Mit realistischen 3-D-Bildern ermuntert das Buch „Zukunftsbilder 2045“ zu einer zukunftsfähigen Stadtplanung

Rezension von Bobby Langer

„Aus der Krise kann eine neue Welt entstehen, die nicht unserem Verstand entspringt, sondern unseren Träumen. Denn auch, wenn wir nicht genau wissen, wie die Zukunft aussieht, sollten wir sie uns vorstellen. Denn wir können nur erschaffen, was wir als Vision in unserem Herzen tragen“, schrieb die Ökophilosophin Joana Macy. Die 174 Seiten von „Zukunftsbilder 2045“ haben genau das getan.

Doch bevor dieses in seiner Art einmalige, hoffnungsfrohe und zukunftsweisende Buchprojekt möglich wurde, waren ein paar Jahre der Planung nötig; außerdem mussten zig Tausend Euro finanziert werden – was letztlich nur durch ein professionelles Team und unbedingte Hingabe an die Sache funktionieren konnte.

Was gelingt also diesem Buch? Es überführt den Status Quo von Städten und Kommunen (von 2022) in ihr eigenes Zukunftsbild. Das geschieht einerseits in erzählerisch interessanten Texten (Tagebuch, Interview), andererseits aber neu und innovativ als naturgetreues, großformatiges Bild der eigenen Zukunft. Deshalb lautet der Untertitel des beim renommierten oekom Verlag erschienenen Bildbandes auch „Eine Reise in die Welt von morgen“. Für den Leser wird er damit zu einer Kombination aus intellektueller Horizonterweiterung sowie einem Wimmel-Bilderbuch für Erwachsene – und zwar für Erwachsene, denen das Thema Nachhaltigkeit bzw. Zukunftsfähigkeit am Herzen liegt.

Der Leser erlebt die Welt von 2045 ganze 17-mal und zwar die Zukünfte von Berlin (zweifach, einmal zum Thema Renaturierung, einmal zum Thema Gesellschaftsentwicklung), Bremerhaven, Düsseldorf, Emden, Frankfurt, Haan, Hamburg, Köln, Ludwigsburg, Lüneburg, München, Stuttgart, Wien, Leipzig, Wiesenburg, Zürich. Vergleichsweise einfach wäre die Aufgabenstellung für kleinere, weniger komplexer Städte gewesen. Für Konglomerate wie Hamburg, Berlin oder Wien hingegen waren der Rechercheaufwand sowie der graphische Aufwand immens. Das Redaktionsteam hat mit mehreren 3D Grafikagenturen zusammengearbeitet, um die aufwändige Umwandlung heutiger Drohnenfotos zu fotorealistischen Zukunftsszenen zu stemmen.

Die Entwicklungsrichtung der dargestellten Kommunen war nicht der Laune der AutorInnen überlassen; vielmehr folgten sie Zielvorgaben, die die Klima- und Umweltforschung zur Bewältigung der Ökokrise in den letzten Jahren entwickelt hat. Die erzählten und illustrierten Visionen sind also keine lineare Fortschreibung des heutigen Zustands, sondern regenerative Visionen; denn, so die AutorInnen, „die Schäden an der Natur sind inzwischen so groß, dass »Nachhaltigkeit« längst nicht mehr genügt“.

Die Erzählung leitet nicht von der Gegenwart in die Zukunft, sondern umgekehrt. Die Protagonistin, die „Redakteurin Liliana Morgentau“, unternimmt von Mai bis Juni 2045 eine Deutschlandreise und lässt sich von ZeitzeugInnen berichten, wie es möglich wurde, dass sich kleine und große Städte völlig neu erfanden, um den EU-Meilenstein der Klimaneutralität zu erreichen – was ohne gesellschaftliche Umwälzungen nicht möglich war. So sind neue gesellschaftliche Errungenschaften wie das Zukunftsparlament der UNO entstanden; dort wird, als nächste gesellschaftliche Entwicklungsstufe, über die „Biokratie“ nachgedacht, eine künftige Demokratie aller Lebewesen. Und im Zürich des Jahres 2045 ist das Geld längst in den Dienst der Menschen gestellt. Kein Wunder also, dass die Schweizer Großbank UBS, die heutzutage den Paradeplatz dominiert, durch die Bank für Gemeinwohl ersetzt wurde.

Zum Ende des Buches stellt sich ein Gefühl ein, dass einen nur selten ereilt: Dankbarkeit gegenüber dem AutorInnen-Team. Dankbarkeit für die umfassende Schau einer lebenswerten – und machbaren – Zukunft, Dankbarkeit aber auch für die Hoffnung, die nach der Lektüre unvermeidlich ist.

Übrigens wurde „Zukunftsbilder 2045“ von der Wochenzeitung der Freitagzum Buch der Woche“ gekürt.

Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. Von Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar, oekom Verlag, ISBN 978-3-96238-386-2, 33,00 Euro

Lust auf eine Leseprobe? Dann gerne HIER.

Auf der Homepage zum Buch finden sich viele weiterführende Anregungen und Links, denn mit der Lektüre hat ja ein Stück Zukunft begonnen. Die Rubrik Toolbox stellt den BesucherInnen eine Reihe von Methoden zur Verfügung, mit denen sie ihre eigenen Utopien sowie die von Gruppen und Organisationen entwickeln können. Er erhält außerdem Werkzeuge, mit deren Hilfe er eine Welt voller Potenziale sehen kann und mit denen er seine Utopie in die Realität bringt.

Ich habe mich schon oft gefragt, wie es sein kann, dass immer wieder Menschen, die klaren Verstandes zu sein scheinen, an der Erhitzung des Erdatmosphäre zweifeln, und wenn schon nicht das, dann doch wenigstens der entlastenden Aussage anhängen, wir hätten damit nichts zu tun.
Dass die Großindustrie, insbesondere die Erdölbranche ein großes Interesse an solchen Haltungen hat, ist klar. Nur wie genau geht sie dagegen vor.
Die österreichische Tageszeitung Der Standard hat dies kürzlich akribisch rechecheriert und veröffentlich.
Fazit: “So werden Worte tatsächlich zur Waffe.”

Design für die Rettung der Welt – so der Anspruch eines kürzlich erschienenen Buches

„Wie können wir es schaffen, mit zehn bis zwölf Milliarden Menschen gut auf dieser Erde zu leben? Wie erreichen wir für alle ein Leben in angemessenem Wohlstand, in Frieden und Freiheit und in einem global intakten und vielfältigen Ökosystem?“ Jascha Rohr

Von Bobby Langer

Könnte man den geläufigen Ausdruck „das Buch der Stunde“ auf eine ganze Epoche übertragen, dann träfe er auf dieses Buch zu. Es erhitzt sich nicht an – immer diskutablen – Inhalten, sondern beschäftigt sich klug, systematisch und auf viel Erfahrung zurückgreifend mit den uns bleibenden Möglichkeiten, das Ruder herumzureißen.

Der Autor Jascha Rohr beschreibt sein Buch folgendermaßen: „Wir haben einen kokreative Werkstatt in Form eines Buches vor uns, die aus einer Reihe von Werkräumen besteht, den Kapiteln dieses Buches. Unser Ziel ist der Entwurf für die große Kokreation.“

Kein Was ohne Wie

Für viele Laien, aber auch Experten in Sachen Nachhaltigkeit, Erderwärmung oder Artensterben sieht es eher hoffnungslos aus. Gleich dem vom Auge der Schlange gebannten Kaninchen stehen sie dem lebensverschlingenden Verhalten der industriellen Zivilisation ratlos gegenüber. Jascha Rohr hat – wenigstens für sich – diesen Bann gebrochen. Statt sich dystopischen Gedanken zu überlassen, überlegt er, wie eine nachhaltige Umgestaltung der Welt funktionieren könnte. Denn, so findet er, ohne über das Wie nachgedacht zu haben, brauchen wir uns über das Was erst gar keine Gedanken zu machen. „Die große Kokreation“ ist für ihn ein „Entwurf darüber, wie wir unsere globalen Probleme besser miteinander lösen können“. Die Zukünftigen lässt er rufen: „Stellt euch den Herausforderungen und Schwierigkeiten, entwickelt positive Wirkung. Baut auf das, was euch Kraft gibt und im besten Sinne wirkmächtig macht – auf eure Lebendigkeit, Kreativität, Freude und Liebe, eure Lust, Begeisterung, Intelligenz und Empathie.“

Nicht nur lesenswert, sondern auch lesbar

Rohrs Buch ist eine „Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“ – so der Untertitel. Das kann nicht anders als komplex und auf hohem theoretischen Niveau angegangen werden. Und doch gelingt es dem Autor, sich dem großen Thema klar, übersichtlich und auch sehr persönlich und menschlich zu nähern. Mit anderen Worten: Man muss nicht Sozialwissenschaften studiert haben, um es lesen zu können. Dazu trägt bei, dass Jascha Rohr sowohl induktiv wie deduktiv arbeitet; d. h. manchmal begibt er sich von einem praktischen Beispiel ausgehend auf die Metaebene, manchmal startet er gedanklich auf der Metaebene und belegt seine Gedanken durch ein Beispiel. Selbst die Grafiken sind dank ihrer Skizzenhaftigkeit besser nachvollziehbar und einprägsamer, als dies „perfekte“, theoriebezogene Grafiken normalerweise sind. Und noch eines macht sein Buch lesenswert: Es ist getragen von dem unbedingten Willen, Positives in die Welt zu bringen – ohne die Augen vor den drängenden Problemen zu verschließen.

Methoden zur Neuerfindung der planetaren Zivilisation

Entscheidend für Jascha Rohr: Es geht nicht um fertige inhaltliche Lösungen, sondern um die „Beschreibung des Wie …, also eines Prozesses. Dieser Prozess hat im Grunde längst schon begonnen … Es ist ein Prozess, in dem wir miteinander lernen, unsere Probleme ganz anders zu lösen, als wir es bisher versuchen … Das Ziel ist nichts Geringeres als die Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation.“ Ein hoher Anspruch.

Die zentrale Methode für dieses „Global Resonance Project“ nennt er „Resonanzarbeit“. Und das ähnelt keiner bekannten Methode, ganz im Gegenteil: „Resonanzarbeit folgt keiner festen Strategie, sondern ist mäandernd, verknüpfend, assoziativ. Sie stellt vielfältige Verbindungen und Beziehungen her, um Kreativität, Ideen und Innovationen anzuregen. Im Idealfall entsteht daraus am Ende ein kokreativer Entwurf.“ Der Prozess ist „entwurfsorientiert. Er ist ein Angebot zum Selbstdenken, zum Entwickeln und Mitgestalten … [Das Buch] bietet die Möglichkeit der Auseinandersetzung in einem Feld – in diesem Fall ist das die planetare Zivilisation –, damit dann aus dem eigenen Impuls heraus und mit den eigenen Potenzialen und Möglichkeiten transformatorische Projekte entwickelt und in die Umsetzung gebracht werden können, sodass am Ende eine reale Veränderung in der Welt entsteht“.

Aus einem alten Hut wird kein neuer

Jascha Rohr geht es um zwei Fragen:

„Wie kann es sein, dass wir als Spezies unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören?“
Und: „Was kann Kokreation dazu beitragen, dass sich diese Dynamik zum Positiven wendet?“

Der Leser kann, wenn er möchte, mitverfolgen und dabei erlernen, wie sich Methoden in kokreativen Prozessen kontextspezifisch aus dem Prozess entwickeln und ist eingeladen, „in der eigenen Praxis mit diesen Ansätzen zu experimentieren“. Personen, die an eigenen Prozessen und Projekten arbeiten, empfiehlt Jascha Rohr, das Buch mit dem eigenen Projektteam zu lesen.

Klar: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Um diesem Fehler nicht zu erliegen, kommt die Kokreation ins Spiel, ein Wort, das der „Kooperation“ oder „Kollaboration“ ähnelt, sich aber deutlich davon unterscheidet. So bezieht sich das „Ko“ in Kokreation nicht nur auf Mitmenschen, sondern auf die gesamte Mitwelt, also auf alle Mitgeschöpfe, auch: Mitdinge. Es geht darum, Mittel und Wege zu finden, „mit der gesamten Welt gemeinsam zu gestalten, statt die gesamte Welt als Menschen zu gestalten“. Das klingt in der Tat nicht mehr nach einem „Werkzeug der alten Zivilisation“. Der Wortteil „kreation“ in Kokreation bezieht sich auf Kreativität als Grundlage von Emergenz in Kunst und Kultur, wozu unbedingt auch Architektur, Philosophie, Ingenieurskunst und Wissenschaft gehören. Anders als in der alten Zivilisation lässt sich in einem kokreativen Entwurfsprozess „meist gar kein klares Ergebnis definieren, sondern eher einen Ergebnistyp“. Auf der Suche nach neuen Lösungsansätzen werden „die Themen, Akteure und Kontexte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt“.

Das ontologische Grundproblem angehen

Der Vater aller Probleme ist der Subjekt-Objekt-Dualismus, den Jascha Rohr als „ontologisches Grundproblem der ökologischen Krise“ identifiziert. Um sich von ihm zu lösen, sind die entscheidenden begrifflichen Werkzeuge:

Das Feld: „die räumliche Konstellation von miteinander interagierenden Partizipateuren und ihre Wirkungen aufeinander“ (auch: „die Wirkungen und Kräfte, die sich zwischen den Elementen aufspannen“). Anders als „Systeme“ sind Felder nicht durchschaubar und nicht steuerbar.

Der Prozess: „die sich zeitlich entfaltende Dynamik eines Feldes“, bestehend „aus allen diesen Prozess prägenden Partizipateuren, deren Wirkungen und Interaktionen sowie der fortschreitenden generativen Entwicklung, die daraus resultiert“. Besonders wichtig und auch schon in kleinem Rahmen anwendbar und aufs Größere übertragbar: „Prozesse sind fraktal und verschachtelt.“ Zur Erklärung des damit Gemeinten: „Unser Leben ist ein Prozess, aber unsere Ausbildung, Beziehungsphasen und die Phasen, in denen wir einer bestimmten Profession nachgehen, sind ebenfalls Prozesse.“

Indem Rohr die Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ abschafft und durch „Partizipateur“ ersetzt, schafft er die gedankliche Voraussetzung für einen tatsächlich ontologischen Paradigmenwechsel: „Alle Dinge der Welt sind Dinge der Welt, weil sie an der Welt teilhaben.“ Folgerichtig können auch „eine Geschichte, eine Kaffeetasse, eine Blume und die Gravitation“ Partizipateure sein: „Alles in der Welt ist Partizipateur, wenn es wirkt und teilhat. Was nicht wirkt und an nichts teilhat, existiert nicht.“

Zusammenfassend: „Ein Feld ist ein Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein Prozess ist ein Feld in seiner dynamischen Entfaltung.“ Die große Aufgabe, die Zukunft zu gestalten, kann folglich kein „funktionales Gestalten“ sein – das wäre das Übliche –, sondern „ein generatives, wechselseitiges, fluides Interagieren mit den Prozessen, die uns gestalten, während wir gestalten“. Erst wenn wir „die Dinge in ihrer jeweiligen intrinsischen Eigenart als Gegenüber anerkennen“, wird tatsächlich ein Ausweg aus dem Subjekt-Objekt-Dualismus vorstellbar hin zu einer ökologischen, kokreativen Demokratie.

Die dazu fähige und dafür notwendige Kulturtechnik ist die Kokreation. „Sie ist das Wie: Wie gestalten wir gemeinsam. Das Was ergibt sich dann daraus … das wird synchron passieren: Wir werden diese erst in den Anfängen sichtbare Kulturtechnik entdecken, entwickeln, erfinden, erlernen und trainieren müssen, während wir beginnen, sie anzuwenden und erste Ergebnisse zu produzieren.“

Und das ist dabei die Herausforderung: „Da rollt die phantastischste Wahnsinnswelle auf uns zu, die wir je haben reiten können. Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich, aber der Ritt, den wir nehmen könnten, kann der beste unseres Lebens werden.“ Sich dem zu stellen, ist eine gewaltige und riskante Aufgabe mit ungewissem Ausgang. Das schätzt auch Jascha Rohr so ein und gesteht: „Dieses Buch ist ein Wagnis und der Versuch, eine visionäre Geschichte zu erzählen.“ Ihm zuzuhören, ist fesselnd und lädt ein, dabei zu sein beim „planetaren Fest der Gestaltung“.

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Interview mit Jascha Rohr

Internetseite zum Buch

Eine Rezension von „Schöner grüner Schein“

Von Bobby Langer

„Was auch immer Sie lieben, es ist bedroht. Aber lieben ist ein Tätigkeitswort. Möge diese Liebe uns ins Handeln bringen.“

Es gibt so etwas wie das „fröhliche gute Gewissen der Grünen“. Gemeint sind damit nicht nur die Parteimitglieder, sondern alle, die auf diesem Segelschiff der Illusionen mitschwimmen. Im Schiffsbauch befindet sich die Vorstellung eines Green New Deal, mit dem wir die westliche Industriegesellschaft ohne sonderliche Abstriche retten und weiterbetreiben können.

Die Autoren von „Schöner grüner Schein“, Derrick Jensen, Lierre Keith und Max Wilbert, bezeichnen die Segelmeister und Passagiere dieses Segelschiffs als die „Hellgrünen“.  Mit ihrem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch tun sie alles, um Bewegung in die Wogen zu bringen und dieses ruhige Gewissen aufzuscheuchen. Kapitel für Kapitel belegen sie, dass eine „grüne“ Industriegesellschaft nur um den Preis weiterer und unaufhaltsamer Umweltzerstörungen möglich ist. „Hellgrüne Lösungen sind nur dazu da, den lebenden Planeten wieder und immer weiter zu zerstören.“

So sei also an den Anfang dieser Besprechung einerseits eine Warnung gestellt, andererseits ein Versprechen. Eine Warnung, weil die Lektüre der 463 Textseiten einem die „grüne Unschuld“ nimmt und der „deflorierte Leser“ danach ernüchtert seine Positionen überdenken muss; ein Versprechen hingegen für all jene, die schon immer das „Weiter so“ unter grüner Flagge mit Bauchgrimmen wahrgenommen haben. Hier bekommen sie endlich das inhaltliche, argumentative Rüstzeug für die nächste Debatte. Denn wenn in diesem Buch etwas nicht fehlt, dann sind das die Fakten: Fakten zur Solar- und Windindustrie, Fakten zur grünen Energiespeicherung, Fakten zu Recycling und Effizienz, zur grünen Stadt, zum grünen Netz und zur Wasserkraft sowie diversen Scheinlösungen wie Geothermie oder Kohlenstoffabscheidung.

Das Spektrum des Umweltschutzes [aus Sicht der Autoren]

Tiefgrün

Sowohl der lebende Planet als auch die nichtmenschlichen Lebewesen haben das Recht zu existieren. Das menschliche Wohlergehen hängt von einer gesunden Ökologie ab. Um den Planeten zu retten, müssen die Menschen innerhalb der Grenzen der natürlichen Welt leben.

Lifestylisten

Der Mensch ist von der Natur abhängig, und die Technologie wird die Umweltprobleme wahrscheinlich nicht lösen, aber politisches Engagement ist entweder unmöglich oder unnötig. Das Beste, was wir tun können, ist, uns in Eigenverantwortung zu üben … Der Rückzug wird die Welt verändern.

Hellgrüne

Es gibt ernsthafte Umweltprobleme, aber grüne Technologie und grünes Design sowie ethisches Konsumverhalten werden es möglich machen, den modernen, energieintensiven Lebensstil auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.

Vernünftige Nutzer

Es gibt zwar ökologische Probleme, aber die meisten davon sind nicht so schlimm und können durch ein angemessenes Management gelöst werden.

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Alles, worum Derrick Jensen bittet, ist „ehrlich mit uns selbst zu sein“. Was er damit meint, zeigt er am Beispiel einer „unschuldigen“ Brille: „Sie besteht aus Plastik, für das Öl und Transportinfrastrukturen benötigt werden, und aus Metall, für das Bergbau, Öl und Transportinfrastrukturen erforderlich sind … und die moderne Glasherstellung erfordert Energie und Transportinfrastruktur. Die Minen, aus denen die Materialien für meine Lesebrille kommen, müssen irgendwo liegen, und die Energie für die Herstellung muss auch irgendwoher kommen.“ Es gibt nun mal kein Abrakadabra-Simsalabim für irgendein Industrieprodukt, auch wenn es uns so vorgespiegelt wird. Wir meinen, wir bräuchten nur das nötige Kleingeld zu haben, und schon „zaubern“ wir uns, ohne Umweltkosten, unseren Komfort herbei – eine kindliche Vorstellung.

Ein kleiner Wermutstropfen angesichts der vielen Fakten ist ihr relatives Alter. Der US-Titel „Bright Green Lies: How the Environmental Movement Lost Its Way and What We Can Do About It” erschien 2021. Die im Buch genannten Zahlen sind also wenigstens fünf Jahre alt. Andersherum wissen wir: So gut wie nichts hat sich seither zum Besseren gewendet.

Wie gut, dass das Autorenteam einen nicht im Regen stehen lässt. Auf rund 40 Seiten befasst es sich mit „wirklichen Lösungen“, an denen – zumindest dieser Logik nach – kein Weg vorbeigeht. Letzten Endes gehe es um alles oder nichts. Zu einer zukunftsfähigen Lösung, so die Autoren, werden wir erst kommen, wenn wir bereit sind, „eine Lawine von Wehmut auszuhalten … Aber wenn man diesen Planeten liebt, muss man es tun“. Was anstehe, sei eine Reindigenisierung der westlichen Lebensweise. „Wir müssen erkennen, dass, da die Erde die Quelle allen Lebens ist, die Gesundheit der Erde bei unseren Entscheidungsprozessen an erster Stelle stehen muss … Wenn wir unsere Werte ändern, werden bisher unlösbare Probleme lösbar.“ Wir müssen aufhören, uns die falschen Fragen zu stellen.  „‚Wie können wir weiterhin industrielle Energiemengen gewinnen, ohne Schaden anzurichten?‘, ist die falsche Frage. Die richtige Frage lautet: ‚Was können wir tun, um der Erde zu helfen, die durch diese Kultur verursachten Schäden zu reparieren?‘“

Zurück zum Einstieg: Dieses Buch ist schwer verdauliche Kost, nicht weil es schwer zu lesen wäre, sondern weil es seinen Leserinnen und Lesern von Kapitel zu Kapitel mehr den Staub der Illusionen aus dem Zivilisationsmäntelchen klopft. „Schöner grüner Schein“, schreibt Vandana Shiva, sei „ein dringend notwendiger Weckruf, wenn wir verhindern wollen, dass wir schlafwandelnd aussterben – und damit den 200 unserer Mitgeschöpfe und Verwandten folgen, die täglich von einer extravistischen, kolonisierenden Geldmaschine in den Tod getrieben werden, die von grenzenloser Gier geschmiert und vom mechanistischen Geist des Industrialismus geleitet wird.“

Schöner grüner Schein. Warum »grüne« Technologien derselbe Irrweg in Grün sind. Von Derrick Jensen, Lierre Keith und Max Wilbert, Verlag Neue Erde, 517 S., 36 Euro, ISBN 978-3-89060-838-9

In diesen jeweils ca. 15 Minuten dauernden Gesprächen unterhalten sich Thomas Hann und Bobby Langer über die Möglichkeiten unserer Zeit, zum Beispiel darüber, ob es so etwas wie deutsche Tugenden gibt, ob es im Gegensatz zum zwölfjährigen “1000jährigen Reich” ein tatsächliches “1000-jähriges Reich der Menschheit” geben könnte oder über eine resiliente Gesellschaft und die entsprechenden Perspektiven daraus. Hier beginnt die Playlist:

Von Charles Eisenstein

[Dieser Artikel ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreiten und vervielfältigen werden.]

Jemand schickte mir am 19. Januar [2021] ein Video, in dem der Gastgeber, unter Berufung auf eine geheime Quelle aus der „White Hat Power“-Fraktion, sagte, dass endgültige Pläne im Gang sind, um den kriminellen Tiefen Staat ein für alle Mal zu stürzen. Die Amtseinführung von Joe Biden werde nicht stattfinden. Die Lügen und Verbrechen der satanischen Menschenhandels-Elite würden offenbar werden. Die Gerechtigkeit werde sich durchsetzen, die Republik wiederhergestellt werden. Vielleicht, sagte er, werde der Tiefe Staat einen letzten verzweifelten Versuch machen, an der Macht zu bleiben, indem er eine gefälschte Einweihung inszeniert, mit Deep-Fake-Videoeffekten, um es so aussehen zu lassen, als würde Chief Justice John Roberts wirklich Joe Biden vereidigen. Lassen Sie sich nicht täuschen, sagte er. Vertrauen Sie dem Plan. Donald Trump wird weiterhin der eigentliche Präsident bleiben, auch wenn die gesamten Mainstream-Medien etwas anderes sagen.

Die Demokratie ist am Ende

Es ist kaum die Zeit wert, das Video an sich zu kritisieren, da es ein unspektakuläres Beispiel für sein Genre ist. Ich schlage nicht vor, dass Sie es sich ansehen. Was ernst genommen werden muss und alarmierend ist, ist Folgendes: Die Zersplitterung der Wissensgemeinschaft in unzusammenhängende Realitäten ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass eine große Anzahl von Menschen bis heute glaubt, Donald Trump sei insgeheim Präsident, während Joe Biden ein als Weißes Haus getarntes Hollywood-Studio bewohnt. Dies ist eine abgeschwächte Version des viel weiter verbreiteten Glaubens (Dutzende von Millionen Menschen), dass die Wahl gestohlen wurde.

In einer funktionierenden Demokratie könnten die beiden Seiten die Frage, ob die Wahl gestohlen wurde, durch Beweise aus für beide Seiten akzeptablen Informationsquellen diskutieren. Heute gibt es keine solche Quelle. Der größte Teil der Medien hat sich in separate und sich gegenseitig ausschließende Ökosysteme aufgespalten, die jeweils die Domäne einer politischen Fraktion sind, was eine Debatte unmöglich macht. Alles, was übrigbleibt, ist, wie Sie vielleicht schon erlebt haben, ein Schrei-Duell. Ohne Debatte muss man zu anderen Mitteln greifen, um in der Politik den Sieg zu erringen: Gewalt statt Überzeugung.

Dies ist ein Grund, warum ich denke, dass die Demokratie am Ende ist. (Ob wir sie jemals hatten, oder wie viel davon, ist eine andere Frage.)

Sieg ist inzwischen wichtiger als Demokratie

Angenommen, ich wollte einen rechtsextremen, Trump-unterstützenden Leser davon überzeugen, dass die Behauptungen über Wahlbetrug unbegründet sind. Ich könnte Berichte und Faktenchecks auf CNN oder der New York Times oder Wikipedia zitieren, aber nichts davon ist für diese Person glaubwürdig, die mit einiger Berechtigung annimmt, dass diese Publikationen gegenüber Trump voreingenommen sind. Das Gleiche gilt, wenn Sie ein Biden-Anhänger sind und ich versuche, Sie von massivem Wahlbetrug zu überzeugen. Beweise dafür finden sich nur in rechten Publikationen, die Sie sofort als unzuverlässig abtun werden.

Lassen Sie mich dem aufgebrachten Leser etwas Zeit ersparen und Ihre vernichtende Kritik des Obigen für Sie formulieren. „Charles, Sie stellen hier eine falsche Gleichsetzung auf, die schockierend ignorant gegenüber bestimmten unbestreitbaren Fakten ist. Fakt eins! Fakt zwei! Fakt drei! Hier sind die Links. Sie erweisen der Öffentlichkeit einen Bärendienst, wenn Sie auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die andere Seite es wert ist, gehört zu werden.“

Wenn auch nur eine Seite das glaubt, sind wir nicht mehr in einer Demokratie. Mir geht es hier nicht darum, beide Seiten gleich zu behandeln. Mein Punkt ist, dass keine Gespräche stattfinden oder stattfinden können. Wir sind nicht mehr in einer Demokratie. Demokratie hängt von einem gewissen Maß an bürgerlichem Vertrauen ab, von der Bereitschaft, über die Verteilung der Macht durch friedliche, faire Wahlen zu entscheiden, die von einer objektiven Presse begleitet werden. Sie erfordert die Bereitschaft, sich auf Gespräche oder zumindest Debatten einzulassen. Sie erfordert, dass eine wesentliche Mehrheit etwas – die Demokratie selbst – für wichtiger hält als den Sieg. Andernfalls befinden wir uns entweder in einem Zustand des Bürgerkriegs oder, wenn eine Seite dominant ist, in einem Zustand des Autoritarismus und der Rebellion.

So wird die Linke zur Rechten

An diesem Punkt ist es klar, welche Seite die Oberhand hat. Es liegt eine Art poetische Gerechtigkeit darin, dass der rechte Flügel – der die Informationstechnologie der Volksverhetzung und der narrativen Kriegsführung überhaupt erst perfektioniert hat – nun ihr Opfer ist. Konservative Experten und Plattformen werden schnell aus den sozialen Medien, aus den App-Stores und sogar ganz aus dem Internet verdrängt. Wenn ich das in der heutigen Umgebung überhaupt sage, erregt es den Verdacht, dass ich selbst ein Konservativer bin. Ich bin genau das Gegenteil. Aber wie eine Minderheit von linken Journalisten wie Matt Taibbi und Glenn Greenwald bin ich entsetzt über die Löschung, den Ausschluss von sozialen Netzwerken, Zensur und Dämonisierung der Rechten (einschließlich 75 Millionen Trump-Wähler) – etwas, das man nur als Totalen Informationskrieg bezeichnen kann. Im Totalen Informationskrieg (wie in militärischen Konflikten) ist es eine wichtige Taktik, seine Gegner so schlecht wie möglich aussehen zu lassen. Wie können wir eine Demokratie haben, wenn wir von den Medien, auf die wir uns verlassen, um uns zu sagen, was real ist, was „Nachrichten“ sind, und was die Welt ist, dazu aufgehetzt werden, uns gegenseitig zu hassen?

Es sieht heute so aus, als würde die Linke die Rechte in ihrem eigenen Spiel schlagen: dem Spiel der Zensur, des Autoritarismus und der Unterdrückung von Dissens. Aber bevor Sie die Vertreibung der Rechten aus den sozialen Medien und dem öffentlichen Diskurs feiern, verstehen Sie bitte das unvermeidliche Ergebnis: Die Linke wird zur Rechten. Dies ist bereits seit Langem im Gange, wie die überwältigende Präsenz von Neocons, Wall-Street-Insidern und Unternehmensvertretern in der Biden-Administration beweist. Der parteiische Informationskrieg, der als Links-Rechts-Konflikt begann, mit Fox auf der einen Seite und CNN und MSNBC auf der anderen, wandelt sich rasch in einen Kampf zwischen dem Establishment und seinen Herausforderern.

Erzwungene Illegitimität

Wenn Big Tech, Big Pharma und Wall Street auf der gleichen Seite sind wie das Militär, die Geheimdienste und die Mehrheit der Regierungsbeamten, wird es nicht lange dauern, bis diejenigen zensiert sind, die ihre Agenda stören.

Glenn Greenwald bringt es gut auf den Punkt:

 Es gibt Zeiten, in denen sich Repressions- und Zensurmaßnahmen eher gegen die Linke richten, und Zeiten, in denen sie eher gegen die Rechte gerichtet sind, aber es ist weder eine inhärent linke noch eine rechte Taktik. Es ist eine Taktik der herrschenden Klasse, und sie wird gegen jeden eingesetzt, der als Abweichler von den Interessen und Orthodoxien der herrschenden Klasse wahrgenommen wird, ganz gleich, wo auf dem ideologischen Spektrum er sich befindet.

Für das Protokoll: Ich glaube nicht, dass Donald Trump noch Präsident ist, noch glaube ich, dass es massiven Wahlbetrug gegeben hat. Allerdings denke ich auch, dass, wenn es ihn gegeben hätte, wir keine Garantie hätten, das herauszufinden, weil genau die Mechanismen zur Unterdrückung von Wahlbetrugs-Fehlinformationen auch zur Unterdrückung dieser Informationen verwendet werden könnten, falls sie wahr wären. Wenn Konzern-Regierungs-Mächte die Presse und unsere Mittel der Kommunikation (das Internet) gekapert haben, was soll sie davon abhalten, Dissens zu unterdrücken?

Als Autor, der in den letzten zwanzig Jahren gegenkulturelle Ansichten zu vielen Themen vertreten hat, stehe ich vor einem Dilemma. Die Beweise, auf die ich mich berufen kann, um meine Ansichten zu untermauern, verschwinden aus den Wissensbeständen. Die Quellen, die ich verwenden könnte, um dominante Narrative zu untergraben, sind illegitim, weil gerade sie dominante Narrative untergraben. Die Wächter des Internets erzwingen diese Illegitimität durch eine Vielzahl von Mitteln: algorithmische Unterdrückung, tendenziöses automatisches Ausfüllen von Suchbegriffen, Dämonisierung abweichender Kanäle, Kennzeichnung abweichender Ansichten als „falsch“, Löschung von Accounts, Zensur von Bürgerjournalisten und so weiter.

Der Kultcharakter des Mainstreams

Die daraus resultierende Erkenntnisblase belässt den Durchschnittsbürger genauso in der Realitätsferne wie jemanden, der glaubt, Trump sei noch Präsident. Der kultähnliche Charakter von QAnon und der extremen Rechten ist klar erkennbar. Was weniger offensichtlich ist (vor allem für diejenigen, die sich darin befinden), ist der zunehmend kultähnliche Charakter des Mainstreams. Wie können wir es anders nennen als eine Sekte, wenn sie Informationen kontrolliert, abweichende Meinungen bestraft, ihre Mitglieder ausspioniert und ihre physischen Bewegungen kontrolliert, es an Transparenz und Verantwortlichkeit in der Führung mangelt, sie vorschreibt, was ihre Mitglieder sagen, denken und fühlen sollen, sie ermutigt, sich gegenseitig zu denunzieren und auszuspionieren, und eine polarisierte Wir-gegen-die-Mentalität aufrechterhält? Ich sage sicherlich nicht, dass alles, was die Mainstream-Medien, die Wissenschaft und die Akademiker sagen, falsch ist. Wenn jedoch mächtige Interessen Informationen kontrollieren, können sie die Realität ausblenden und die Öffentlichkeit dazu bringen, Absurditäten zu glauben.

Vielleicht geschieht das mit der Kultur im Allgemeinen. „Kultur“ kommt von der gleichen sprachlichen Wurzel wie „Kult“. Sie erzeugt eine gemeinsame Realität, indem sie die Wahrnehmung konditioniert, den Gedanken strukturiert und die Kreativität lenkt. Was heute anders ist, ist, dass etablierte Kräfte verzweifelt versuchen, eine Realität aufrechtzuerhalten, die nicht mehr zum Bewusstsein einer Öffentlichkeit passt, die sich schnell aus dem Zeitalter der Trennung herausbewegt. Die Verbreitung von Sekten und Verschwörungstheorien spiegelt die zunehmend aus den Angeln gehobene Absurdität der offiziellen Realität sowie der Lügen und Propaganda wider, die sie aufrechterhalten.

Anders ausgedrückt: Der Wahnsinn, der die Trump-Präsidentschaft war, war keine Abweichung von einer Entwicklung hin zu immer größerer Vernunft. Sie war kein Stolpern auf dem Weg von mittelalterlichem Aberglauben und Barbarei hin zu einer rationalen, wissenschaftlichen Gesellschaft. Sie bezog ihre Kraft aus einer zunehmenden kulturellen Turbulenz, so wie ein Fluss immer heftigere Gegenströmungen erzeugt, wenn er sich seinem Sturz über den Wasserfall nähert.

Diskreditierende Belege einer anderen Realität

In letzter Zeit hatte ich als Autor das Gefühl, dass ich versuche, einen Verrückten von seinem Wahnsinn abzubringen. Wenn Sie jemals versucht haben, mit einem QAnon-Anhänger zu argumentieren, wissen Sie, wovon ich spreche, wenn ich versuche, mit dem öffentlichen Verstand zu argumentieren. Ich will mich nicht als das einzige vernünftige Individuum in einer verrückt gewordenen Welt darstellen (und damit meine eigene Verrücktheit demonstrieren), sondern vielmehr ein Gefühl ansprechen, das sicher viele Leser teilen: dass die Welt verrückt geworden ist. Dass unsere Gesellschaft in die Unwirklichkeit abgedriftet ist, sich in einer Illusion verloren hat. So sehr wir auch hoffen, den Wahnsinn einer kleinen und beklagenswerten Untergruppe der Gesellschaft zuschreiben zu können, handelt es sich doch um einen allgemeinen Zustand.

Als Gesellschaft sind wir aufgefordert, das Inakzeptable zu akzeptieren: die Kriege, die Gefängnisse, die gezielt herbeigeführte Hungersnot im Jemen, die Vertreibungen, die Landnahmen, die häuslichen Misshandlungen, die rassistische Gewalt, die Kindesmisshandlungen, die Abzocke, die Zwangsfleischfabriken, die Bodenzerstörung, den Ökozid, die Enthauptungen, die Folter, die Vergewaltigungen, die extreme Ungleichheit, die Verfolgung von Whistleblowern… Auf irgendeiner Ebene ist uns allen bewusst, dass es verrückt ist, mit dem Leben fortzufahren, als ob all dies nicht geschehen würde. Zu leben, als ob die Realität nicht real wäre – das ist die Essenz des Wahnsinns.

Ebenfalls an den Rand der offiziellen Realität gedrängt ist ein Großteil der wunderbaren heilenden und schöpferischen Kraft von Menschen und anderen als menschlichen Wesen. Ironischerweise, wenn ich einige Beispiele dieser außergewöhnlichen Technologien erwähne, zum Beispiel in den Bereichen Medizin, Landwirtschaft oder Energie, handle ich mir den Vorwurf ein, „unrealistisch“ zu sein. Ich frage mich, ob der Leser, wie ich, direkte Erfahrungen mit Phänomenen hat, die offiziell nicht real sind?

Ich bin sehr versucht zu behaupten, dass die moderne Gesellschaft auf eine enge Unwirklichkeit beschränkt ist, aber genau das ist das Problem. Alle Beispiele, die ich von jenseits akzeptabler politischer, medizinischer, wissenschaftlicher oder psychologischer (Un-)Realität anführe, diskreditieren automatisch mein Argument und machen mich für jeden, der mir nicht ohnehin zustimmt, zu einer verdächtigen Figur.

Informationskontrolle erzeugt Verschwörungstheorien

Lassen Sie uns ein kleines Experiment machen. Hey, Leute, Geräte mit freier Energie sind echt, ich habe eins gesehen!

Also, vertrauen Sie mir nach dieser Aussage eher mehr oder weniger? Jeder, der die offizielle Realität in Frage stellt, hat dieses Problem. Schauen Sie, was mit Journalisten passiert, die darauf hinweisen, dass Amerika all die Dinge tut, die es Russland und China vorwirft (Einmischung in Wahlen, Sabotage von Stromnetzen, Bau von elektronischen Hintertüren [zum geheimdienstlichen Abhören]). Sie werden nicht oft auf MSNBC oder der New York Times zu finden sein. Die von Herman und Chomsky beschriebene Fabrikation von Zustimmung („manufacture of consent“) geht weit über die Zustimmung zum Krieg hinaus.

Indem die herrschenden Institutionen Informationen kontrollieren, erzeugen sie eine passive öffentliche Zustimmung zu der Wahrnehmungs-Realitäts-Matrix, die ihre Dominanz aufrechterhält. Je erfolgreicher sie bei der Kontrolle der Realität sind, desto unwirklicher wird sie, bis wir das Extrem erreichen, bei dem jeder vorgibt zu glauben, aber niemand es wirklich tut. Wir sind noch nicht so weit, aber wir nähern uns diesem Punkt schnell. Wir sind noch nicht auf dem Stand des späten sowjetischen Russland, als praktisch niemand die Prawda und die Iswestija für bare Münze nahm. Die Irrealität der offiziellen Realität ist noch nicht so vollständig, ebenso wenig wie die Zensur der inoffiziellen Realitäten. Wir befinden uns immer noch in der Phase der verdrängten Entfremdung, in der viele das vage Gefühl haben, in einer VR-Matrix, einer Show, einer Pantomime zu leben.

Was verdrängt wird, neigt dazu, in extremer und verzerrter Form zum Vorschein zu kommen; zum Beispiel Verschwörungstheorien, dass die Erde flach ist, dass die Erde hohl ist, dass sich chinesische Truppen an der US-Grenze sammeln, dass die Welt von babyfressenden Satanisten regiert wird und so weiter. Solche Überzeugungen sind Symptome dafür, dass man die Menschen in eine Matrix von Lügen einsperrt und ihnen vorgaukelt, sie sei real.

Umso strenger die Behörden Informationen kontrollieren, um die offizielle Realität zu bewahren, desto virulenter und verbreiteter werden die Verschwörungstheorien. Schon jetzt schrumpft der Kanon der „autoritären Quellen“ bis zu dem Punkt, an dem Kritiker der US-Außenpolitik, israelische/palästinensische Friedensaktivisten, Impfstoffskeptiker, ganzheitliche Gesundheitsforscher und gewöhnliche Dissidenten wie ich Gefahr laufen, in die gleichen Internet-Ghettos verbannt zu werden wie die Vollblut-Verschwörungstheoretiker. In der Tat tafeln wir zu einem großen Teil am selben Tisch. Welche andere Wahl gibt es, wenn der Mainstream-Journalismus seiner Pflicht, die Macht energisch herauszufordern, nicht nachkommt, als auf Bürgerjournalisten, unabhängige Forscher und anekdotische Quellen zurückzugreifen, um der Welt einen Sinn zu geben?

Suche nach einem kraftvolleren Weg

Ich merke, dass ich übertreibe, dass ich den Sachverhalt überzeichne, um den Grund für meine jüngsten Gefühle von Vergeblichkeit herauszukitzeln. Die uns zum Konsum angebotene Realität ist keineswegs in sich konsistent oder vollständig; ihre Lücken und Widersprüche können ausgenutzt werden, um Menschen dazu einzuladen, ihre Vernünftigkeit in Frage zu stellen. Es geht mir nicht darum, meine Hilflosigkeit zu beklagen, sondern zu erkunden, ob es für mich einen kraftvolleren Weg gibt, das öffentliche Gespräch angesichts der von mir beschriebenen Umnachtung zu führen.

Ich schreibe seit fast 20 Jahren über die bestimmende Mythologie der Zivilisation, die ich das Narrativ des Getrenntseins nenne, und ihre Folgen: das Programm der Kontrolle, die Denkweise des Reduktionismus, den Krieg gegen das Andere, die Polarisierung der Gesellschaft.

Offensichtlich haben meine Essays und Bücher den Anspruch meines naiven Ehrgeizes nicht eingelöst, genau die Umstände zu verhüten, denen wir heute gegenüberstehen. Ich muss gestehen, dass ich müde bin. Ich bin es leid, Phänomene wie den Brexit, die Trump-Wahl, QAnon und den Capitol-Aufstand als Symptome einer viel tieferen Krankheit zu erklären, als es bloßer Rassismus oder Kultismus oder Dummheit oder Wahnsinn ist.

LeserInnen können mit jüngsten Essays extrapolieren

Ich weiß, wie ich diesen Aufsatz schreiben würde: Ich würde die versteckten Annahmen, die verschiedene Seiten teilen, aufdecken und die Fragen, die nur wenige stellen. Ich würde darlegen, wie die Werkzeuge des Friedens und des Mitgefühls die zugrunde liegenden Ursachen der Affäre aufdecken könnten. Ich würde dem Vorwurf der falschen Gleichwertigkeit, des Both-Sideism und des Spirituellen Bypassings zuvorkommen, indem ich beschreibe, wie Mitgefühl uns befähigt, über den endlosen Krieg gegen das Symptom hinauszugehen und die Ursachen zu bekämpfen. Ich würde beschreiben, wie der Krieg gegen das Böse zu der gegenwärtigen Situation geführt hat, wie das Programm der Kontrolle immer virulentere Formen dessen erzeugt, was es auszurotten versucht, weil es nicht die ganze Reihe von Bedingungen sehen kann, die seine Feinde hervorbringen. Diese Bedingungen, so würde ich erklären, beinhalten in ihrem Kern eine tiefgreifende Enteignung, die aus dem Zusammenbruch von definierenden Mythen und Systemen herrührt. Schließlich würde ich beschreiben, wie eine andere Mythologie der Ganzheit, der Ökologie und des Zusammenseins eine neue Politik motivieren könnte.

Fünf Jahre lang habe ich für Frieden und Mitgefühl plädiert – nicht als moralische Gebote, sondern als praktische Notwendigkeiten. Ich habe wenig Neues über die gegenwärtigen internen Auseinandersetzungen in meinem Land [USA] zu sagen. Ich könnte die grundlegenden konzeptionellen Werkzeuge meiner früheren Arbeit nehmen und sie auf die gegenwärtige Situation anwenden, aber stattdessen mache ich eine Atempause, um zu hören, was unter der Erschöpfung und dem Gefühl der Vergeblichkeit liegen könnte. LeserInnen, die von mir einen detaillierteren Blick auf die aktuelle Politik wünschen, können aus den jüngsten Essays über Frieden, Kriegsmentalität, Polarisierung, Mitgefühl und Entmenschlichung extrapolieren. Es ist alles da in Building a Peace Narrative, The Election: Hate, Grief, and a New Story, QAnon: A Dark Mirror, Making the Universe Great Again, The Polarization Trap und anderem.

Wende zu einer tiefen Auseinandersetzung mit der Realität

Also, ich nehme eine Auszeit vom Schreiben erklärender Prosa oder zumindest eine Verlangsamung. Das heißt nicht, dass ich aufgebe und in den Ruhestand gehe. Ganz im Gegenteil. Indem ich auf meinen Körper und seine Gefühle höre, bereite ich mich nach tiefer Meditation, Beratung und medizinischer Arbeit darauf vor, etwas zu tun, was ich bisher noch nicht versucht habe.

In „Der Verschwörungsmythos“ habe ich die Idee erforscht, dass die Kontrolleure der „Neuen Weltordnung“ keine bewusste Gruppe von menschlichen Übeltätern sind, sondern Ideologien, Mythen und Systeme, die ein Eigenleben entwickelt haben. Es sind diese Wesen, die die Marionettenfäden derer ziehen, von denen wir normalerweise glauben, dass sie die Macht haben. Hinter dem Hass und der Spaltung, hinter dem unternehmerischen Totalitarismus und dem Informationskrieg, der Zensur und dem permanenten Biosicherheitsstaat sind mächtige mythische und archetypische Wesen im Spiel. Sie können nicht direkt wörtlich angegangen werden, sondern nur in ihrer eigenen Sphäre.

Ich beabsichtige, das durch eine Geschichte zu tun, wahrscheinlich in Form eines Drehbuchs, aber möglicherweise auch mit einem anderen Medium der Fiktion. Einige der Szenen, die mir eingefallen sind, sind atemberaubend. Mein Bestreben ist ein Werk, das so schön ist, dass die Leute weinen, wenn es vorbei ist, weil sie nicht wollen, dass es aufhört. Keine Flucht vor der Realität, sondern eine Wende hin zu einer tieferen Auseinandersetzung mit ihr. Denn das, was real und möglich ist, ist viel größer, als der Kult der Normalität uns glauben machen will.

Ein Ausweg aus der kulturellen Sackgasse

Ich gebe freimütig zu, dass ich wenig Grund habe zu glauben, dass ich in der Lage bin, so etwas zu schreiben. Ich hatte nie viel Talent für Fiktion. Ich werde mein Bestes tun und vertraue darauf, dass mir eine so durchdringend schöne Vision nicht gezeigt worden wäre, wenn es keinen Weg dorthin gäbe.

Seit Jahren schreibe ich über die Macht der Geschichte. Es ist an der Zeit für mich, diese Technik voll einzusetzen, im Dienst einer neuen Mythologie. Ausführliche Prosa erzeugt Widerstand, aber Geschichten berühren einen tieferen Ort in der Seele. Sie fließen wie Wasser um die intellektuellen Abwehrkräfte herum und weichen den Boden auf, so dass schlummernde Visionen und Ideale Wurzeln schlagen können. Ich wollte gerade sagen, dass es mein Ziel ist, die Ideen, mit denen ich gearbeitet habe, in fiktionale Form zu bringen, aber das ist es nicht ganz. Es geht darum, dass das, was ich ausdrücken möchte, größer ist, als es in erklärender Prosa untergebracht werden kann. Fiktion ist größer und wahrhaftiger als Sachtexte, und jede Erklärung einer Geschichte ist weniger als die Geschichte selbst.

Die Art der Geschichte, die mich aus meiner persönlichen Sackgasse befreien kann, könnte auch für die größere kulturelle Sackgasse von Bedeutung sein. Was kann die Kluft überbrücken in einer Zeit, in der die Uneinigkeit über eine gültige Quelle von Fakten eine Debatte unmöglich macht? Vielleicht sind es auch hier Geschichten: sowohl fiktionale Geschichten, die Wahrheiten transportieren, die sonst durch die Barrieren der Faktenkontrolle unzugänglich sind, als auch persönliche Geschichten, die uns gegenseitig wieder menschlich machen.

Die Wissensallmende des Internets ausschöpfen

Zu Ersterem gehört die Art von gegen-dystopischer Fiktion, die ich schaffen will (nicht unbedingt ein Bild von Utopia malen, aber einen Ton der Heilung anschlagen, den das Herz als authentisch erkennt). Wenn dystopische Fiktion als eine „prädiktive Programmierung“ dient, die das Publikum auf eine hässliche, brutale oder zerstörte Welt vorbereitet, können wir auch das Gegenteil erreichen, indem wir Heilung, Erlösung, Sinneswandel und Vergebung beschwören und normalisieren. Wir brauchen dringend Geschichten, in denen die Lösung nicht darin besteht, dass die Guten die Bösen in ihrem eigenen Spiel (Gewalt) schlagen. Die Geschichte lehrt uns, was unweigerlich darauf folgt: Die Guten werden zu den neuen Bösen, genau wie in der Informationsschlacht, die ich oben erörtert habe.

Mit der letzteren Art von Erzählung, der der persönlichen Erfahrung, können wir einander auf einer zentralen menschlichen Ebene begegnen, die sich nicht widerlegen oder leugnen lässt. Man kann über die Interpretation einer Geschichte streiten, aber nicht über die Geschichte selbst. Mit der Bereitschaft, die Geschichten derer zu suchen, die außerhalb der eigenen vertrauten Ecke der Realität stehen, können wir das Potenzial des Internets zur Wiederherstellung der Wissensallmende ausschöpfen. Dann werden wir die Zutaten für eine demokratische Renaissance haben. Demokratie hängt von einem gemeinsamen Gefühl von „Wir, das Volk“ ab. Es gibt kein „Wir“, wenn wir uns gegenseitig durch parteipolitische Karikaturen sehen und uns nicht direkt engagieren. Wenn wir die Geschichten der anderen hören, wissen wir, dass im wirklichen Leben Gut gegen Böse selten die Wahrheit ist, und dass Herrschaft selten die Antwort ist.

Wenden wir uns einem gewaltfreien Umgang mit der Welt zu

[…]

So begeistert habe ich mich noch nie bei einem kreativen Projekt gefühlt, seit ich 2003–2006 „The Ascent of Humanity“ geschrieben habe. Ich fühle, dass sich das Leben regt, Leben und Hoffnung. Ich glaube, dass in Amerika und wahrscheinlich auch an vielen anderen Orten dunkle Zeiten auf uns zukommen. Im vergangenen Jahr habe ich Phasen tiefer Verzweiflung durchlebt, als Dinge eintraten, die ich zwanzig Jahre lang zu verhindern versucht hatte. All meine Bemühungen schienen vergeblich. Doch jetzt, da ich eine neue Richtung einschlage, erblüht in mir die Hoffnung, dass andere das Gleiche tun werden, und das menschliche Kollektiv ebenso. Denn haben sich nicht auch unsere furiosen Bemühungen, eine bessere Welt zu schaffen, als vergeblich erwiesen, wenn man den aktuellen Zustand von Ökologie, Wirtschaft und Politik betrachtet? Sind wir als Kollektiv nicht alle erschöpft von dem Kampf?

Ein Schlüsselthema meiner Arbeit war die Berufung auf andere kausale Prinzipien als Gewalt: Morphogenese, Synchronizität, die Zeremonie, das Gebet, die Geschichte, der Samen. Ironischerweise sind viele meiner Essays selbst von einem gewaltsamen Typus: Sie tragen Beweise zusammen, setzen Logik ein und tragen einen Fall vor. Es ist nicht so, dass Technologien der Gewalt von Natur aus schlecht sind; sie sind nur begrenzt und unzureichend für die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Beherrschung und Kontrolle haben die Zivilisation dorthin gebracht, wo sie heute ist, im Guten wie im Schlechten. Wie sehr wir uns auch an sie klammern mögen, sie werden Autoimmunkrankheiten, Armut, ökologischen Kollaps, Rassenhass oder den Trend zum Extremismus nicht lösen. Diese werden nicht ausgerottet werden. Genauso wird die Wiederherstellung der Demokratie nicht kommen, weil jemand einen Streit gewinnt. Und so erkläre ich gerne meine Bereitschaft, mich dem gewaltfreien Umgang mit der Welt zuzuwenden. Möge diese Entscheidung Teil eines morphischen Feldes sein, in dem die Menschheit kollektiv das Gleiche tut.

Übersetzung: Bobby Langer

Spenden ans gesamte Übersetzerteam werden gerne angenommen:

GLS Bank, DE48430609677918887700, Verwendungszweck: ELINORUZ95YG

 

(Originaltext: https://charleseisenstein.org/essays/to-reason-with-a-madman)

 

von Frank Braun

Über die Medienberichterstattung zur letzten Generation

Es macht mich unglaublich traurig, wie sie über die letzte Generation berichten. Das ist manipulierend und in der Sache nicht wirklich hilfreich. Da ist kein Versuch zu erkennen, die Frage zu klären, was denn junge Menschen dazu bringt, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen (was übrigens noch nicht einmal eindeutig klar ist, siehe nächster Absatz). Glauben sie wirklich, dass diese Menschen nicht auch lieber glücklich das Leben genießen würden, ohne möglicherweise Gesetze zu brechen? Da ist keine Auseinandersetzung mit der Frage von Recht und Moral, zu der wir durchaus unterschiedliche Meinungen haben dürfen. – Gott sei Dank leben wir in einem Land, wo das möglich ist. –

Nein, all das spielt keine Rolle. Einzig der Fakt, dass hier Menschen Geld erhalten, um möglicherweise damit auch Widerstand zu leisten gegen einen Lebensstil, der Natur und Menschen rund um uns herum aufzehrt, um unsere Wachstumsmaschine zu ölen. Dafür ist jedes Mittel recht, auch der Rechtsbruch gegen Menschenrechte, die SDGs, etc. Ich bin selbst Betriebswirtschaftler. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns über gut bezahlte Manager aufregen, die für Nestle, Monsanto, Apple und Co. Unrecht einfach in unseren toten Winkel verlagern, in sogenannte Länder mit Entwicklungsbedarf, wo Umwelt und Menschenrechte der eigenen Not geopfert werden, da es zunächst einmal darum geht, den Tag zu überleben. Ich habe bis Februar 22 drei Jahre in Peru gelebt und dort gesehen, was unser Lebensstil anrichtet. Dafür ist es ok, Geld zu verdienen?

Und dann ist da die Frage von Recht, die ja hier immer wieder als Argument genommen wird. Niemand von ihnen erwähnt dabei Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes, der es in bestimmten Situationen erlaubt, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen, um Rechtsbruch zu vermeiden. Ich sehe diesen Artikel selbst mit großem Respekt und bin mir bewusst, welche Sprengkraft darin liegt. Aber es gibt diesen Artikel seit den 1968-iger Jahren aus gutem Grund! Auch wird nicht erwähnt, dass sich Deutschland der Menschenrechtscharta, den Nachhaltigen Entwicklungszielen etc. verpflichtet hat und diese bis 2030 umsetzen will. Ziel 13 formuliert hier explizit den Klimaschutz. Es ist also nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht unser aller, für den Klimaschutz, Umwelt- und Menschenrechte einzutreten!

Und nun also dieser Shitstorm, „Klimaaktivisti“ nähmen Geld für ihre Arbeit. Ja und? Das macht mich unglaublich wütend, das als Argument zu verwenden, als ob es für die aktuelle Debatte rund um die Aktionen der Letzten Generation eine Rolle spielen würde, ob die Leute das bezahlt oder unbezahlt täten? Tut es nicht! Also lasst uns bei den Fragen bleiben, die es zu klären gilt, anstatt Menschen zu diskreditieren, weil sie – wie wir alle – Geld zum Leben brauchen!

Die ganze Umwelt-, Klima- und Soziale-Gerechtigkeits-Bewegung, die seit Jahrzehnten unermüdlich daran arbeitet, dass sich daran etwas ändert, arbeitet, so sie es denn nicht ehrenamtlich tut, vorwiegend in befristeten Teilzeitarbeitsverträgen, zu Konditionen, die für die meisten ihrer Leser:innen lächerlich wären. Das gilt für traditionelle Organisationen wie den NABU genauso wie für neue Bewegungen wie die For Future-Bewegung.

Gleichzeitig ist der Wunsch nach Information und Weiterbildung riesig. Täglich bekommen wir Anfragen von Schulen, Konfirmandengruppen, Kirchengemeinden etc., die uns anfragen, ob wir denn mit ihnen Workshops, Seminare, Vorträge etc. zu Fragen wie Fairer Handel, Klima, Ökologie, den SDGs etc. machen könnten. Geld hätten sie aber keines. So machen das Zehntausende von Menschen meist ehrenamtlich oder eben in den wenigen bezahlten Stellen. Selbstausbeutung ist hier tägliche Realität, weil die meisten dieser Menschen im Herzen für ihre Arbeit brennen und sie nicht allein wegen des Geldes verrichten.

Auch die erst seit 2021 existierende Bewegung „Aufstand der Letzten Generation“ versucht, einen Beitrag zu sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu leisten. Deren Forderungen sind übrigens m.E. keineswegs radikal. Bei den Blockadeaktionen im Dezember standen zwei Kernforderungen im Fokus:

  • ein sofortiges Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen, um “jährlich bis zu 5,4 Millionen Tonnen CO2” einzusparen. “Es ist sofort umsetzbar und das nahezu kostenlos.“
  • ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket: “Bezahlbare Bahnen sind in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten nur gerecht! Außerdem würde ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket sogar noch mehr CO2 einsparen als ein Tempolimit.“

Ist das wirklich so wirklichkeitsfern und radikal? Zudem ist das Festkleben auf Straßen oder das beschmieren von Kunst nur ein kleiner Teil der Arbeit, den diese Bewegung leistet.

Ich sehe durchaus auch manche der Aktionsformen der letzten Generation kritisch, aber wir sollten das Kind nicht mit dem Badewasser auskippen, denn eines kann ich gut verstehen: Es gibt eine wachsende Anzahl junger Menschen, die sich nicht erst genommen fühlen, die Angst um ihre Zukunft haben, die verzweifelt sind und nicht mehr weiterwissen. Nun fangen Medien an, diese Menschen lächerlich zu machen, sie an den  Rand zu drängen, anstatt sich mit der eigentlichen Kernfrage zu befassen:
Warum leben wir einfach so weiter, als wüssten wir nicht, dass unser Lebensstil Menschenleben kostet, das Klima verändert, die Biodiversität vernichtet?

Das wiederum liegt meines Erachtens daran, dass wir alle Komplizen dieses Lebensstils sind. Das wohl niemand unter uns Schreibenden von sich sagen könnte, er lebe kompromisslos einen sozial und ökologisch gerechten Lebensstil – auch ich nicht! Das wiederum macht uns Angst, denn eigentlich wissen wir alle, dass FAIRänderungen unabdingbar sind. Es fehlt uns gerade der Mut und die Fantasie zu sehen, wie das gehen könnte, also verharren wir lieber und machen erst einmal weiter so.

Können wir bitte mit dieser verlogenen Doppelmoral aufhören.
Können wir bitte aufhören, die Gesellschaft zu polarisieren. Am Ende wollen wir alle eine gutes Leben leben. Dieses Bedürfnis tragen wir alle in uns!
Können wir bitte endlich anfangen, gemeinsam und ernsthaft an Lösungen zu arbeiten, wie sich das ändern kann. Und ja, für Länder wie Deutschland wird das bedeuten, sich an einigen Stellen radikal zu ändern. Ich bin überzeugt, das ist nicht nur möglich, sondern wird am Ende Raum geben – auch bei uns -, dass die Utopie einer Welt ohne Ausbeutung Realität werden kann.

p.s. Ich bin selbst auch freier Redakteur und habe erst vor kurzem einen Artikel zur Frage von zivilen Widerstand und Recht verfasst.

Fridays for Future haben die Forderung nach einem Sondervermögen Klimaschutz in Höhe von 100 Mrd. Euro. Warum? Wozu?

„Die Klimakrise ist kein Wohlfühlproblem“, sagt Luisa Neubauer, „sondern eine Katastrophe.“ Das pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern, etwa des Ahrtals, nicht jedoch im Regierungsviertel.

„Wir riskieren, dass unser Wirtschaftsmodell wegbricht.“

Inzwischen hat sich sogar Marcel Fratzscher in die Diskussion eingeschaltet. Der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Professor für Makroökonomie an der Berliner Humboldt-Universität formuliert ähnlich dringlich wie Luisa Neubauer: „Wir haben eine dramatische Situation für die Wirtschaft. Viele Unternehmen können mit den hohen Energiepreisen über fossile Energieträger nicht umgehen, sind von Insolvenz und Überschuldung bedroht. Wir riskieren, dass unser Wirtschaftsmodell wegbricht.“ Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten, so der Professor, würden in Zukunft deutlich weiter zunehmen, „wenn es uns jetzt nicht gelingt, die notwendige Transformation voranzubringen“. Der Einwand, 100 Milliarden Euro seien zu viel Geld für Klimaschutzmaßnahmen, sei falsch, genau das Gegenteil treffe zu. „Je länger wir warten, desto höher sind nicht nur die Kosten für die Menschen, sondern eben auch die wirtschaftlichen Kosten für Unternehmen.“ Fratzscher will deshalb die Initiative von Fridays for Future „ganz nachdrücklich unterstützen“.

Auch das „Haus Wirtschaft“ braucht ein solides Fundament

Wer ein Haus plant, benötigt ein geologisches Gutachten. Warum? Die Antwort ist jedermann einsichtig. Wer will schon, dass sein Haus wegrutscht, einsinkt oder auf einer alten Giftmülldeponie errichtet wird?

Wer ein Haus baut, braucht also ein solides Fundament, auch unterhalb der Bodenplatte. Das gilt nicht nur für relativ kleine wirtschaftliche Vorhaben, sondern auch für große. Die Bodenplatte, wenn man so will, auf der die deutsche Wirtschaft ruht, ist ihre zuverlässige Energieversorgung. Aber unter der Bodenplatte bröckelt es nicht nur, sondern es verschieben sich ganze Gesteinsschichten – nicht erst, seit uns die Gasversorgung knapp wird, sondern seitdem man zuverlässig weiß, dass die fossilen Ressourcen garantiert wegbrechen werden, also seit Jahrzehnten.

Zukunftsvergessen und ruchlos

Der gesunde Menschenverstand legt folglich seit Jahrzehnten nahe, sich verantwortungsvoll um eine weniger riskante Energieversorgung zu kümmern. Aber seit Jahrzehnten funktioniert der gesunde Menschenverstand nicht. Im Gegenteil: Die Bundesregierung pumpt nach wie vor 65 Milliarden Euro im Jahr in Erdöl und Erdgas, statt diese widersinnigen Investitionen in zukunftsfähige Quellen umzulenken. Da setzt das Aushängeschild der deutschen Finanzwirtschaft, die Deutsche Bank, noch den i-Punkt an Zukunftsvergessenheit und Ruchlosigkeit obendrauf: mit ihrer geplanten Finanzierung der EACOP-Pipeline, mit der 1445 Kilometer geheiztes Erdöl vom Westen Ugandas durch Tansania zum Indischen Ozean gebracht werden soll. Rund 7000 Menschen wurden dafür bereits zwangsumgesiedelt, weitere ca. 90.000 Menschen sollen noch ihre Heimat verlieren – ganz abgesehen davon, dass das Tilenga-Ölfeld zum Teil im Murchison-Falls-Nationalpark liegt, dem größten und ältesten ugandischen Nationalpark. Aber wen kümmert das schon, außer Luisa Neubauer? Bei einem 3,5-Milliarden-Dollar-Projekt lässt sich schließlich gut verdienen. Und was tut die Bundesregierung? Es geht sie nicht wirklich etwas an, auch nicht die Bundesumweltministerin.

Das Geld im Land lassen

Gewichtige Argumente pro 100 Mrd. Euro liefert auch Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. 100 Mrd. Euro in Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland würden das Geld im Land lassen und den Menschen zugute kommen, statt „weiter auf den Import von Öl, Kohle und Gas zu setzen“. Allein in diesem Jahr würde Deutschland voraussichtlich weit über 100 Milliarden Euro für den Import dieser fossilen Energieträger ausgeben. Quaschning: „Zwischen 1990 und heute hat Deutschland mehr als 1500 Milliarden Euro nur für den Import von Öl, Kohle und Gas ausgegeben, das heißt also Geld, was aus Deutschland weg ist und was wir nicht investieren können.“

Die Transformation nicht verschlafen

Mit Bezug auf die Green-New-Deal-Überlegungen der Europäischen Union findet Fratzscher die Fridays-Forderung eher moderat. In Brüssel gehe man von einem zusätzlichen Investitionsbedarf von 10.000 Milliarden bis 2050 aus. Für Deutschland seien das hochgerechnet 120 Mrd. pro Jahr bzw. drei Prozent des BIP. Hoffnungen weckt in Fratzscher „die tolle Forschungslandschaft. Wir waren weltweit die ersten, die in die Energiewende eingestiegen sind, aber wir haben irgendwann immer die Puste verloren“. Es ist also neues Luftholen angesagt. Um die Energiewende voranzubringen, braucht Deutschland aus Quaschnings Sicht „das größte Fort- und Weiterbildungsprogramm, das die Bundesrepublik Deutschland jemals gesehen hat. Und Sie können natürlich ohne Geld keine Weiterbildung machen, also auch hier brauchen wir natürlich massive Investitionen.“ Und Fratzscher warnt: „Wir können es uns in Deutschland nicht leisten, diese Transformation zu verschlafen, weil sonst andere Länder und andere Unternehmen – Wettbewerber von deutschen Unternehmen – da schneller sind.“

Die Chancen der Krise JETZT! nutzen

Der Herr sprach: Und am siebten Tag sollst Du ruhen…
Keine Angst, jetzt kommt keine Predigt. Eher ein Gedankenspiel über die unglaublichen Chancen der aktuellen C-Krise, über ein Jahr der Ruhe und über den konkreten Vorschlag für ein Sabbatjahr, für eine kleine Revolution …

Von Fritz Lietsch

Fritz Lietsch ist seit über 30 Jahren aktiver Zukunftsgestalter, Chefredakteur des Entscheidermagazins forum nachhaltig Wirtschaften, gefragter Moderator und Key Note Speaker sowie Initiator der Kampagne #VerantwortungJetzt!
Er will die Coronakrise zur Chance machen und fordert: „Rettungsgelder richtig nutzen!“ Finanzhilfen ja. Aber nicht, um nach der Krise genauso weiterzumachen, wie vorher. Helfen Sie mit, die Krise als Chance für den Wandel zu nutzen. Seine Forderung: „Nachhaltiges Leben und Wirtschaften muss zum Standard für die Zukunft werden.“

Kontaktiert ihn bei Fragen gerne unter f.lietsch@forum-csr.net bzw.  +49 (0)171-211 8884.


Für viele Menschen ist jetzt Ruhe eingetreten. Leider ungewollt, verursacht durch einen Virus. Für manchen ist dieser Zustand der Ruhe beängstigend. Aber vielleicht ist das, was uns die gegenwärtige Krise zeigt, ein großes Geschenk. Eine Chance für einen Neubeginn.

Wer mit mir die Chancen dieser Krise untersuchen und helfen will, die daraus entstehenden Möglichkeiten zu ergreifen, sollte weiterlesen und dabei sein bei  #VerantwortungJetzt! Weiterlesen

Der im Phänomen Verlag erschienene Essay von Sabine Melchiori und Hardy Fürch beschäftigt sich mit der Tatsache, dass aus der bisherigen Zersplitterung des Denkens eine neue, einheitliche Weltschau auf den Planeten entstehen muss. Sehr empfehlenswert, um tiefer in die Thematik einzudringen. Zu lesen ist er HIER.