Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein*, zu einem neuen Welt- und Menschenbild
Von Sepp Stahl
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Was haben wir uns in den letzten 30, 40 Jahren informiert, was haben wir alles analysiert, was haben wir uns engagiert. Was haben wir appelliert, an uns selber, an andere, an Kirchen und Gemeinden, an Politik und Gesellschaft. Denken wir nur an die großen Friedensmärsche und Demos Anfang der 80-er Jahre, an Wackersdorf, an den Konziliaren Prozess seit 1985, an Gorleben, an die große Zahl von Menschen, die in vielen NGOs aktiv sind.
Und? Die Krisen sind immer nur größer geworden und wachsen weiter.
Albert Einstein hat 1929 gesagt: „Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.“
Demnach brauchen wir eine neue Denkweise, ein neues Bewusstsein, ein neues Welt- und Menschenbild.
Nun, das was notwendig ist, das was dran ist, entwickelt sich auch. Wer offen ist, wer auf der Suche ist, hat mitbekommen, dass wir tatsächlich am Anfang einer weiteren, entscheidenden Entwicklungsepoche der Evolution stehen. In Literatur und Wissenschaft mehren sich die Erkenntnisse und Aussagen dazu.
Der Jesuit und Zenmeister Hugo M. Enomiya-Lassalle hat 1986 ein Buch veröffentlicht, mit dem Titel: „Am Morgen einer besseren Welt – Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“.
Der jetzigen Phase, dem mentalen Bewusstsein, wie er sie bezeichnet, folge nun etwas wesentlich Neues – das integrale Bewusstsein. Lassalle meint, die Menschheit stehe an einer Wende, die nicht von ihr abhängt, wohl aber, ob sie bald zustande kommt. Er ist weiter der Ansicht, dass einem größeren Epochensprung der Evolution immer eine besondere Krisenzeit vorausgeht und ihn kennzeichnet.
Der Benediktinermönch und Zenmeister Willigis Jäger nannte das 21. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Metaphysik, und das 3. Jahrtausend: Das Millennium des Geistes, des Bewusstseins.
Der Physiker und Philosoph Ken Wilber aus den USA sieht dies ähnlich. Er teilt die Evolution nach dem Urknall in Physio-Sphäre, in Bio-Sphäre und in die mit der Aufklärung beginnende Geist-Sphäre ein.
„Was die Welt heute mehr als alles andere braucht, ist eine Revolution des Bewusstseins. Es ist an der Zeit, uns von einem Glauben an das Äußerliche, Kurzfristige und Flüchtige zu einer Wertschätzung des Inneren, Dauerhaften und Essenziellen hinzubewegen.“ (Beide Sätze sind Masami Saionjis Aufsatz in „Impulse für eine Welt in Balance“ entnommen, Hrsg „Global Marshall Plan Initiative“)
Im selben Buch schreibt Dr. Ashok Gangadean: „Wir Menschen sind in einem tiefgreifenden Entwicklungssprung begriffen, hinauf auf eine höhere Stufe globalen Bewusstseins, das durch die Jahrhunderte in Kulturen, Religionen und Weltbildern gewachsen ist. Dieses Erwachen eines globalen Bewusstseins bedeutet nichts Geringeres als den Umbruch, die Reifung, von eher egozentrischen Lebensformen hin zu einer höheren Form integrativen, dialogischen Lebens …. Die großen geistig- meditativen Traditionen haben schon lange erkannt, dass der Schlüssel zum Überleben, zu Nachhaltigkeit und Wohlergehen, im Bewusstseinswandel zur dialogischen Lebensweise liegt, die die wahre moralische, vernünftige und spirituelle Natur unserer Spezies zum Vorschein bringt.“
Peter Russel, Physiker, lässt in seinem Buch: „Der direkte Weg“ den Engländer John White zu Wort kommen:
„Nur durch eine Veränderung des Bewusstseins kann die Welt ‚gerettet‘ werden. Jeder muss bei sich selbst beginnen. Politisches Handeln, Sozialarbeit, jeder -ismus, jede Ideologie sind alle unvollständig und nutzlos, wenn sie nicht von einem neuen und erweiterten Bewusstsein begleitet werden. Das höchste Ziel ist dann keine Handlung, sondern eine Veränderung des Bewusstseins. In anderen Worten: Die wahre Revolution ist ein Bewusstseinssprung. Wenn dies weltweit geschieht, werden die bisherigen Probleme, falschen Vorstellungen und Ungerechtigkeiten wie von selbst verschwinden. Erst dann wird die ‚Revolution‘ zur ‚Evolution‘.“
Ausgangspunkt dieser neuen Sichtweisen sind vor allem die heutigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Die neuen, geradezu revolutionären Forschungsergebnisse kommen maßgeblich aus der Physik, indem die Kernphysiker immer tiefer im Mikrokosmos vordrangen, immer kleinere Einheiten fanden und ihre Funktionen erkannten – bekannt als Quantenphysik.
Das Vordringen in immer weitere Räume des Weltalls hat durch die Astrophysik ähnliche bahnbrechende Ergebnisse gebracht.
Nach Willigis Jäger kommen im Zuge ihrer Grundlagenforschung viele Wissenschaftler mehr und mehr an die Grenzen ihres Denkens, dort begegnet ihnen eine Wirklichkeit, die sie nicht mehr mit den Mitteln der Logik und des analytischen Denkens begreifen können. Fast alle großen Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts haben sich intensiv mit ihren Grenzerfahrungen auseinandergesetzt, im Besonderen seit der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Quantenphysik.
Auf der Suche, ihre geheimnisvollen Entdeckungen sprachlich auszudrücken, benutzten die Wissenschaftler häufig religiös spirituelle Formen, oft angelehnt an die asiatischen Religionen, an die Mystik im Christentum und an den Sufismus im Islam.
Der Münchner Physiker H.P. Dürr hat als Herausgeber Aussagen aller großen Physiker des 20. Jahrhunderts dazu in dem Buch ”Physik und Transzendenz” veröffentlicht. Die Tiefe und Deutlichkeit ihrer Worte überraschen und erstaunen ungemein. Einige Beispiele:
David Bohm, Physiker:
„Die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften werden nur noch einen Sinn ergeben, wenn wir eine innere, einheitlich und transzendente Wirklichkeit annehmen, die allen äußeren Daten und Fakten zugrunde liegt.“
Carlo Rubia, Atomphysiker:
„Als Forscher bin ich tief beeindruckt durch die Ordnung und Schönheit, die ich im Kosmos finde, sowie im Zauber der materiellen Dinge. Und als Beobachter der Natur kann ich den Gedanken nicht zurückweisen, dass hier eine höhere Ordnung der Dinge im Voraus existiert. Die Vorstellung, dass dies alles das Ergebnis eines Zufalls oder bloß statistischer Vielfalt sei, das ist für mich vollkommen unannehmbar. Es ist hier eine Intelligenz auf höherer Ebene vorgegeben, jenseits der Existenz des Universums selbst.“
Max Plank, Physiker:
„Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und dann nicht mehr weiterdenken konnte. Wir hören alle zu früh auf zu denken.“
In einem Zitat von Carsten Bresch, einem deutschen Molekularbiologen, ist für mich diese Sichtweise so mancher Naturwissenschaftler exemplarisch ausgedrückt:
„Es ist also in der Evolution eine eindeutige Tendenz zu immer höherer Komplexität festzustellen. Wenn man dies in allen Phasen beobachtet, dann fragt man natürlich nach den Ursachen dieser ‚Komplexifikation‘, wie Teilhard de Chardin es ausgedrückt hat. Man kommt ins Staunen und kann eigentlich nicht anders, als alles auf einen Ursprung zurückzuführen, das heißt, davon auszugehen, dass im Ursprung des ganzen Universums diese Entwicklung bereits begründet ist. Und dann ist es nicht mehr weit, Ehrfurcht vor diesem Geschehen zu verspüren und religiös zu werden.“ Soweit Carsten Bresch.
Von Albert Einstein gibt es dazu viele Aussagen, ein Beispiel:
”Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.”
Werner Heisenberg, Physiker, einer der Väter der Quantentheorie:
„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“
Indem die Wissenschaftler immer tiefer in den Mikro- und Makrokosmos vordrangen und vordringen, lernen viele von ihnen Staunen, sie staunen vor der Genialität und Schönheit der Schöpfung, dem gesamten Kosmos. Eine Genialität und eine Schönheit, die mit menschlicher Sprache nicht entsprechend gewürdigt werden können.
Schon für Leibniz war es die beste aller möglichen Welten.
Für Platon war Staunen der Beginn der Philosophie, und Gottlieb Herder war der Überzeugung, ohne Staunen, ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt.
Das Staunen war bei den Mystikern in allen Religionen, in besonderer Weise in den Naturreligionen, ein erster, wesentlicher Zugang zur Spiritualität.
Das Staunen-Können löst weitere Prozesse aus.
Dorothee Sölle beschreibt dies so wunderbar in „Mystik und Widerstand“. Für sie führt der Weg über Staunen zu Ehrfurcht und Lobpreis.
Staunen oder Bewunderung ist eine Art, den Schöpfer zu loben, auch wenn sein Name nicht genannt wird.
Wie sehen nun Wissenschaftler heute den Menschen, die Welt, den Mikro-, den Makrokosmos?
Die Urknalltheorie wird heute von den meisten Wissenschaftlern als eine sehr wahrscheinliche gesehen. Hintergrundstrahlung! Letzte Gewissheit gibt es nicht.
Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan sagt in seinem Buch „Die verborgene Melodie“, es gebe Geheimnisse, was die Entstehung und Weiterentwicklung des Kosmos angeht und es würden Geheimnisse bleiben. Er schreibt über die phantastische Feinabstimmung von etwas mehr als 12 physikalischen Konstanten im Kosmos, und würden sie nur in kleinsten Nuancen abweichen, so gäbe es uns und diesen Kosmos so nicht oder gar nicht.
Zitat Thuan: „Von diesen Konstanten hängt die phantastische Hierarchie der Strukturen und Massen im Universum ab: vom kleinsten Atom bis zum größten Galaxiensuperhaufen über den Menschen, die Planeten, die Sterne und die Galaxien. Am erstaunlichsten aber sind die physikalischen Größen, die – zusammen mit den Anfangsbedingungen des Universums – die Entfaltung des Lebens und die Entstehung des Bewusstseins und der Intelligenz ermöglichten. Die Existenz des Lebens hängt von einem sehr empfindlichen Gleichgewicht und vom einzigartigen Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände ab. Schon die geringste Änderung der Zahlenwerte oder der Anfangsbedingungen würde zu einem völlig anderen Universum führen – uns gäbe es dann allerdings nicht.“
Eines der Grundprinzipien in der Evolution ist die Entwicklung zu immer komplexeren Formen, zu anorganischen wie zu organischen.
Heute geht man davon aus, dass allen Vorgängen in der Evolution eine Selbststeuerung innewohnt, die Bestand und Weiterentwicklung sichert. Der englische Biologe Sheldrake nennt dieses Phänomen, das allen Vorgängen zu jeglichem Leben gegeben ist – morphogenetisches Feld – ein geistiges Feld, wie er feststellt.
Die Entdeckung der Unschärferelation durch Heisenberg hat die physikalische Vorhersage und Sicherheit tief erschüttert.
Ab jetzt gilt: In allen Entwicklungsbereichen der Evolution ist alles offen, nichts mehr vorhersagbar, alles möglich oder eben nicht.
Der Heisenberg-Schüler Hans P. Dürr dazu: „Zukunft ist prinzipiell nicht vorhersagbar.“
Hans P. Dürr bemühte sich jahrelang landauf landab, die Vorgänge in der Tiefe des Seins, die wesentlichen Erkenntnisse durch die Quanten-Theorie erklärbar zu machen. Aus seinem Buch: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ mit dem Untertitel: „Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften“; daraus zwei Passagen:
„In der Quantenphysik gibt es das Teilchen im alten klassischen Sinne nicht mehr, d. h. es existieren im Grunde keine (kleinsten) zeitlich mit sich selbst identischen Objekte. Damit geht die ontische Struktur der Wirklichkeit verloren. Die Frage: Was ist, was existiert? wird dynamisch verdrängt durch: Was passiert? Was wirkt? Das Primäre ist nicht mehr die reine Materie, die, selbst gestaltlos, den Raum besetzt; es gilt nicht mehr ‚Wirklichkeit als Realität‘, sondern im Grunde dominiert die immaterielle Beziehung, reine Verbundenheit, das Dazwischen, die Veränderung, das Prozesshafte, das Werden, eine Wirklichkeit als Potenzialität‘.
Die zweite Stelle:
„Die Gestalt, die innere Form ist grundlegender als die Materie. Dies verführt uns zu der Analogie aus unserer erweiterten, menschlichen Erfahrungswelt: Die Grundwirklichkeit hat mehr Ähnlichkeit mit dem unfassbaren, lebendigen Geist als mit der uns geläufigen greifbaren stofflichen Materie. Die Materie erscheint mehr als eine ‚Kruste‘ des Geistes. Ich betone nochmals: Dies ist zunächst nur als ein Gleichnis gemeint, denn Worte wie Geist und Lebendigkeit kommen in der Physik nicht vor. Im Grunde gibt es also nur Gestalt, eine reine Beziehungsstruktur ohne materiellen Träger.“
Als weiteres einige Fragmente aus einem Vortrag von ihm am 11. März 2005 am Goethe-Institut in München.
„Materie ist nicht aus Materie aufgebaut, das Fundament der Welt ist nicht materiell. Stattdessen finden wir hier Informationsfelder, Führungsfelder, Erwartungsfelder, die mit Energie und Materie nichts zu tun haben.“
„Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig. Und die Materie ist gewissermaßen die Schlacke des Geistes, sie bildet sich hinterher durch eine Art Gerinnungsprozess.“
Das Paradigma des Unlebendigen lautet: In Zukunft passiert das Wahrscheinliche wahrscheinlicher.
Beim Lebendigen ist es umgekehrt: In Zukunft ist das Unwahrscheinliche wahrscheinlich. Er selber sagt, noch unverständlicher ist: „Es gibt echt kreative Prozesse: Etwas entsteht aus dem Nichts und vergeht im Nichts.“
Als DAS entscheidende Grundprinzip der Evolution nennen immer mehr Wissenschaftler den unwissenschaftlichen Begriff: die Liebe.
Die beiden chilenischen Biologen und Nobelpreisträger Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela bringen in ihrem Buch: „Der Baum der Erkenntnis“ als Naturwissenschaftler gar den Begriff „Liebe“ ins Spiel. Sie schreiben: „Wir halten keine Moralpredigt, wir predigen nicht die Liebe. Wir machen einzig und allein die Tatsache offenkundig, dass es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozess gibt … Zu leugnen, dass die Liebe die Grundlage des sozialen Lebens ist, und die ethischen Implikationen dieser Tatsache zu ignorieren, hieße, all das zu verkennen, was unsere Geschichte als Lebewesen in mehr als 3,5 Milliarden Jahren aufgewiesen hat. Es mag uns ungewöhnlich vorkommen und wir mögen uns dagegen sträuben, den Begriff „Liebe“ in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang zu gebrauchen, da wir um die Objektivität unseres rationalen Ansatzes fürchten. Aus dem, was wir in diesem Buch aufgezeigt haben, sollte jedoch erhellen, dass eine solche Furcht unbegründet ist. Liebe ist eine biologische Dynamik mit tiefreichenden Wurzeln.“
Auch Ken Wilber bezeichnet die Liebe im weitesten Sinn als die eigentliche, die treibende Kraft des Lebens und der Evolution. Er sagt: Die Bereitschaft (die er als Liebe benennt) zur Selbsttranszendenz zur nächst höheren, komplexeren Form ist überall in der Evolution, im gesamten Kosmos erkennbar. Bereitschaft oder Liebe im Sinne einer absoluten Offenheit für alles und jedes.
Hans P. Dürr benutzte ebenso den Begriff Liebe: „Denn Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem anderen von Grund auf angelegt.“
Der Neurobiologe Gerald Hüther gibt einem seiner Bücher gar den Titel: „Die Evolution der Liebe“ und schreibt, dass primär die Liebe „die lebendige Welt, den Einzelnen, das Paar, eine Gruppe, die ganze menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält“.
Und dass eben nicht Konkurrenz, natürliche Auslese und Kampf ums Dasein, wie nach Darwin lange die Meinung vorherrschte, die bestimmenden Verhaltensweisen sind.
Die ganz neuen Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie der letzten zehn Jahre beschreibt Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“. Sie fügen sich nahtlos zu den anderen Erkenntnissen.
Joachim Bauer:
„Wir sind nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt, sondern auf Kooperation und Resonanz. Das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander durch Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen.“
Joachim Bauers wichtigste Aussage:
„Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch.“
Aus dem Inhalt des Buches zwei wesentliche Aussagen:
„Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen, wobei dies nicht nur persönliche Beziehungen betrifft, Zärtlichkeit und Liebe eingeschlossen, sondern alle Formen sozialen Zusammenwirkens.“ Für den Menschen bedeutet dies: „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“
Weiter:
„Besonders heftig reagieren die Motivationssysteme des Menschen, wenn Liebe im Spiel ist, egal, ob es sich um elterliche, kindliche oder sexuelle Liebe handelt.“
Aus all diesen bisher aufgezeigten neuen Forschungsergebnissen der modernen Naturwissenschaften entsteht ein neues Welt- und Menschenbild. Und dieses wird wiederum unser Bewusstsein beeinflussen und verändern.
Überall bin ich dem gleichen Tenor begegnet:
Erwin Laszlo, Club of Rome:
„Die Welt ist vielmehr eine ganzheitliche Welt der Information und der Teilhabe. Jedes Teilchen, jedes Atom ist durchdrungen von der Ganzheit des Universums.“
Nochmals H.P. Dürr:
„Die Natur ist im Grunde nur Verbundenheit … Diese fundamentale Verbundenheit führt dazu, dass die Welt eine Einheit ist.“
Das Holistische, das Ganzheitliche ist auch das wesentliche Charakteristikum der Quantenphysik.
Das ganzheitliche, holistische Denken ist heute Allgemeingut aller modernen Naturwissenschaften, nämlich der Quantenphysik, der Astrophysik, der Theoretischen Chemie, der System-Theorie, der Ökologie, der Klimatologie und der Neurobiologie.
Es gilt: das Prinzip der Vernetzung, der Zusammengehörigkeit, der Einheit, des Eins-Seins. Es gilt: die Einheit von Körper, Geist und Seele. Es gilt: Der Wechsel vom dualistischen Entweder-Oder zum polaren Sowohl-als-auch.
Und wieder Hans P. Dürr:
„Wir sind angehalten, in einem grundlegenden neuen Denken zu einem umfassenden Verständnis unserer Wirklichkeit zu gelangen, in der auch wir uns als Faser im Gewebe des Lebens verstehen, ohne dabei etwas von unseren besonderen menschlichen Qualitäten opfern zu müssen. Wir lernen, dass wir wie alles andere, untrennbar mit dieser wundersamen, irdischen Geobiosphäre verbundene Teilnehmer und Teilhabende sind.“
Willigis Jäger abschließend:
„Haben wir die Erfahrung der Einheit und Zusammengehörigkeit gemacht, ist die Liebe nicht mehr Gegenstand eines Gebotes, sondern der selbstverständliche Ausdruck des eigenen Wesens. Die Liebe ist nicht befohlene Tätigkeit, sondern Seins-Zustand der transpersonalen Existenz.“
Wir haben also die Liebe als das zentrale Merkmal der Evolution, des Lebens des Kosmos erkennen dürfen.
In dieser ganzheitlichen Geisteshaltung wird sich der Mensch nachhaltig und zukunftsfähig in die Kreisläufe und Wachstumsprozesse der Natur einfügen.
Nicht mehr die Suche nach den letzten Teilchen, sondern das Aufzeigen systemischer Zusammenhänge ist wichtig, nicht mehr das zerlegende Analysieren, sondern ganzheitliches Verstehen. Eine zentrale Aussage hierzu: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Fritjof Capra widmet sein neueres Buch: „Lebensnetz – ein neues Verständnis der lebendigen Welt“ dieser Thematik. Er versucht darin das synergetische Denken in einer ganzheitlichen Wissenschaft zu etablieren.
Dieses systemische, ganzheitliche Denken trägt zu einem neuen Verständnis des Menschen bei. Die Natur wird nicht mehr als zu beherrschendes Gegenüber verstanden, sondern wir Menschen als ihr integraler Teil, als Zellen in einem erdumspannenden Lebensnetz.
Mit einem solchen Bewusstsein brauchen wir keine ethischen Appelle mehr, sondern wollen ganz selbstverständlich „anders besser leben“ als bisher: Solidarisch, ökologisch, gesund, nachhaltig, also zukunftsfähig und schöpfungsbewusst.
Das wesentliche Neue ist im Kleinen, in Ansätzen bereits überall da. Wer sucht, wer offen ist, dem wird es begegnen, dem wird es zufließen.
Spiritualität als Alltags- und Lebensprinzip
Albert Schweitzer hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Spiritualität beschrieben, die im heutigen Kontext ganz aktuell ist. Längere Zeit habe er nach einer spirituellen Kurzform gesucht: „Ehrfurcht vor dem Leben“
Seine zentralen Aussagen:
„Der Mensch erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen.“ – „Ethisch ist er nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist, und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann.“
Schweitzers Schlüsselsatz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“
Für Willigis Jäger sind Alltag und Spiritualität nicht zu trennen. Er sagt: „Die Durchdringung von Alltag und Spiritualität setzt die Erfahrung voraus, dass es nichts gibt, was nicht eine Ausdrucksform des Göttlichen wäre. Dementsprechend ist der Vollzug des Lebens der wirkliche Inhalt der Religiosität und alle Gebete und Riten sind etwas, was wir dem hinzufügen, mit dem wir diese Wahrheit feiern.“
Mit diesen oben aufgezeigten Einstellungen ist das Los-Lassen-Können von einer einseitigen Betonung und Fixierung des Materiellen, des Besitzens, von ausufernden Bedürfnissen in unserer Konsumwelt kein Verzicht, keine Askese, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Widersprüche zwischen unserem Wissen, unseren Idealen und unserer Lebensweise heben sich so Schritt für Schritt auf.
Mit einem systemischen, ganzheitlichen Denken, mit einem integralen, ja kosmischen Bewusstsein fällt es uns leicht „anders besser zu leben“, zukunftsfähig mit Körper, Geist und Seele.
In diesem geistigen spirituellen Befinden kann sich eine Kultur des Mitfühlens, der Achtsamkeit, der Zusammengehörigkeit, Verbundenheit und der Vernetzung entfalten. Allein das Gefühl für Zusammengehörigkeit und Verbundenheit beinhaltet in sich spirituelle Dimensionen.
Der Mensch wird sich als ein Glied in diesem vielfältigen Lebensnetz erkennen und zu einer Art Geschwisterlichkeit, nicht nur zwischen den Menschen, sondern mit allem Geschaffenen finden.
Hierin entdecken wir das Wesen einer mystischen Spiritualität. Und ein Wort von Karl Rahner passt an dieser Stelle:
„Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“
Zum Schluss eine persönliche Anmerkung:
Seit Jahren sind mir diese Entwicklungen und Erkenntnisse zu meinem persönlichen Schwerpunkt, zu meinem Herzensanliegen geworden. Ich habe ganz neue Perspektiven und Zuversicht gewonnen. Meine Träume und Visionen sind intensiver und gefestigter, zwar nicht für die nähere Zukunft, sondern für eine Zeit danach, die ich nicht mehr erleben werde. Es ist mir bewusst, dass wir die Talsohle von Leid, Tod und Sterben und weiterer Zerstörung unserer Lebensgrundlagen noch nicht erreicht haben.
* „Am Morgen einer besseren Welt. Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“ ist der Titel eines Buches von Hugo M. Enomija-Lassalle, 1986, Jesuit und Zenmeister