung der ökologischen Auswirkungen und zu einer Verkleinerung der Wirtschaft.

Nachdem wir gezeigt haben, dass wir zu einer Postwachstumsökonomie übergehen sollten, erörtern wir, wie wir dies erreichen können. Zunächst erörtern wir einige der politischen Maßnahmen und Denkweisen, die erforderlich sind, um unsere Volkswirtschaften vom Wachstumsimperativ zu befreien.

Dazu gehört eine institutionelle Umgestaltung, die es den Regierungen ermöglicht, ohne Wachstum zu funktionieren, und eine Neuausrichtung der Unternehmen auf die Interessen aller Beteiligten und das Gemeinwohl.

Anschließend wenden wir uns den Auswirkungen auf den Finanzsektor und die Anleger zu. Es ist eine tiefgreifende Überarbeitung des Sektors erforderlich, einschließlich einer größeren Vielfalt und einer Abkehr vom “too big to fail”-Denken.

Wir kommen zu dem Schluss, dass Investoren in der Zeit nach dem Wachstum finanzielle Erträge erzielen können, aber nur, wenn sie die Auswirkungen in den Vordergrund stellen.

Indem sie aktiv in die Realwirtschaft investieren und sich langfristig engagieren, können Anleger den notwendigen Wandel nach dem Wachstum ermöglichen.

Mehr dazu hier. Und aus ihrer Pressemitteilung:

Für wohlhabende Länder ist es nach Ansicht der Triodos Bank wichtig, anzuerkennen, dass zusätzlicher materieller Wohlstand nicht unbedingt zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Gleichzeitig wird kein Wachstum oder sogar ein Rückgang der Wirtschaftstätigkeit in wohlhabenden Ländern den weniger wohlhabenden Ländern Fortschritte ermöglichen, da dort ein höheres integratives Wachstum die Lebensbedingungen positiv beeinflussen kann.

Die Wege in die Postwachstumszeit erfordern radikale Umstellungen. Einige Sektoren müssen auslaufen, während andere florieren müssen. Sektoren mit hohem Verschmutzungsgrad, wie fossile Brennstoffe, Fast Fashion und industrielle Landwirtschaft, mögen zwar finanziellen Wert schaffen, aber sie erodieren ökologische und soziale Werte und schmälern den (zukünftigen) Wohlstand.

In einer Postwachstumsökonomie gibt es Raum für restaurative Unternehmen, die einen positiven Nettowert schaffen, um zu florieren. Die Erleichterung dieses Wandels erfordert erhebliche Veränderungen, die von der Politik bis zu den Verhaltensweisen reichen. Die Triodos Bank hält dies für ein plausibles Unterfangen.

Mehr dazu hier.

Mehr zum Thema Postwachstum finden Sie in Tim Jacksons Beitrag “Imagining post-growth” vom Mai dieses Jahres. Ein Auszug:

Wir sollten keinen Zweifel daran haben, dass wir mit einem schwierigen Dilemma konfrontiert sind. Vielleicht dem tiefgreifendsten Dilemma unserer Zeit. Wachstum ist unhaltbar. Aber die Welt nach dem Wachstum ist beängstigend. Wir haben eine Wirtschaft aufgebaut, die auf Wachstum angewiesen ist.

Wir müssen von neuem lernen, wie die Gesellschaft funktioniert, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Wie Wohlfahrtssysteme funktionieren. Wie Finanzsysteme funktionieren. Wie die Regierung funktioniert.

Und wir müssen uns mit den Theorien der Unmöglichkeit auseinandersetzen, die uns von denjenigen präsentiert werden, die sich dem Wandel widersetzen.

Wenn Sie glauben, dass Sie ein dysfunktionales System vor sich haben, das niemandem nützt, dann schauen Sie wahrscheinlich nicht genau genug hin. Hinter den schönen Worten und unterstützenden Gesten derer, die sich an die Macht klammern, verbergen sich Interessen, die den Fortschritt sabotieren wollen.

Und genau hier muss unser Bekenntnis zur Fürsorge mit Realismus gemildert werden. Unser Mitgefühl füreinander muss mit eiserner Entschlossenheit gestärkt werden. Unsere grenzenlose Kreativität muss sich auf ein Gefühl des Kampfes gründen.

Jeden Tag mit einem Gefühl der Sicherheit und des Komforts aufzuwachen, ist eine verlockende Vision für unser Leben. Aufzuwachen und das Gefühl zu haben, kämpfen zu müssen, kann uns den Atem rauben. Und doch bietet dieser Kampf eine andere Art von Antwort auf die schwierige Frage, die mir gestern Abend (von einer jungen Frau) gestellt wurde. Wie kann eine Postwachstumsökonomie einer Generation junger Menschen helfen, einer Zukunft voller Ängste und Zweifel entgegenzusehen?

Nicht durch ein rosarotes Gefühl der blinden Hoffnung. Nicht durch ein falsches Versprechen von mehr und mehr. Nicht durch vage Zusicherungen, dass alles gut werden wird. Sondern durch ein Engagement für den Kampf.

Das Gegenmittel zur Verzweiflung liegt nicht in der Hoffnung, sondern im Handeln. Im Handeln. Indem wir uns mit all unserer schöpferischen Energie auf die vor uns liegende Aufgabe einlassen. Ein Weg durch die Grenzen hin zum Unbegrenzten. Ein Wohlstand, der nicht auf Reichtum, sondern auf Gesundheit beruht.

Ein Kampf, um die systematische Verzerrung der Werte zu entwirren, die den Kern eines kaputten Kapitalismus bildet. Und um an seiner Stelle eine Wirtschaft der Fürsorge, des Handwerks und der Kreativität zu schaffen, die auf einem endlichen Planeten ihren Zweck erfüllt.

Aus einer Kooperation von ökoligenta mit der britischen Plattform The Daily Alternative

21.10.2021

Eine große, unkomplizierte Idee, die uns zu einem umweltfreundlicheren Verkehr bringt

Grüne Parteien sind in Koalitionsregierungen in ganz Europa aktiv (siehe Schottland, Island und in Deutschland) und haben überall auf dem Kontinent Einfluss. Doch Koalitionen setzen diese Parteien unter Druck: Wird ihr Klimaradikalismus verwässert, wenn sie Kompromisse eingehen und sich die Macht teilen? Daher ist es gut zu sehen, dass die österreichischen Grünen, die Teil einer Koalitionsregierung sind, einen wichtigen politischen Sieg errungen haben.

Für 3 € pro Tag kann man ab 26. Oktober 2021 mit einem staatlich subventionierten KlimaTicket überall in den öffentlichen Verkehrsmitteln Österreichs fahren, so weit Sie können. Wie die Financial Times berichtet:

Das Ministerium von Leonore Gewessle, zuständig für Verkehr, Umwelt, Energie und Technologie, hatte einen schweren Stand, um Österreichs regionalisiertes Verkehrssystem und den Flickenteppich privater Betreiber in ein einheitliches System zu bringen. Erst in den letzten Wochen wurde endlich eine Einigung erzielt, um alle Regionen Österreichs mit ins Boot zu holen.

„Wenn dieser Sommer uns etwas gezeigt hat, dann, dass die Klimakrise bereits bei uns angekommen ist“, sagte Gewessler mit Blick auf die großflächigen Überschwemmungen in Mitteleuropa. Nach Schätzungen des Verkehrsministeriums wird das System den österreichischen Steuerzahler jährlich zusätzliche 150 Millionen Euro kosten.

Kostenlose öffentliche Verkehrsmittel sind in vielen Städten, Regionen und kleinen Staaten eine wichtige systemische Antwort auf die Förderung klimafreundlicher Verhaltensweisen. Wie der New Scientist berichtet, „bieten mehr als 100 Städte kostenlose Verkehrsmittel für ihre Einwohner an, darunter Dünkirchen in Frankreich, Tallinn in Estland und einige in den USA sowie das gesamte Land Luxemburg“.

Auch im Vereinigten Königreich gibt es kleine Ansätze davon. Die schottischen Grünen setzen sich im Holyrood-Parlament für kostenlose Busfahrten für Personen unter 22 Jahren ein.

[Übersetzung von https://www.thealternative.org.uk/dailyalternative/2021/10/3/greener-transport-austria-3euro-daily]

Übersetzung erfolgte durch Bobby Langer in Absprache mit Indra Adnan

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(Foto von Simon Tartarotti auf Unsplash)

Aus einer Kooperation von ökoligenta mit der britischen Plattform The Daily Alternative

13.10.2021

Ein Essay von Jonathan Rowson, Direktor von Perspectiva, über neue Perspektiven zur Klimakrise. Was ist das Wesen des “Wir”, das dieses Problem angeht?

Die Gesamtzahl der Todesopfer von COVID-19 nähert sich inzwischen fünf Millionen, und eine Rückkehr zu unserem früheren Normalitätsempfinden scheint unwahrscheinlich, da Bio-Prekarität zu unserem ökologischen Standard geworden ist. Der Klimawandel wird ein unbestimmter Notfall bleiben, dessen Auswirkungen wahrscheinlich schlimmer sein werden, als die meisten sich vorzustellen wagen.

Ich sage das zum einen, weil die Auswirkungen bisher schlimmer waren als erwartet, zum anderen, weil die Gesamtemissionen von Kohlendioxid in naher Zukunft eher steigen als sinken werden, zum Dritten, weil neue Begriffe wie “nukleare Wirbelstürme” und “Kühlgrenztemperatur” in unser Lexikon Einzug halten, und zum dritten, weil einige Wissenschaftler, wie ein kürzlich erschienener Dokumentarfilm zeigte, begonnen haben, öffentlich über den Klimakollaps zu weinen. Das ist eine andere Art von Daten, aber möglicherweise die überzeugendste Art.

Der technologische Wandel ist exponentiell, und eine Kombination aus speicherbaren und transportierbaren erneuerbaren Energien in Verbindung mit einer bescheidenen politischen Entschlossenheit könnte unseren Lebensraum für eine gewisse Zeit überlebensfähig halten.

Der technologische Wandel ist exponentiell, der Wandel in der Politik ist eisig. Und die Rufe nach Veränderungen bei der Machtverteilung und -ausübung verhallen ungehört, vor allem weil der öffentliche Raum weitgehend von privaten Interessen geprägt ist und Smartphones, die neue Achse der Welt, von vornherein süchtig machen. Wir sind über das Zetern hinaus.

Es besteht die Gefahr, dass der Wandel um seiner selbst willen aufgewertet und die Trägheit unterbewertet wird, aber in jedem Fall ist die Immunität gegenüber dem Wandel Teil des Dilemmas. Ich war vierundzwanzig, als die von den USA angeführten Alliierten 2001 in Afghanistan in den Krieg zogen, um Al-Qaida auszurotten, und bin jetzt, da er 2021 in einem anti-heroischen Abgang endet, vierundvierzig. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl bemerkt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich Zeuge eines Zyklus internationaler Aktivitäten mit einem erkennbaren Anfang, einer Mitte und einem Ende.

Ich fühlte mich an T.S. Eliots Satz erinnert: “Wir werden nicht aufhören zu forschen. Und das Ende all unserer Erkundungen wird sein, dass wir dort ankommen, wo wir angefangen haben, und diesen Ort zum ersten Mal verstehen.” Nach zwei Jahrzehnten, vielen Billionen Dollar und reichlich Blutvergießen war das Land in vielerlei Hinsicht wieder da, wo es angefangen hatte.

Wir alle müssen so viel Freude am Leben finden, wie wir können, aber ein Teil dieser Freude kann und muss sich jetzt vielleicht aus der Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit ergeben, in die wir verwickelt sind.

Posttragische Sensibilitäten

Wir sollten uns also nicht an einer naiven Positivität orientieren, die besagt: “Wir haben die Technologie”, und auch nicht an einem Wachstumstrugschluss, der die individuelle Entwicklung in unserer Nische mit der Kultivierung von Tugenden innerhalb von Machtsystemen in großem Maßstab verwechselt; und auch nicht an der ökumenischen Denkweise – “wir brauchen eine neue Erzählung” -, dass es einen einzigen, klaren, phantasievollen Weg für acht Milliarden missratene Menschen geben könnte.

Ich bin sehr dafür, positiv zu denken, aber es ist an der Zeit, die Tragödie anzuerkennen, weil sie überall sowohl latent als auch manifest ist, und weil uns die Tragödie Sinn, Bedeutung und Verwirklichung erkennen lässt. Das Wissen um die Tragödie gibt uns den Mut, das Leben ernst zu nehmen und es zu lieben, obwohl und gerade weil es so ist, wie es ist.

Im griechischen Mythos war die Hoffnung, die in der Büchse der Pandora zurückblieb, nachdem all das Schlechte herausgeflogen war, eine Art Erwartung (die meisten Gelehrten übersetzen das griechische Wort elpis mit “Erwartung”), aber die Hoffnung, die wir heute brauchen, muss aktiv sein. Unser Gefühl für Macht und Möglichkeiten entsteht durch Handeln, und wir können uns buchstäblich nicht vorstellen, wozu wir fähig sind, bevor wir nicht den Mut zum Handeln finden.

Aber Handlungen, die aus Verblendung entstehen, werden schnell auf Gegenkräfte aus ihrem eigenen Schattenmaterial stoßen, sei es, dass Mutter Natur zuletzt zuschlägt oder die KI sich der menschlichen Kontrolle entzieht – beides ist wohl bereits im Gange. Techno-Optimismus im Allgemeinen und grünes Wachstum im Besonderen sind Beispiele für diese Art von Wahnvorstellungen, aber auch der Liberalismus im Allgemeinen leidet darunter.

WirWer?

Da die Sprache einer der wichtigsten aktiven Bestandteile des sozialen Wandels ist und unsere dringlichsten ökologischen Herausforderungen ein noch nie dagewesenes kollektives und koordiniertes Handeln erfordern, haben wir keine andere Wahl, als sorgfältiger auf die Art und Weise zu achten, wie wir das “wir” – das problematischste Pronomen von allen – verstehen und sprechen.

Ich spreche nicht von einer postmodernen Aufforderung, vielfältiger und inklusiver zu sein. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass die Probleme, die wir als wirtschaftliche, politische, epistemische, technologische oder spirituelle Probleme betrachten, in gewisser Weise auch Probleme unserer Grammatik sind.

Die meist unreflektierte Art und Weise, in der wir das “wir” in unseren Diskussionen über die Ausrichtung der Gesellschaft verwenden, ignoriert sehr oft unterschiedliche Wahrnehmungen, konkurrierende Interessen und Machtdynamiken und verschleiert dadurch die Art der Arbeit, die getan werden muss. Es ist eine Umkehrung von Figur und Grund erforderlich, bei der nicht mehr davon ausgegangen wird, dass unsere kollektive Wahrnehmung, unser Verständnis und unsere Interessen von und an der Welt einen stabilen Standpunkt darstellen, während die Figur oder Situation, die wir gemeinsam betrachten, in Frage gestellt bleibt.

Ich denke, die Herausforderung ist umgekehrt, nämlich uns so in unsere Lage zu versetzen, dass wir das betreffende Wir klarer sehen und vorrangig danach handeln.

Die größte Einschränkung bei der Vorstellung, dass wir mit einem Klimanotstand konfrontiert sind, besteht beispielsweise darin, dass es kein “Wir” als solches gibt, das sich damit befasst. Das “Wir”, das sagen will, dass es einen Notfall gibt, ist nicht dasselbe “Wir” wie das “Wir”, das es hören muss, und das “Wir”, das es hören muss, hat verschiedene Vorstellungen von der Art des “Wir”, das etwas dagegen tun sollte.

Das nicht triviale Problem besteht darin, dass “Wir” ein Begriff ist, der implizit zu der Annahme führt, dass es eine optimal kooperative Form des kollektiven Handelns auf globaler Ebene geben könnte. Diese Art von demokratischem (“wir, das Volk”) und globalem Wir (die Menschheit) wird in Fragen wie der folgenden vorausgesetzt:

  • Was müssen wir tun, um den Klimawandel zu bekämpfen?
  • Wie können wir zusammenarbeiten, um eine bewusstere Gesellschaft zu schaffen?
  • Was können wir tun, um das epistemische Gemeingut [die gemeinsamen Erkenntnisgrundlagen, der Ü.] zu stärken?
  • Wie können wir die Demokratie vor sich selbst retten?
  • Warum können wir die technologische Innovation nicht so kanalisieren, dass sie allen zugutekommt?

Ich beginne zu glauben, dass diese Fragen im Grunde genommen von hinten nach vorne gestellt werden müssen. Betrachten Sie die folgende alternative Formulierung für diese Art von Rätseln:

  • Wie könnte man die Realität des sich anbahnenden Klimakollapses auf eine Weise begreifen und darauf reagieren, die uns hilft, das Wir zu verändern, das es nicht geschafft hat, ihn zu verhindern?
  • Wie können die Institutionen und Normen der Demokratie so gestärkt werden, dass sie dazu beitragen, ein Wir zu schmieden, das des Ideals würdig ist und nicht eines, das es vernichtet?
  • Wie könnte Technologie am besten gestaltet, besessen, reguliert und vielleicht sogar in gewissem Sinne entthront werden, um die Art von Wir zu fördern, die eine gute Gesellschaft möglich macht?

Die intellektuelle Funktion wird heute in vielerlei Hinsicht gedemütigt, aber einer der Hauptgründe, warum wir uns abmühen, unserer Misere einen Sinn zu geben, ist, dass wir gezwungen sind, uns auf ein Wir zu berufen, das nicht wirklich existiert, und wenn wir so reden, als ob es existiert, ruft das eine weit verbreitete Dissonanz hervor. Vielleicht ist dies ein Teil des Zusammenbruchs des mentalen/rationalen Bewusstseinsmodus’, den Visionäre wie Jean Gebser prophezeit haben.

Ich behaupte, dass dieser Fehler in der Wahrnehmung und im Verständnis grammatikalisch bedingt ist, weil “Wir” als beschreibendes Pronomen verwendet wird, das alle Menschen einschließt, aber es sollte in einer dynamischeren und hybriden Form verwendet werden, vielleicht als abstraktes Substantiv, das als lebendige Frage dargestellt wird.

Ich bin Minna Salami dankbar, dass sie “WirWer” als alternative Formulierung vorgeschlagen hat, wie in “WirWer müssen dringend etwas gegen den Klimawandel unternehmen!” Ich erwarte nicht, dass irgendjemand bald anfängt, so zu reden, aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn er es täte.

Ich werde daran erinnert, dass Liebe, laut Iris Murdoch, “die äußerst schwierige Erkenntnis ist, dass etwas anderes als man selbst real ist”. Wenn die Liebe tatsächlich die Antwort ist, dann ist die extrem schwierige Bewusstwerdung auch die Antwort. Die Beatles (kein Geringerer als sie) sagten: “All you need is love”, und sie könnten Recht haben, während das Fetzer-Institut, einer der Hauptunterstützer von Perspectiva, weiterhin großen Wert auf die Liebe als zugrundeliegende Realität, als moralische Richtschnur und als spirituelle Inspiration legt.

Ich bin sehr dafür. Und doch geht es bei der Liebe, die wir auf globaler Ebene brauchen, nicht darum, dass sich alle auf denselben süßen Geschmack der Gefühle einlassen.

Die äußerst schwierige Erkenntnis ist nicht nur, dass es eine Welt jenseits unserer Köpfe gibt, oder dass die Menschen unterschiedliche Werte, Persönlichkeiten und Prioritäten haben. Wir können mit Problemen des kollektiven Handelns umgehen, und wir können verschiedene Arten von Gemeingütern grundsätzlich verwalten, wie Elinor Ostrom, die einzige Frau, die den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, gezeigt hat.

Dennoch gibt es in der Bevölkerung typischerweise 3-5 % Soziopathen und einen alarmierenden Anteil von Menschen, die zu autoritären Einstellungen neigen, und heutzutage werden ihre Stimmen in einer Weise verstärkt, die anderen Angst macht. Man sollte meinen, dass der offensichtliche ökologische Zusammenbruch unseres gemeinsamen Planeten die Zusammenarbeit beflügeln würde, aber es sieht eher nach einer Zeit der Polarisierung und Fragmentierung als nach Konvergenz aus.

Wir haben eine Gestalt. Es ist ja nicht so, dass die Welt nicht schon versucht hätte, ein gewisses Selbstverständnis als ein Organismus, eine Familie, zu entwickeln, und das hat sich im letzten Jahrhundert institutionell zumindest angedeutet.

Der Völkerbund (1919) führte zu den Vereinten Nationen (ca. 1941), und es gab so etwas wie eine internationale Nachkriegsordnung auf der Grundlage des Bretton-Woods-Abkommens für die globale Makroökonomie (1944) und der UN-Menschenrechtserklärung (1948). Während des Kalten Krieges (1947-1991) kam es zu einer grundlegenden Spaltung, aber dennoch wurden wichtige internationale Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie bürgerliche und politische Rechte (1976) geschlossen, und es gab viele Wellen der Globalisierung, die wir in den 1990er Jahren ernstzunehmen begannen.

Als ich in den neunziger und nuller Jahren als Schachspieler unterwegs war, wurde ich mit dem lateinischen Motto des Weltschachbundes F.I.D.E. vertraut: Gens una Sumus. Es bedeutet ‘wir sind ein Volk’. Und doch sind wir es nicht, noch nicht.

[Übersetzung von https://www.thealternative.org.uk/dailyalternative/2021/9/25/alternative-editorial-guest-rowson-impossible-we]

Übersetzung erfolgte durch Bobby Langer in Absprache mit Indra Adnan

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Der vollständige Essay (hier um Einiges gekürzt) findet sich unter whatisemerging.com/opinions/the-impossible-we

Informationen zu Jonathan Rowson auf Wikipedia

Seine Homepage: jonathanrowson.me

(Foto von Bekky Bekks auf Unsplash)