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Manchmal, wenn ich ganz allein bin mit mir in der Natur – und das können Augenblicke sein –, empfinde ich eine so herzliche Verwandtschaft mit dem Leben um mich, dass ich es umarmen möchte, wie man das eben mit Freunden tut. Dann kann ich schon mal meine Brust an einen Baumstamm drücken und mein Anderssein vergessen, aber dann kommt das Schlimme: Eine Scham steigt in mir auf. Wie kann ich als Erwachsener, als Mensch, einen Baum umarmen! Ist das nicht kitschig?

Zwei schwierige Fragen

Nein, ist es nicht, im Gegenteil. Kitsch ist das Nachgemachte, Unechte. Im Gefühl der Verbundenheit mit der Natur flammt die Erkenntnis auf, dass aus ihr die Quelle unserer Existenz entspringt. Letztlich müsste der Aufruf lauten: Nicht zurück zur, sondern zurück in die Natur! Nur: Wie kann man an einen Ort zurückkehren, an dem man sich ohnehin befindet?

Nötig ist die Forderung „Zurück in die Natur“ geworden, weil wir uns schon vor Jahrhunderten von der Natur verabschiedet haben, auf dass wir sie uns nach Belieben unterwerfen können. Aber kann man etwas unterwerfen, das man selbst ist? Ja, offenbar kann man das; es gelingt, indem man sich geistig-seelisch zweiteilt, eine innerpsychische, kulturelle Schizophrenie herstellt, „die Natur“ als das Fremde abspaltet – und modern wird.

Was wäre ein Fluss ohne Mündung?

„Zurück in die Natur“ bedeutet, die Perspektive wechseln: Nicht die Natur ist für mich da, sondern ich bin für die Natur da oder, noch richtiger für mich: Wir sind einander geschenkt. Ob ich es will und begreife oder nicht, ich reihe mich ein in Ebbe und Flut der Nahrungsketten, liefere meine Moleküle ab an der großen Theke des Lebens zur weiteren Verwendung. In die Natur zurückzukehren, wäre gleichsam das Ende der Besserwisserei, das Ende einer westlichen Haltung, die besagt: „Natur, schön und gut, aber wir können es besser.“ „Zurück in die Natur“ wäre der Weg vom homo arrogans zum homo sapiens.

„Zurück in die Natur“ bedeutet auch, den Tod nicht mehr als Ende, als die Verneinung des Lebens zu verstehen, sondern als die Mündung des Flusses, die uns ins Meer entlässt. Es ist zwar richtig, dass es nach der Mündung keinen Fluss mehr gibt, aber was wäre der Sinn eines Flusses ohne Mündung? Und auch: Was wäre ein Meer ohne Flüsse?

Wir brauchen kein Jenseits

Was ist Seele? So unterschiedlich die Definitionen dafür ausfallen, als Trägerin unserer Lebendigkeit scheint sie uns eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Seele aushaucht, der ist nicht mehr, was er zuvor war. Hat denn nicht alles Lebendige Seele, von der Amöbe bis zum Menschen, von der Alge bis zur Rebe? Kann denn ein Lebewesen unbeseelt sein oder umgekehrt: Kann etwas Seelenloses sterben? Niemand käme auf die Idee, von einem gestorbenen Auto zu sprechen oder einer gestorbenen Spülmaschine. Sie sind „kaputt“.

Sind Körper und Seele nicht eins, statt, wie uns weisgemacht wird, gespalten zu sein? Ist nicht die Trennung von Körper und Seele eine Hilfskonstruktion zunächst der monotheistischen Religionen und später des Materialismus, der ohne Seele auszukommen glaubt? Ist ein seelenloses Biotop vorstellbar? Ist das kein Widerspruch in sich? Und sind nicht auch das Wasser dort, die Binsen und Mückenlarven, die Frösche und der Reiher, das Holz und die Steine Teil eines komplexen Ganzen? Nichts davon ist ein beliebig austauschbares „Ding“, sondern Mitgewachsenes und Zugehöriges, aus der Zeit Geborenes. Ist es nicht so, dass es in der Natur nur Ganzes gibt, und wenn wir Teil der Natur sind, dann sind auch wir unteilbar ganz. Wir benötigen kein Jenseits dafür. In einer ungetrennt beseelten Welt können wir uns auch ohne Transzendenz aufgehoben und weitergetragen fühlen.

Essbar sein

Wenn wir also „zurück in die Natur“ wollen – kommst du mit? –, dann verlassen wir die anatomische Perspektive, steigen vom hohen Ross bzw. westlichen Elfenbeinturm und lassen uns überwältigen, öffnen uns für die Schönheit, aber auch für den Tod und das Endliche, die die Grundlage sind für die Vielfalt und überwältigende Fülle des Seins. Dann sind wir bereit, unser nach Sicherheit, Distanz und Dominanz strebendes Ich preiszugeben, um ein neues, integres, weil integrales Ich zu entdecken im Kontakt mit der Welt, die wir sind. Der Hamburger Biologe und Philosoph Andreas Weber geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, „essbar zu sein“. Sich nach Unsterblichkeit zu sehnen, sagt er, sei eine „ökologische Todsünde“. Särge sind unser letzter Trennungsversuch, im Sarg sind wir noch nicht essbar für die Würmerwelt, zögern wir unsere Essbarkeit noch ein wenig hinaus; als Asche in der freien Natur wären wir hingegen essbar in einer quasi vorverdauten Form. In der Erkenntnis unserer Essbarkeit vereinigen sich Mystik und Biologie.

Wo endet die Innenwelt?

In die Natur zurückzukehren, heißt anzuerkennen, dass auch unsere Geschwisterwesen eine Innenwelt besitzen, dass sie die Welt subjektiv wahrnehmen, so wie wir auch. Letztlich weiß jeder um die Innenwelt allen Lebens, und einen Schritt weitergedacht: dass eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenwelt existiert. Alles fühlt, will heil und gesund sein, kann froh sein oder leiden, alles nimmt wahr, nur nicht unbedingt so wie „wir Menschen“. Aber wer ist schon „wir“? Du als Leserin fühlst anders als ich, die Innenwelt jedes Menschen unterscheidet sich von der des anderen; das ist unsere alltägliche Erfahrung. Und falls du einen Hund hast oder eine Katze, dann trifft das auch auf sie zu, nicht wahr? Letztlich gibt es dieses „wir“ gar nicht, diesen statistischen Querschnitt des Innenlebens aller Menschen, sehr wohl jedoch deine und meine Innenwelt und die aller anderen. So erhebt sich die Frage: Bei welchen Lebewesen, bei welcher Art endet die Innenwelt? Haben nur Lebewesen mit einem dem Menschen ähnelnden Nervensystem eine Innenwelt? Welche Innenwelt haben Vögel, Fische, Schlangen, Insekten, Pflanzen? Andreas Weber konnte unter dem Mikroskop beobachten, wie sich Einzeller furchtsam vor dem tödlichen Tropfen Alkohol auf dem Glas unter der Linse zurückzogen. Wollen schon Einzeller leben? Alles spricht dafür. Nicht nur wir blicken auf unsere Mitwelt, sie blickt auch zurück – und vermutlich vom Menschen dauertraumatisiert.

Radikale Wechselseitigkeit statt Romantik

Wenn wir einen Apfel essen, dann wird er zu einem Teil unseres Körpers; mit anderen Worten: Ein Teil eines Apfelbaums verwandelt sich in dich oder mich. Der Gedanke mag zunächst verblüffend erscheinen, und doch handelt es sich bei diesem Vorgang um den Normalzustand in der Natur und gilt sogar für die Steine, auch wenn deren Verwandlungsprozess hin zum Mineral und damit zum Pflanzennährstoff länger dauert als bei anderen Wesen. Nichts ist auf der Erdoberfläche, das nicht in den großen Stoffwechsel einbezogen wäre, und wer weiß: Vielleicht ist unser Planet ja ein Molekül im Stoffwechsel des Universums?

Hier geht es um keine Hirngespinste, romantischen Gefühle oder Rousseauschen Ideale, sondern um eine notwendige Revolution, wenn wir das Niveau unserer Zivilisation halbwegs aufrechterhalten wollen. Was ansteht, ist eine radikale Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die uns von Grund auf erfasst und in der der Mensch auf eine fundamentale Art und Weise Verantwortung übernimmt, wie er sich einer fühlenden, verletzlichen, gleichwürdigen Welt gegenüber verhält. Dann endet die seit Jahrhunderten andauernde Suche nach dem Sinn, weil wir auf eine ganz selbstverständliche Weise in Verbundenheit blühen und weil dieses Blühen nur geschieht, weil jedes Wesen mit dem anderen verschränkt, verknüpft und verwoben ist. Es ist ein Blühen von Geschwistern.

Symbiose statt Kampf

„Zurückkehren in die Natur“ würde bedeuten, respektvoll anzuerkennen, dass die anders-als-menschliche Welt eben nicht aus Dingen besteht, mit denen wir verfahren können, wie es uns beliebt oder gefällt; dass wir auch dann in die Welt eingreifen, wenn wir dort kein Leben erkennen können. Denn jeder Eingriff bleibt ein Eingriff in die Lebensströme und Zusammenhänge der Welt, und nur selten – wenn überhaupt – wissen wir genau um die Folgen unseres Tuns. Schon morgen kann unser Eingriff etwas anderes bedeuten als heute. „Zurück in die Natur“ erkennt: Leben ist Synergie und Symbiose, nicht Kampf. Noch wehren wir uns gegen die Umarmung der Bäume. Deshalb, so Andreas Weber, brauchen wir „eine Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen“. Nur dann haben wir eine Chance auf eine lebenswerte, der bisherigen Gegenwart ähnliche Zukunft.

Zur Vertiefung: Andreas Weber, Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik, Verlag thinkOya, ISBN 978-3-947296-09-5, 26,80 Euro

 

In diesem dritten Teil geht es darum, dass wir lernen, innerhalb der planetaren Grenzen zu leben.

Teil 3 von Daniel Christian Wahl

Teil 1

Teil 2

In diesem zweiten Teil der Reihe geht es um den sogenannten Earth Overshoot Day, den Tag im Jahr, an dem wir dem Ökosystem mehr entnommen haben, als dieses natürlicherweise regenerieren kann.

Teil 2 von Daniel Christian Wahl

Teil 1

Teil 3

Krankheiten vermeiden? Besser Gesundheit kreieren. Umweltschäden reparieren? Besser ökologische Systeme schaffen, die sich selbst am Leben halten und regulieren können. Gesellschaftliche Brüche kitten? Besser aktiv Gemeinschaften organisieren, die die psychosoziale Gesundheit und das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Menschen dauerhaft gewährleisten. Unser politischer Diskurs ist zu sehr darauf fixiert, allgegenwärtige Verschlimmerungen aufzuhalten, abzumildern und im besten Fall rückgängig zu machen. So bleiben wir auf das Negative und dessen „Bekämpfung“ fixiert. Ins Positive gewendet, sollten ökologische und soziale Systeme mit einem hohen Grad an Resilienz geschaffen werden — weniger abhängig von andauernder menschlicher Korrektur, selbstreparierend, nachhaltig. Wie das funktionieren könnte, zeigt der Autor in seiner dreiteiligen Serie auf.

Teil 1 von Daniel Christian Wahl

Teil 2

Teil 3

Mit realistischen 3-D-Bildern ermuntert das Buch „Zukunftsbilder 2045“ zu einer zukunftsfähigen Stadtplanung

Rezension von Bobby Langer

„Aus der Krise kann eine neue Welt entstehen, die nicht unserem Verstand entspringt, sondern unseren Träumen. Denn auch, wenn wir nicht genau wissen, wie die Zukunft aussieht, sollten wir sie uns vorstellen. Denn wir können nur erschaffen, was wir als Vision in unserem Herzen tragen“, schrieb die Ökophilosophin Joana Macy. Die 174 Seiten von „Zukunftsbilder 2045“ haben genau das getan.

Doch bevor dieses in seiner Art einmalige, hoffnungsfrohe und zukunftsweisende Buchprojekt möglich wurde, waren ein paar Jahre der Planung nötig; außerdem mussten zig Tausend Euro finanziert werden – was letztlich nur durch ein professionelles Team und unbedingte Hingabe an die Sache funktionieren konnte.

Was gelingt also diesem Buch? Es überführt den Status Quo von Städten und Kommunen (von 2022) in ihr eigenes Zukunftsbild. Das geschieht einerseits in erzählerisch interessanten Texten (Tagebuch, Interview), andererseits aber neu und innovativ als naturgetreues, großformatiges Bild der eigenen Zukunft. Deshalb lautet der Untertitel des beim renommierten oekom Verlag erschienenen Bildbandes auch „Eine Reise in die Welt von morgen“. Für den Leser wird er damit zu einer Kombination aus intellektueller Horizonterweiterung sowie einem Wimmel-Bilderbuch für Erwachsene – und zwar für Erwachsene, denen das Thema Nachhaltigkeit bzw. Zukunftsfähigkeit am Herzen liegt.

Der Leser erlebt die Welt von 2045 ganze 17-mal und zwar die Zukünfte von Berlin (zweifach, einmal zum Thema Renaturierung, einmal zum Thema Gesellschaftsentwicklung), Bremerhaven, Düsseldorf, Emden, Frankfurt, Haan, Hamburg, Köln, Ludwigsburg, Lüneburg, München, Stuttgart, Wien, Leipzig, Wiesenburg, Zürich. Vergleichsweise einfach wäre die Aufgabenstellung für kleinere, weniger komplexer Städte gewesen. Für Konglomerate wie Hamburg, Berlin oder Wien hingegen waren der Rechercheaufwand sowie der graphische Aufwand immens. Das Redaktionsteam hat mit mehreren 3D Grafikagenturen zusammengearbeitet, um die aufwändige Umwandlung heutiger Drohnenfotos zu fotorealistischen Zukunftsszenen zu stemmen.

Die Entwicklungsrichtung der dargestellten Kommunen war nicht der Laune der AutorInnen überlassen; vielmehr folgten sie Zielvorgaben, die die Klima- und Umweltforschung zur Bewältigung der Ökokrise in den letzten Jahren entwickelt hat. Die erzählten und illustrierten Visionen sind also keine lineare Fortschreibung des heutigen Zustands, sondern regenerative Visionen; denn, so die AutorInnen, „die Schäden an der Natur sind inzwischen so groß, dass »Nachhaltigkeit« längst nicht mehr genügt“.

Die Erzählung leitet nicht von der Gegenwart in die Zukunft, sondern umgekehrt. Die Protagonistin, die „Redakteurin Liliana Morgentau“, unternimmt von Mai bis Juni 2045 eine Deutschlandreise und lässt sich von ZeitzeugInnen berichten, wie es möglich wurde, dass sich kleine und große Städte völlig neu erfanden, um den EU-Meilenstein der Klimaneutralität zu erreichen – was ohne gesellschaftliche Umwälzungen nicht möglich war. So sind neue gesellschaftliche Errungenschaften wie das Zukunftsparlament der UNO entstanden; dort wird, als nächste gesellschaftliche Entwicklungsstufe, über die „Biokratie“ nachgedacht, eine künftige Demokratie aller Lebewesen. Und im Zürich des Jahres 2045 ist das Geld längst in den Dienst der Menschen gestellt. Kein Wunder also, dass die Schweizer Großbank UBS, die heutzutage den Paradeplatz dominiert, durch die Bank für Gemeinwohl ersetzt wurde.

Zum Ende des Buches stellt sich ein Gefühl ein, dass einen nur selten ereilt: Dankbarkeit gegenüber dem AutorInnen-Team. Dankbarkeit für die umfassende Schau einer lebenswerten – und machbaren – Zukunft, Dankbarkeit aber auch für die Hoffnung, die nach der Lektüre unvermeidlich ist.

Übrigens wurde „Zukunftsbilder 2045“ von der Wochenzeitung der Freitagzum Buch der Woche“ gekürt.

Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. Von Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar, oekom Verlag, ISBN 978-3-96238-386-2, 33,00 Euro

Lust auf eine Leseprobe? Dann gerne HIER.

Auf der Homepage zum Buch finden sich viele weiterführende Anregungen und Links, denn mit der Lektüre hat ja ein Stück Zukunft begonnen. Die Rubrik Toolbox stellt den BesucherInnen eine Reihe von Methoden zur Verfügung, mit denen sie ihre eigenen Utopien sowie die von Gruppen und Organisationen entwickeln können. Er erhält außerdem Werkzeuge, mit deren Hilfe er eine Welt voller Potenziale sehen kann und mit denen er seine Utopie in die Realität bringt.

von Peter Wyler*

Wir hören und lesen: Der Juli 2023 war temperaturmässig der heisseste in der Geschichte der Menschheit. Weltweit schmelzen die Gletscher und der «ewige Schnee» in den Bergen. Auch die Eisflächen an den Polen unserer Erde nehmen drastisch ab.

Die menschengemachte Klimaerhitzung ist wie eine Metapher. Je mehr zwischen den Menschen, ja selbst in mir und dir, so scheint mir, Kälte und Eiszeit herrscht, Gefühle und Beziehungen abgekühlt oder eingefroren sind, desto mehr und schneller schmilzt das Eis auf unserem Planeten. Eiseskälte gibt es (zum Glück nicht überall) zwischen Frauen und Männern, zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Familien, unter Gruppen, Völkern und Staaten. Auch zwischen Regierungen und «dem Volk» herrschen Abkühlung bis eisige Erstarrung. In der Politik geschieht eiskaltes Lobbying und knallharte Interessensvertretung – anstatt wirklichem Erschaffen von Gemeinwohl und dringend notwendigen Lösungen.

Vor lauter Ansprüchen von uns Menschen haben die Bedürfnisse vieler Mit-Lebewesen auf dieser Erde nichts mehr in unseren frierenden Herzen verloren. Tausende Lebewesen-Arten sind durch unser Verhalten ausgestorben, bevor wir die Wunder des Lebens in ihnen erkennen und bestaunen konnten. Unsere Gefühle sind abgekühlt bis tiefgefroren, abgeschottet, abgestumpft, weggedrängt. Die Verbindung in unser Innerstes und Wärmendes wie durch eine «Eiswand» getrennt.

«Je erkalteter unsere Gefühlswelt, desto mehr und rascher schmilzt das Eis auf unserem Heimatplaneten.»

Oder als konstruktivere, aufmunterndere Version:  «Je erwärmender, lebendiger und friedfertiger unsere Gefühlswelt und unsere allseitigen Beziehungen, desto weniger überhitzen wir mit unserem Konsumverhalten den blauen Planeten. Und desto weniger zerstören wir die Natur und unsere Lebensgrundlagen.»

Ob die Klimaerhitzung noch rechtzeitig von uns gemeinschaftlich und weltweit gestoppt, sowie das Eis auf den Bergen, an den Polen und die Biodiversität wieder regenerierbar sind, können wir nicht sicher voraussehen.

Lassen wir das Eis in unseren Herzen schmelzen. Begegnen wir uns selbst und allem wieder mit Offenheit, Wärme und Zuneigung. Das ist der fruchtbare Boden für wachsende Verbundenheit, mehr Lebenstiefe, Freude und Geborgenheit. Wenn das Eis in uns und zwischen uns schmilzt, erwärmt sich der Boden des Verbundenseins, gedeihen daraus frische, kräftige, vielfältige, tragfähige Gemeinschaften. So beginnen die eigenen Probleme, wie auch die der Menschheit, zu schmelzen …

*© Peter Wyler, CH-8707 Uetikon am See, 24. August 2023

Bevor ich überhaupt mit diesem Text beginne, möchte ich vorausschicken, dass ich großen Respekt vor Menschen habe, die ihr Bestes geben oder gegeben haben und „einfach nicht mehr können“. Denn das ist wertvoller Selbstschutz und keine Resignation. Doch Resignation ist tatsächlich oft ein Irrtum, und noch dazu ein „vom System“ suggerierter – was es umso schlimmer macht.

Auch Resignation ist Selbstschutz

Resignation bedeutet, man hält eine Sache für aussichtslos und hört deshalb auf, zu kämpfen bzw. überhaupt irgendetwas zu tun. Wer in Sachen Demokratie oder Gaia resigniert, der begibt sich in eine hoffnungslose Grundhaltung, dreht sich um, murmelt „Es ist eh alles egal“, wählt rechts oder kauft sich einen SUV. Wer richtig gründlich resigniert, für den bedeutet Resignation eine Entlastung. Er übergibt sein Gewissen sozusagen dem Mainstream und ist damit, energetisch betrachtet, fein raus. Ich meine das rein beschreibend, nicht bewertend. Auch Resignation hat einen Aspekt des Selbstschutzes.

Resignation wegen Selbstüberschätzung?

Entscheidend ist, was der Resignation vorausgeht. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Ich bin 13 Jahre alt und möchte den Mount Everest besteigen. Schon auf halbem Weg zum Basislager merke ich, wie mir bei 20 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken die Kraft ausgeht, und ich resigniere. Der Resignation ging in diesem Fall ein unrealistisches Ziel voraus. Zweites Beispiel: Ich bin 70 Jahre alt und will mich nochmals so richtig verlieben. Nach drei Dates gebe ich auf und resigniere. Was ging hier der Resignation voraus? Offenbar eine Fehleinschätzung meiner Chancen. Natürlich könnte das klappen, aber eben nicht so schnell. Vielleicht brauche ich 15 oder 30 Versuche. Hinter der Fehleinschätzung könnte sehr leicht Selbstüberschätzung stecken: „Ich bin so schön, dass alle auf mich fliegen, sobald ich mich zeige.“

Das alte Tellerwäscher-Märchen

Damit sind wir der Kernaussage des Titels schon auf der Spur. In Sachen Demokratie oder Mitwelt lohnt sich aber eine Vertiefung. Beides sind hochkomplexe Themen. Sehe ich also die Demokratie oder die Mitwelt gefährdet, dann kann mich das so sehr berühren, dass ich aktiv werden möchte. Bis dahin gibt es auch kein Problem. Bin ich aber nun der Meinung, ich könnte die Demokratie oder die Mitwelt „retten“ (oder das Klima oder die Berggorillas oder …), dann habe ich entweder nicht die Dimension des Problems verstanden oder ich halte mich für Supergirl oder Superman – und bin damit dem „System“ aufgesessen, das mich glauben machen will, ich, ich ganz allein, könne der oder die Größte sein, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden.

Leidenschaftliche Geduld

Anders herum: Mit einer realistischen Einschätzung der Situation und einer mit Leidenschaft gepaarten Geduld kann ich immer neue, kleine, erfolgreiche Schritte tun und vielleicht sogar das große Ziel erreichen. Unter Umständen bezwingt ja der 13-Jährige zehn Jahre später den Mount Everest – nach viel Training, Bergsteigerkursen und 1000 Stunden Erfahrung am Berg. Spirituell benutzt man in so einem Fall das unscheinbare Wörtchen Demut, hinter dem sich eine mächtige Möglichkeit verbirgt.

Wenn Demut sich mit der Erkenntnis verbindet, dass große Ziele nie allein zu bewältigen sind, dass wir dafür PartnerInnen, BegleiterInnen, FreundInnen, UnterstützerInnen, kurz Gemeinschaft brauchen, dann nimmt nicht nur die Arroganz ab, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, resignieren zu müssen. Sogar der halbe Weg zum Ziel kann dann schon eine Menge Spaß gemacht haben.

Bobby Langer: Jascha, dein kürzlich erschienenes Buch „Die große Kokreation“ bezeichnet sich als „Standardwerk für transformative Kokreation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“. Ist das ein Buch für Spezialisten bzw. Experten, also zum Beispiel Soziologen oder Politologen, oder schreibst du für eine breitere Zielgruppe?

Jascha Rohr: Ich schreibe für alle, die sich engagieren, die Dinge bewegen und verändern wollen und wissen, dass das gemeinsam besser geht als alleine. Das ist, so hoffe ich, eine sehr breite Zielgruppe, die Expert:innen einschließt, sich darüber hinaus aber auch an Führungskräfte, Aktivist:innen, Unternehmer:innen, Projektleiter:innen, lokal Engagierte und viele mehr richtet, die den Anspruch haben, mit ihrer Arbeit einen positiven Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

B.L.: Was verpasst man, wenn man es nicht gelesen hat?

J.R.: Das Buch ist voller Modelle, Methoden, Theorie und Praxis, so dass wir zu informiert Handelnden werden können. Ich persönlich sehe den wertvollsten Beitrag des Buches aber darin, dass es ein neues ökologisches Paradigma anbietet, mit dem wir die Prozesse von Entwicklung, Veränderung und Gestaltung viel besser verstehen und anwenden können.

B.L.: Du sagst, es gehe dir um die „Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation“. Das klingt im ersten Moment ziemlich abgehoben. Weshalb hältst du diese Neuerfindung für notwendig?

J.R.: Das ist natürlich erst einmal eine Provokation. Und eine homogene globale Zivilisation gibt es in diesem Sinne auch gar nicht. Aber klar ist: Wenn wir global so weitermachen wie bisher, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen und damit das, was wir Zivilisation nennen. Das kennen wir aus der Vergangenheit der Menschheit im Kleinen. Da konnte es dann aber immer an anderer Stelle weitergehen. Kollabieren wir heute als globale Zivilisation, gibt es keinen Ausweichplaneten. Diesmal muss es uns gelingen, uns neu zu erfinden, bevor wir komplett kollabieren. Das nenne ich Neuerfindung unserer Zivilisation.

B.L.: Wer bist du, um sagen zu können, du wärest zu einer solchen Konzeptleistung in der Lage?

J.R.: Mein Beruf ist es, seit ca. 25 Jahren kleine und große Gruppen darin beizustehen, sich selbst neu zu erfinden – vom Dorf bis zur nationalen Ebene habe ich Beteiligungs- und Gestaltungsprozesse konzipiert und begleitet. Meine Leistung dabei ist es, den Prozess zu strukturieren und zu halten, in dem diese Gruppen sich selbst erfinden. Ich bin so etwas wie eine Gestaltungshebamme. In diesem Sinne würde ich mir auch nicht anmaßen, alleine unsere Zivilisation neu zu erfinden. Aber ich fühle mich gut darauf vorbereitet, auch große internationale und globale Prozesse zu konzipieren, methodisch zu unterstützen und zu begleiten, in denen die Beteiligten miteinander beginnen, „Zivilisation“ neu zu erfinden.

B.L.: Gibt es nicht mehr als eine Zivilisation auf dem Planeten? Wenn du also von „planetarer Zivilisation“ sprichst, klingt das so, als würdest du die westliche, industriell geprägte Zivilisation mit der planetaren gleichsetzen?

J.R.: Ja genau, das klingt so, dessen bin ich mir bewusst, und das ist natürlich nicht so. Und doch gibt es so etwas wie eine globale diverse Gesellschaft, globale Märkte, eine globale politische Arena, eine globale Medienlandschaft, globale Diskurse, globale Konflikte und globale Prozesse, zum Beispiel in Bezug auf Corona oder den Klimawandel. Dieses sehr heterogene Feld nenne ich vereinfacht globale Zivilisation, um klarzumachen: Dieses globale Feld ist in seiner Ganzheit eher toxisch als heilsam. Es muss transformiert werden im Sinne einer globalen Regeneration.

B.L.: Du schreibst ein ganzes Buch lang über Methoden und Werkzeuge. Hast du keine Sorge, dass deine Zielgruppe auf Inhalte pocht?

J.R.: Das ist die Krux. Es gab viele, die hätten sich lieber ein einfaches Rezeptbuch gewünscht: Lösungen zum Nachmachen. Und genau da wollte ich ehrlich bleiben: Aus dieser Rezeptlogik müssen wir aussteigen, sie ist Teil des Problems. Nachhaltige Lösungen haben immer damit zu tun, dass wir lokale Kontexte verstehen und dafür angepasste Lösungen entwickeln. Das habe ich aus der Permakultur gelernt. Dazu müssen wir uns trainieren und ausbilden. Dafür braucht es Methoden und Werkzeuge. Den Rest müssen die Kokreator:innen vor Ort leisten.

B.L.: Du schreibst: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Das ist logisch. Nur: Wie willst du als Kind der alten Zivilisation Werkzeuge einer neuen Zivilisation finden?

J.R.: Das geht nur über Transformationsprozesse. Und ich benutze diesen Begriff nicht leichtfertig, sondern in aller Konsequenz und Tiefe: Jede:r, der oder die mal einen Kulturschock erlebt hat und sich in eine neue Kultur einleben musste, der oder die eine religiöse Einstellung geändert hat, das berufliche Leben neu begonnen hat oder eine langfristige Beziehung für eine neue verlassen hat, kennt solche einschneidenden Veränderungsprozesse. Ich selbst habe meine ganz persönlichen Krisen und Auseinandersetzungen gehabt, in denen ich immer wieder zumindest Aspekte der „alten Zivilisation“ persönlich transformieren konnte. Meine Gründungen der Permakultur Akademie, des Instituts für partizipatives Gestalten und der Cocreation Foundation waren jeweils von genau solchen Erkenntnisprozessen getragen, die dann ihren gestalterischen Ausdruck in diesen Organisationen gefunden haben. Aber natürlich bin auch ich noch verhaftet, ich verstehe mich als Mensch in Transition.

B.L.: Obwohl du deine Augen nicht vor der Lage der Menschheit verschließt („Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich“), ist der Grundtenor deines Buches ausgesprochen positiv. Woher nimmst du deinen Optimismus?

J.R.: Der Optimismus ist eine Überlebensstrategie. Ohne ihn hätte ich gar nicht die Kraft, das zu tun, was ich tue. Woher sollen wir die Energie für so viel Wandel und Gestaltung nehmen? Ich glaube, dass wir das nur schaffen, wenn wir aus dieser Aufgabe Kraft, Freude, Lebendigkeit und Fülle für uns schöpfen. Ich mache das mit Hoffnung spendenden Narrativen. Wenn ich mich damit selbst manipuliere, nehme ich das gerne in Kauf: Lieber eine positive selbsterfüllende Prophezeiung als eine negative!

B.L.: Das Buch war der Band 1. Was können wir von Band 2 erwarten?

J.R.: In Band 1 haben wir den Werkzeugkoffer gepackt und uns den Kollaps und die Vision angeschaut. In Band 2 gehen wir in die Transformation, in die Höhle des Monsters sozusagen. Die drei bestimmenden Themen werden sein: Resonanz, Trauma und Krise. Heftiger Stoff, aber auch unglaublich spannend! Ich forsche gerade sehr stark dazu, was es in Gruppen heißen kann, das kollektive Nervensystem zu beruhigen, zu regulieren und Traumata zu integrieren. Ich glaube – eine weitere grobe Metapher –, dass unsere globale Zivilisation sich am besten mit einer Suchtanalogie beschreiben lässt: Wir sind süchtig nach Energie und Konsum. Eine nachhaltige Regeneration wird uns nur gelingen, wenn wir von der Nadel kommen. Das ist keine einfach zu lösende Sachthematik, sondern ein kollektivpsychologisches Problem. Aber meine Arbeitsweise ist ja generativ, ich bin selbst gespannt, was im weiteren Schreibprozess passiert.

Rezension

Internetseite zum Buch

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Ein wundervolles Video, in dem Andreas Weber anhand eines Kindheitserlebnisses Interbeing in zugleich lyrische wie nachdenkliche Worte fasst, Trauer eingeschlossen:

Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein*, zu einem neuen Welt- und Menschenbild

Von Sepp Stahl

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Was haben wir uns in den letzten 30, 40 Jahren informiert, was haben wir alles analysiert, was haben wir uns engagiert. Was haben wir appelliert, an uns selber, an andere, an Kirchen und Gemeinden, an Politik und Gesellschaft. Denken wir nur an die großen Friedensmärsche und Demos Anfang der 80-er Jahre, an Wackersdorf, an den Konziliaren Prozess seit 1985, an Gorleben, an die große Zahl von Menschen, die in vielen NGOs aktiv sind.

Und? Die Krisen sind immer nur größer geworden und wachsen weiter.

Albert Einstein hat 1929 gesagt: „Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.“

Demnach brauchen wir eine neue Denkweise, ein neues Bewusstsein, ein neues Welt- und Menschenbild.

Nun, das was notwendig ist, das was dran ist, entwickelt sich auch. Wer offen ist, wer auf der Suche ist, hat mitbekommen, dass wir tatsächlich am Anfang einer weiteren, entscheidenden Entwicklungsepoche der Evolution stehen. In Literatur und Wissenschaft mehren sich die Erkenntnisse und Aussagen dazu.

Der Jesuit und Zenmeister Hugo M. Enomiya-Lassalle hat 1986 ein Buch veröffentlicht, mit dem Titel: „Am Morgen einer besseren Welt – Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“.

Der jetzigen Phase, dem mentalen Bewusstsein, wie er sie bezeichnet, folge nun etwas wesentlich Neues – das integrale Bewusstsein. Lassalle meint, die Menschheit stehe an einer Wende, die nicht von ihr abhängt, wohl aber, ob sie bald zustande kommt. Er ist weiter der Ansicht, dass einem größeren Epochensprung der Evolution immer eine besondere Krisenzeit vorausgeht und ihn kennzeichnet.

Der Benediktinermönch und Zenmeister Willigis Jäger nannte das 21. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Metaphysik, und das 3. Jahrtausend: Das Millennium des Geistes, des Bewusstseins.

Der Physiker und Philosoph Ken Wilber aus den USA sieht dies ähnlich. Er teilt die Evolution nach dem Urknall in Physio-Sphäre, in Bio-Sphäre und in die mit der Aufklärung beginnende Geist-Sphäre ein.

„Was die Welt heute mehr als alles andere braucht, ist eine Revolution des Bewusstseins. Es ist an der Zeit, uns von einem Glauben an das Äußerliche, Kurzfristige und Flüchtige zu einer Wertschätzung des Inneren, Dauerhaften und Essenziellen hinzubewegen.“ (Beide Sätze sind Masami Saionjis Aufsatz in „Impulse für eine Welt in Balance“ entnommen, Hrsg „Global Marshall Plan Initiative“)

Im selben Buch schreibt Dr. Ashok Gangadean: „Wir Menschen sind in einem tiefgreifenden Entwicklungssprung begriffen, hinauf auf eine höhere Stufe globalen Bewusstseins, das durch die Jahrhunderte in Kulturen, Religionen und Weltbildern gewachsen ist. Dieses Erwachen eines globalen Bewusstseins bedeutet nichts Geringeres als den Umbruch, die Reifung, von eher egozentrischen Lebensformen hin zu einer höheren Form integrativen, dialogischen Lebens …. Die großen geistig- meditativen Traditionen haben schon lange erkannt, dass der Schlüssel zum Überleben, zu Nachhaltigkeit und Wohlergehen, im Bewusstseinswandel zur dialogischen Lebensweise liegt, die die wahre moralische, vernünftige und spirituelle Natur unserer Spezies zum Vorschein bringt.“

Peter Russel, Physiker, lässt in seinem Buch: „Der direkte Weg“ den Engländer John White zu Wort kommen:
„Nur durch eine Veränderung des Bewusstseins kann die Welt ‚gerettet‘ werden. Jeder muss bei sich selbst beginnen. Politisches Handeln, Sozialarbeit, jeder -ismus, jede Ideologie sind alle unvollständig und nutzlos, wenn sie nicht von einem neuen und erweiterten Bewusstsein begleitet werden. Das höchste Ziel ist dann keine Handlung, sondern eine Veränderung des Bewusstseins. In anderen Worten: Die wahre Revolution ist ein Bewusstseinssprung. Wenn dies weltweit geschieht, werden die bisherigen Probleme, falschen Vorstellungen und Ungerechtigkeiten wie von selbst verschwinden. Erst dann wird die ‚Revolution‘ zur ‚Evolution‘.“

Ausgangspunkt dieser neuen Sichtweisen sind vor allem die heutigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Die neuen, geradezu revolutionären Forschungsergebnisse kommen maßgeblich aus der Physik, indem die Kernphysiker immer tiefer im Mikrokosmos vordrangen, immer kleinere Einheiten fanden und ihre Funktionen erkannten – bekannt als Quantenphysik.

Das Vordringen in immer weitere Räume des Weltalls hat durch die Astrophysik ähnliche bahnbrechende Ergebnisse gebracht.

Nach Willigis Jäger kommen im Zuge ihrer Grundlagenforschung viele Wissenschaftler mehr und mehr an die Grenzen ihres Denkens, dort begegnet ihnen eine Wirklichkeit, die sie nicht mehr mit den Mitteln der Logik und des analytischen Denkens begreifen können. Fast alle großen Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts haben sich intensiv mit ihren Grenzerfahrungen auseinandergesetzt, im Besonderen seit der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Quantenphysik.

Auf der Suche, ihre geheimnisvollen Entdeckungen sprachlich auszudrücken, benutzten die Wissenschaftler häufig religiös spirituelle Formen, oft angelehnt an die asiatischen Religionen, an die Mystik im Christentum und an den Sufismus im Islam.

Der Münchner Physiker H.P. Dürr hat als Herausgeber Aussagen aller großen Physiker des 20. Jahrhunderts dazu in dem Buch ”Physik und Transzendenz” veröffentlicht. Die Tiefe und Deutlichkeit ihrer Worte überraschen und erstaunen ungemein. Einige Beispiele:

David Bohm, Physiker:
„Die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften werden nur noch einen Sinn ergeben, wenn wir eine innere, einheitlich und transzendente Wirklichkeit annehmen, die allen äußeren Daten und Fakten zugrunde liegt.“

Carlo Rubia, Atomphysiker:
„Als Forscher bin ich tief beeindruckt durch die Ordnung und Schönheit, die ich im Kosmos finde, sowie im Zauber der materiellen Dinge. Und als Beobachter der Natur kann ich den Gedanken nicht zurückweisen, dass hier eine höhere Ordnung der Dinge im Voraus existiert. Die Vorstellung, dass dies alles das Ergebnis eines Zufalls oder bloß statistischer Vielfalt sei, das ist für mich vollkommen unannehmbar. Es ist hier eine Intelligenz auf höherer Ebene vorgegeben, jenseits der Existenz des Universums selbst.“

Max Plank, Physiker:
„Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und dann nicht mehr weiterdenken konnte. Wir hören alle zu früh auf zu denken.“

In einem Zitat von Carsten Bresch, einem deutschen Molekularbiologen, ist für mich diese Sichtweise so mancher Naturwissenschaftler exemplarisch ausgedrückt:

„Es ist also in der Evolution eine eindeutige Tendenz zu immer höherer Komplexität festzustellen. Wenn man dies in allen Phasen beobachtet, dann fragt man natürlich nach den Ursachen dieser ‚Komplexifikation‘, wie Teilhard de Chardin es ausgedrückt hat. Man kommt ins Staunen und kann eigentlich nicht anders, als alles auf einen Ursprung zurückzuführen, das heißt, davon auszugehen, dass im Ursprung des ganzen Universums diese Entwicklung bereits begründet ist. Und dann ist es nicht mehr weit, Ehrfurcht vor diesem Geschehen zu verspüren und religiös zu werden.“ Soweit Carsten Bresch.

Von Albert Einstein gibt es dazu viele Aussagen, ein Beispiel:
”Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.”

Werner Heisenberg, Physiker, einer der Väter der Quantentheorie:
„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“

Indem die Wissenschaftler immer tiefer in den Mikro- und Makrokosmos vordrangen und vordringen, lernen viele von ihnen Staunen, sie staunen vor der Genialität und Schönheit der Schöpfung, dem gesamten Kosmos. Eine Genialität und eine Schönheit, die mit menschlicher Sprache nicht entsprechend gewürdigt werden können.

Schon für Leibniz war es die beste aller möglichen Welten.

Für Platon war Staunen der Beginn der Philosophie, und Gottlieb Herder war der Überzeugung, ohne Staunen, ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt.

Das Staunen war bei den Mystikern in allen Religionen, in besonderer Weise in den Naturreligionen, ein erster, wesentlicher Zugang zur Spiritualität.

Das Staunen-Können löst weitere Prozesse aus.

Dorothee Sölle beschreibt dies so wunderbar in „Mystik und Widerstand“. Für sie führt der Weg über Staunen zu Ehrfurcht und Lobpreis.

Staunen oder Bewunderung ist eine Art, den Schöpfer zu loben, auch wenn sein Name nicht genannt wird.

Wie sehen nun Wissenschaftler heute den Menschen, die Welt, den Mikro-, den Makrokosmos?

Die Urknalltheorie wird heute von den meisten Wissenschaftlern als eine sehr wahrscheinliche gesehen. Hintergrundstrahlung! Letzte Gewissheit gibt es nicht.

Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan sagt in seinem Buch „Die verborgene Melodie“, es gebe Geheimnisse, was die Entstehung und Weiterentwicklung des Kosmos angeht und es würden Geheimnisse bleiben. Er schreibt über die phantastische Feinabstimmung von etwas mehr als 12 physikalischen Konstanten im Kosmos, und würden sie nur in kleinsten Nuancen abweichen, so gäbe es uns und diesen Kosmos so nicht oder gar nicht.

Zitat Thuan: „Von diesen Konstanten hängt die phantastische Hierarchie der Strukturen und Massen im Universum ab: vom kleinsten Atom bis zum größten Galaxiensuperhaufen über den Menschen, die Planeten, die Sterne und die Galaxien. Am erstaunlichsten aber sind die physikalischen Größen, die – zusammen mit den Anfangsbedingungen des Universums – die Entfaltung des Lebens und die Entstehung des Bewusstseins und der Intelligenz ermöglichten. Die Existenz des Lebens hängt von einem sehr empfindlichen Gleichgewicht und vom einzigartigen Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände ab. Schon die geringste Änderung der Zahlenwerte oder der Anfangsbedingungen würde zu einem völlig anderen Universum führen – uns gäbe es dann allerdings nicht.“

Eines der Grundprinzipien in der Evolution ist die Entwicklung zu immer komplexeren Formen, zu anorganischen wie zu organischen.

Heute geht man davon aus, dass allen Vorgängen in der Evolution eine Selbststeuerung innewohnt, die Bestand und Weiterentwicklung sichert. Der englische Biologe Sheldrake nennt dieses Phänomen, das allen Vorgängen zu jeglichem Leben gegeben ist – morphogenetisches Feld – ein geistiges Feld, wie er feststellt.

Die Entdeckung der Unschärferelation durch Heisenberg hat die physikalische Vorhersage und Sicherheit tief erschüttert.

Ab jetzt gilt: In allen Entwicklungsbereichen der Evolution ist alles offen, nichts mehr vorhersagbar, alles möglich oder eben nicht.

Der Heisenberg-Schüler Hans P. Dürr dazu: „Zukunft ist prinzipiell nicht vorhersagbar.“

Hans P. Dürr bemühte sich jahrelang landauf landab, die Vorgänge in der Tiefe des Seins, die wesentlichen Erkenntnisse durch die Quanten-Theorie erklärbar zu machen. Aus seinem Buch: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ mit dem Untertitel: „Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften“; daraus zwei Passagen:

„In der Quantenphysik gibt es das Teilchen im alten klassischen Sinne nicht mehr, d. h. es existieren im Grunde keine (kleinsten) zeitlich mit sich selbst identischen Objekte. Damit geht die ontische Struktur der Wirklichkeit verloren. Die Frage: Was ist, was existiert? wird dynamisch verdrängt durch: Was passiert? Was wirkt? Das Primäre ist nicht mehr die reine Materie, die, selbst gestaltlos, den Raum besetzt; es gilt nicht mehr ‚Wirklichkeit als Realität‘, sondern im Grunde dominiert die immaterielle Beziehung, reine Verbundenheit, das Dazwischen, die Veränderung, das Prozesshafte, das Werden, eine Wirklichkeit als Potenzialität‘.

Die zweite Stelle:

„Die Gestalt, die innere Form ist grundlegender als die Materie. Dies verführt uns zu der Analogie aus unserer erweiterten, menschlichen Erfahrungswelt: Die Grundwirklichkeit hat mehr Ähnlichkeit mit dem unfassbaren, lebendigen Geist als mit der uns geläufigen greifbaren stofflichen Materie. Die Materie erscheint mehr als eine ‚Kruste‘ des Geistes. Ich betone nochmals: Dies ist zunächst nur als ein Gleichnis gemeint, denn Worte wie Geist und Lebendigkeit kommen in der Physik nicht vor. Im Grunde gibt es also nur Gestalt, eine reine Beziehungsstruktur ohne materiellen Träger.“

Als weiteres einige Fragmente aus einem Vortrag von ihm am 11. März 2005 am Goethe-Institut in München.

„Materie ist nicht aus Materie aufgebaut, das Fundament der Welt ist nicht materiell. Stattdessen finden wir hier Informationsfelder, Führungsfelder, Erwartungsfelder, die mit Energie und Materie nichts zu tun haben.“

„Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig. Und die Materie ist gewissermaßen die Schlacke des Geistes, sie bildet sich hinterher durch eine Art Gerinnungsprozess.“

Das Paradigma des Unlebendigen lautet: In Zukunft passiert das Wahrscheinliche wahrscheinlicher.

Beim Lebendigen ist es umgekehrt: In Zukunft ist das Unwahrscheinliche wahrscheinlich. Er selber sagt, noch unverständlicher ist: „Es gibt echt kreative Prozesse: Etwas entsteht aus dem Nichts und vergeht im Nichts.“

Als DAS entscheidende Grundprinzip der Evolution nennen immer mehr Wissenschaftler den unwissenschaftlichen Begriff: die Liebe.

Die beiden chilenischen Biologen und Nobelpreisträger Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela bringen in ihrem Buch: „Der Baum der Erkenntnis“ als Naturwissenschaftler gar den Begriff „Liebe“ ins Spiel. Sie schreiben: „Wir halten keine Moralpredigt, wir predigen nicht die Liebe. Wir machen einzig und allein die Tatsache offenkundig, dass es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozess gibt … Zu leugnen, dass die Liebe die Grundlage des sozialen Lebens ist, und die ethischen Implikationen dieser Tatsache zu ignorieren, hieße, all das zu verkennen, was unsere Geschichte als Lebewesen in mehr als 3,5 Milliarden Jahren aufgewiesen hat. Es mag uns ungewöhnlich vorkommen und wir mögen uns dagegen sträuben, den Begriff „Liebe“ in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang zu gebrauchen, da wir um die Objektivität unseres rationalen Ansatzes fürchten. Aus dem, was wir in diesem Buch aufgezeigt haben, sollte jedoch erhellen, dass eine solche Furcht unbegründet ist. Liebe ist eine biologische Dynamik mit tiefreichenden Wurzeln.“

Auch Ken Wilber bezeichnet die Liebe im weitesten Sinn als die eigentliche, die treibende Kraft des Lebens und der Evolution. Er sagt: Die Bereitschaft (die er als Liebe benennt) zur Selbsttranszendenz zur nächst höheren, komplexeren Form ist überall in der Evolution, im gesamten Kosmos erkennbar. Bereitschaft oder Liebe im Sinne einer absoluten Offenheit für alles und jedes.

Hans P. Dürr benutzte ebenso den Begriff Liebe: „Denn Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem anderen von Grund auf angelegt.“

Der Neurobiologe Gerald Hüther gibt einem seiner Bücher gar den Titel: „Die Evolution der Liebe“ und schreibt, dass primär die Liebe „die lebendige Welt, den Einzelnen, das Paar, eine Gruppe, die ganze menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält“.

Und dass eben nicht Konkurrenz, natürliche Auslese und Kampf ums Dasein, wie nach Darwin lange die Meinung vorherrschte, die bestimmenden Verhaltensweisen sind.

Die ganz neuen Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie der letzten zehn Jahre beschreibt Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“. Sie fügen sich nahtlos zu den anderen Erkenntnissen.

Joachim Bauer:
„Wir sind nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt, sondern auf Kooperation und Resonanz. Das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander durch Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen.“

Joachim Bauers wichtigste Aussage:
„Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch.“

Aus dem Inhalt des Buches zwei wesentliche Aussagen:

„Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen, wobei dies nicht nur persönliche Beziehungen betrifft, Zärtlichkeit und Liebe eingeschlossen, sondern alle Formen sozialen Zusammenwirkens.“ Für den Menschen bedeutet dies: „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“

Weiter:

„Besonders heftig reagieren die Motivationssysteme des Menschen, wenn Liebe im Spiel ist, egal, ob es sich um elterliche, kindliche oder sexuelle Liebe handelt.“

Aus all diesen bisher aufgezeigten neuen Forschungsergebnissen der modernen Naturwissenschaften entsteht ein neues Welt- und Menschenbild. Und dieses wird wiederum unser Bewusstsein beeinflussen und verändern.

Überall bin ich dem gleichen Tenor begegnet:

Erwin Laszlo, Club of Rome:
„Die Welt ist vielmehr eine ganzheitliche Welt der Information und der Teilhabe. Jedes Teilchen, jedes Atom ist durchdrungen von der Ganzheit des Universums.“

Nochmals H.P. Dürr:
„Die Natur ist im Grunde nur Verbundenheit … Diese fundamentale Verbundenheit führt dazu, dass die Welt eine Einheit ist.“

Das Holistische, das Ganzheitliche ist auch das wesentliche Charakteristikum der Quantenphysik.

Das ganzheitliche, holistische Denken ist heute Allgemeingut aller modernen Naturwissenschaften, nämlich der Quantenphysik, der Astrophysik, der Theoretischen Chemie, der System-Theorie, der Ökologie, der Klimatologie und der Neurobiologie.

Es gilt: das Prinzip der Vernetzung, der Zusammengehörigkeit, der Einheit, des Eins-Seins. Es gilt: die Einheit von Körper, Geist und Seele. Es gilt: Der Wechsel vom dualistischen Entweder-Oder zum polaren Sowohl-als-auch.

Und wieder Hans P. Dürr:
„Wir sind angehalten, in einem grundlegenden neuen Denken zu einem umfassenden Verständnis unserer Wirklichkeit zu gelangen, in der auch wir uns als Faser im Gewebe des Lebens verstehen, ohne dabei etwas von unseren besonderen menschlichen Qualitäten opfern zu müssen. Wir lernen, dass wir wie alles andere, untrennbar mit dieser wundersamen, irdischen Geobiosphäre verbundene Teilnehmer und Teilhabende sind.“

Willigis Jäger abschließend:
„Haben wir die Erfahrung der Einheit und Zusammengehörigkeit gemacht, ist die Liebe nicht mehr Gegenstand eines Gebotes, sondern der selbstverständliche Ausdruck des eigenen Wesens. Die Liebe ist nicht befohlene Tätigkeit, sondern Seins-Zustand der transpersonalen Existenz.“

Wir haben also die Liebe als das zentrale Merkmal der Evolution, des Lebens des Kosmos erkennen dürfen.

In dieser ganzheitlichen Geisteshaltung wird sich der Mensch nachhaltig und zukunftsfähig in die Kreisläufe und Wachstumsprozesse der Natur einfügen.

Nicht mehr die Suche nach den letzten Teilchen, sondern das Aufzeigen systemischer Zusammenhänge ist wichtig, nicht mehr das zerlegende Analysieren, sondern ganzheitliches Verstehen. Eine zentrale Aussage hierzu: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Fritjof Capra widmet sein neueres Buch: „Lebensnetz – ein neues Verständnis der lebendigen Welt“ dieser Thematik. Er versucht darin das synergetische Denken in einer ganzheitlichen Wissenschaft zu etablieren.

Dieses systemische, ganzheitliche Denken trägt zu einem neuen Verständnis des Menschen bei. Die Natur wird nicht mehr als zu beherrschendes Gegenüber verstanden, sondern wir Menschen als ihr integraler Teil, als Zellen in einem erdumspannenden Lebensnetz.

Mit einem solchen Bewusstsein brauchen wir keine ethischen Appelle mehr, sondern wollen ganz selbstverständlich „anders besser leben“ als bisher: Solidarisch, ökologisch, gesund, nachhaltig, also zukunftsfähig und schöpfungsbewusst.

Das wesentliche Neue ist im Kleinen, in Ansätzen bereits überall da. Wer sucht, wer offen ist, dem wird es begegnen, dem wird es zufließen.

Spiritualität als Alltags- und Lebensprinzip

Albert Schweitzer hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Spiritualität beschrieben, die im heutigen Kontext ganz aktuell ist. Längere Zeit habe er nach einer spirituellen Kurzform gesucht: „Ehrfurcht vor dem Leben“

Seine zentralen Aussagen:

„Der Mensch erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen.“ – „Ethisch ist er nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist, und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann.“

Schweitzers Schlüsselsatz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“

Für Willigis Jäger sind Alltag und Spiritualität nicht zu trennen. Er sagt: „Die Durchdringung von Alltag und Spiritualität setzt die Erfahrung voraus, dass es nichts gibt, was nicht eine Ausdrucksform des Göttlichen wäre. Dementsprechend ist der Vollzug des Lebens der wirkliche Inhalt der Religiosität und alle Gebete und Riten sind etwas, was wir dem hinzufügen, mit dem wir diese Wahrheit feiern.“

Mit diesen oben aufgezeigten Einstellungen ist das Los-Lassen-Können von einer einseitigen Betonung und Fixierung des Materiellen, des Besitzens, von ausufernden Bedürfnissen in unserer Konsumwelt kein Verzicht, keine Askese, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Widersprüche zwischen unserem Wissen, unseren Idealen und unserer Lebensweise heben sich so Schritt für Schritt auf.

Mit einem systemischen, ganzheitlichen Denken, mit einem integralen, ja kosmischen Bewusstsein fällt es uns leicht „anders besser zu leben“, zukunftsfähig mit Körper, Geist und Seele.

In diesem geistigen spirituellen Befinden kann sich eine Kultur des Mitfühlens, der Achtsamkeit, der Zusammengehörigkeit, Verbundenheit und der Vernetzung entfalten. Allein das Gefühl für Zusammengehörigkeit und Verbundenheit beinhaltet in sich spirituelle Dimensionen.

Der Mensch wird sich als ein Glied in diesem vielfältigen Lebensnetz erkennen und zu einer Art Geschwisterlichkeit, nicht nur zwischen den Menschen, sondern mit allem Geschaffenen finden.

Hierin entdecken wir das Wesen einer mystischen Spiritualität. Und ein Wort von Karl Rahner passt an dieser Stelle:

„Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“

Zum Schluss eine persönliche Anmerkung:

Seit Jahren sind mir diese Entwicklungen und Erkenntnisse zu meinem persönlichen Schwerpunkt, zu meinem Herzensanliegen geworden. Ich habe ganz neue Perspektiven und Zuversicht gewonnen. Meine Träume und Visionen sind intensiver und gefestigter, zwar nicht für die nähere Zukunft, sondern für eine Zeit danach, die ich nicht mehr erleben werde. Es ist mir bewusst, dass wir die Talsohle von Leid, Tod und Sterben und weiterer Zerstörung unserer Lebensgrundlagen noch nicht erreicht haben.

* „Am Morgen einer besseren Welt.  Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“ ist der Titel eines Buches von Hugo M. Enomija-Lassalle, 1986, Jesuit und Zenmeister