In diesem dritten Teil geht es darum, dass wir lernen, innerhalb der planetaren Grenzen zu leben.

Teil 3 von Daniel Christian Wahl

Teil 1

Teil 2

In diesem zweiten Teil der Reihe geht es um den sogenannten Earth Overshoot Day, den Tag im Jahr, an dem wir dem Ökosystem mehr entnommen haben, als dieses natürlicherweise regenerieren kann.

Teil 2 von Daniel Christian Wahl

Teil 1

Teil 3

Krankheiten vermeiden? Besser Gesundheit kreieren. Umweltschäden reparieren? Besser ökologische Systeme schaffen, die sich selbst am Leben halten und regulieren können. Gesellschaftliche Brüche kitten? Besser aktiv Gemeinschaften organisieren, die die psychosoziale Gesundheit und das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Menschen dauerhaft gewährleisten. Unser politischer Diskurs ist zu sehr darauf fixiert, allgegenwärtige Verschlimmerungen aufzuhalten, abzumildern und im besten Fall rückgängig zu machen. So bleiben wir auf das Negative und dessen „Bekämpfung“ fixiert. Ins Positive gewendet, sollten ökologische und soziale Systeme mit einem hohen Grad an Resilienz geschaffen werden — weniger abhängig von andauernder menschlicher Korrektur, selbstreparierend, nachhaltig. Wie das funktionieren könnte, zeigt der Autor in seiner dreiteiligen Serie auf.

Teil 1 von Daniel Christian Wahl

Teil 2

Teil 3

von Dipl.-Ing. agr. Ulrike B. Rapp

Es klingt wie die Erfüllung eines ewigen Gärtnertraums: immer größeres und besseres Gemüse ernten, ohne Mehraufwand an Arbeit und ohne Düngung. Auf einer Kompostanlage in Griechenland ist dieses Phänomen aufgetreten. Es wird seit 20 Jahren von Fachleuten untersucht und ist nun reif für die breite Anwendung in der Praxis.

Die Geschichte beginnt mit dem Material einiger Kompostmieten, das im Jahr 2003 nicht in Säcke verpackt und verschickt werden konnte. Der Betreiber der Anlage ist Dr. Johannes Eisenbach, ein deutscher Landwirt und qualifizierter Agrarökonom, der sich seit den 90-er Jahren in Kalamata dem Olivenanbau widmet. Um die Bodenfruchtbarkeit in den Olivenhainen zu erhalten, hatte er begonnen, die Verarbeitungsrückstände nach dem Pressen des Olivenöls zu kompostieren, um sie seinem Agrarökosystem zurückzugeben. Der Kompost auf den 2003 liegengebliebenen Hügeln wurde nun so reif, dass sich darauf durch Flugsamen verbreitete Pflänzchen ansiedeln konnten. „Dann bauen wir jetzt eben Gemüse darauf an“, war die Folgerung des passionierten Agrarökonomen und so entstanden in der Kompostanlage Hügelbeete aus reinem, reifem Kompost. Jeder Gärtner weiß: Organische Substanz reduziert im Kompostierungsprozess ihr Volumen, und auch später im Gartenbeet oder auf dem Acker baut sich der Kompost langsam wieder ab.  Doch auf der Kompostierungsanlage in Kalamata kam es in den Folgejahren des Gemüsesanbaus zu einer erstaunlichen Entdeckung: Die Komposthügelbeete verringerten ihre Masse nicht mehr und das Gemüse gedieh immer prächtiger. Eine 3 Kilogramm schwere, riesige Rote Beete versetzte die erfahrene Köchin der Kantine des Unternehmens in völliges Erstaunen: Solch eine wunderbar zarte Konsistenz und solchen hervorragenden Geschmack hatte sie bei dieser Größe niemals erwartet. Bei der Untersuchung des Substrats der Hügelbeete mit Feldmethoden stellte Dr. Eisenbach sodann fest, dass auch die Textur des Bodenmaterials nicht mehr der des gewöhnlichen Komposts entsprach; stattdessen war es nun ein erdiges Substrat. Das war der Beginn einer bewegenden Reise zur wissenschaftlichen Erklärung dieser fast unglaublichen Entdeckung, einer neuartigen Form stabiler, organischer Substanz mit außergewöhnlicher Düngewirkung, die später den Namen „Biozyklische Humuserde“ erhielt.

Humusaufbau in der Natur

Stabile, organische Substanz im Boden wird gewöhnlich als Dauerhumus bezeichnet. Dieser ist für die nachhaltige Fruchtbarkeit der Böden verantwortlich und entsteht normalerweise in Jahrtausenden vor allem in den Böden unter natürlichen Wäldern.  Naturbelassene Wälder sind oft sehr artenreich und es erstaunt, dass all die verschiedenen Pflanzen, trotz ihrer unterschiedlichen Nährstoffansprüche auf demselben Boden gedeihen. Dies deutet auf eine in jüngster Zeit mehr und mehr in den Fokus wissenschaftlicher Studien rückende Beobachtung hin. Pflanzen nehmen nicht nur passiv die im Bodenwasser gelösten Nährstoffe auf (wie in einer Hydrokultur), sondern kommunizieren aktiv mit den Mikroorganismen in der unmittelbaren Nähe ihrer Wurzeln, der Rhizzosphäre. Sie bilden Symbiosen v.a. mit Bakterien und Pilzen, indem sie sie mit energiehaltigen Zuckerverbindungen „füttern“ und dafür von ihnen mit verschiedensten Formen auch hochmolekularer Nähstoffverbindungen versorgt werden. Über diese unglaublich komplexen Vorgänge zwischen Mikroorganismen und Pflanzen im Boden ist bisher noch wenig bekannt. Die Beobachtung aber, dass die Mikrobenkonzentration in der Rhizzosphäre (unmittelbare Umgebung der Wurzel) der Pflanzen im Vergleich zum umliegenden Boden um das 5- bis 50-fache erhöht ist, weist auf die enorme Bedeutung dieser Prozesse hin.  Die Belebung des Bodens durch die Pflanzen – sozusagen im Kreislauf des Lebens, (oder Biozyklus, von bios (gr.) = Leben, und kyklos (gr.) = Kreislauf) – ist als der wesentliche Prozess für die Bodenbildung und damit dem Aufbau von Dauerhumus unter natürlichen Bedingungen anerkannt.

Auf dem Komposthügel mit Gemüseanbau

Anders als in natürlichen Ökosystemen mit ihren meist nährstoffarmen Böden, laufen nun diese prinzipiell gleichen Prozesse auf den nährstoffreichen Komposthügeln ab, die mit Gemüse bepflanzt werden. In reifem Kompost liegen die Nährstoffe jedoch in anderer Form vor als in einem gewöhnlichen Gemüsebeet oder einem Acker, der beispielsweise mit Mist gedüngt ist. In diesen „normalen“ Beeten und Äckern findet sich, eben aufgrund der damit verbundenen Düngepraxis, eine beträchtliche Menge der Nährstoffe frei verfügbar im Wasser des Bodens (Nährsalze in der Bodenlösung) gelöst und wird von den Pflanzen wie in der Hydrokultur durch Osmose aufgenommen. Im reifen Kompost hingegen sind die reichlich vorhandenen Nährstoffe fest in den organischen Strukturen gebunden. Eben dies veranlasst die Gemüsepflanzen, den oben beschriebenen Prozess, in der aktuellen Fachliteratur als „Kohlenstoffpumpe“ bezeichnet, einzusetzen. Die australische Wissenschaftlerin Christine Jones hat herausgefunden, dass die Pflanzen bis zu 50 % der von ihnen in der Photosynthese produzierten Zucker (= kurzkettige Kohlenstoffverbindungen) über ihre Feinwurzeln an den Boden abgeben. Diese „Energiepakete“ werden von Bakterien und Pilzen im Kompostbeet zerlegt, und die Pflanze kann im Gegenzug deren „Produkte“ aufnehmen und sich davon ernähren.

Struktur der Biozyklischen Humuserde

Als Nebenprodukt dieser Symbiose reichern sich im Boden im Verlauf der Zeit die „Reste der Energiepakete“ an, die von den Mikroorganismen nicht weiter verwertet werden können. Das sind niedermolekulare Kohlenstoffverbindungen, die man als „Krümel“ bezeichnen könnte. Da Kohlenstoff bekanntermaßen die Fähigkeit besitzt, sehr stabile, kristalline Strukturen (wie Diamant oder Graphit) zu bilden, kann nun aus diesen Reststücken eine besondere, amorphe oder vermutlich sogar vorkristalline Kohlenstoffstruktur entstehen. Diese sind es, die das erdähnliche Substrat, das Dr. Eisenbach nach einigen Jahren auf den bepflanzten ehemaligen Komposthügeln fand, zu biozyklischer Humuserde mit bisher unbekannten Eigenschaften macht.

Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei um einen autodynamischen oder sich selbst verstärkenden Prozess handelt, denn diese amorphen oder vorkristallinen Strukturen im Boden bilden den idealen Lebensraum für die Mikroorganismen selbst. Sie zeichnen sich durch kleine Zwischenräume (Poren) aus, in denen sich die Feuchtigkeit hält, wie auch durch größere, in denen die Luft zirkulieren kann, d. h. der Boden kann „atmen“. Die Pflanzen pumpen also fortwährend Kohlenstoff in den Boden, leben in Symbiose mit ihren Mikrobengemeinschaften, und aus den Reststoffen formt sich immer neuer Lebensraum für diese. So erklärt sich nach bisherigem Forschungsstand ein kontinuierliches Wachstum des lokalen Bodenmikrobioms und damit die in der Praxis beobachteten stetig steigenden Ernteerträge, sowie die außergewöhnliche Qualität der Lebensmittel. Die eindrucksvollen Ertragssteigerungen konnten bisher schon in zwei Experimenten an den Universitäten Athen¹ und Berlin² wissenschaftlich bestätigt und im Rahmen von Masterarbeiten publiziert werden.

Biozyklische Humuserde

*ENTSTEHUNG: durch mehrjährige Bepflanzung der Hügel des vollreifen Komposts. (= PCS, siehe Erklärung im Textfeld unten) mit möglichst vielfältigen Mischkulturen, nach dem Vorbild der Natur. So entsteht aus PCS die biozyklische Humuserde in für die Veredelung biozyklischer Humuserde zertifizierten Gemüsebaubetrieben.

* EIGENSCHAFTEN:
– keine Auswaschung von Nährstoffen
-voll pflanzenverträglich in allen Entwicklungsstadien
– unerwartet hohe Ernten, von Jahr zu Jahr steigend, wenn die Kulturpflanzen auf reiner Humuserde ohne Bodenzusätze und unter Verzicht jeglichen wasserlöslichen Düngers angebaut werden

Die Qualität der Lebensmittel in der weltweiten Bodenkrise

Diverse Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Gehalt unserer Lebensmittel an lebenswichtigen Mineralien und Spurenelementen seit Jahrzehnten kontinuierlich sinkt. Neben anderen Faktoren kann dies den Anstieg verschiedenster in den letzten Jahren zunehmender Erkrankungen zumindest teilweise erklären. Die australische Bodenbiologin Dr. Christine Jones führt den Nährstoffverlust in Lebensmitteln auch auf den schlechten Zustand der Böden zurück, auf denen diese Lebensmittel produziert werden. Weltweit haben landwirtschaftliche Flächen durch den Einsatz von Agrarchemikalien bereits 30-70% des Kohlenstoffgehalts und damit einen beträchtlichen Anteil des Humusgehalts und des Bodenlebens verloren.

Es versteht sich von selbst, dass Lebensmittel, die auf biozyklischer Humuserde angebaut werden, von unvergleichlich besserer Qualität sind.  Auf der von intensivsten Lebensprozessen so erfüllten, biozyklischen Erde wachsen biotisch einzigartige Nahrungsmittel von höchstem Wert für die menschliche Gesundheit.

Verbreitung der Biozyklischen Humuserde

Seit einigen Jahren arbeitet das Team um Dr. Eisenbach kontinuierlich daran, die Rahmenbedingungen für die weltweite Verfügbarkeit von Biozyklischer Humuserde zu schaffen. „Es war eine große Herausforderung, eine Organisation aufzubauen, die sowohl die Beschaffung der für die Steigerung der Produktion von PCS erforderlichen Mittel verwaltet als auch den Produktionsprozess in allen Schritten überwacht und dokumentiert“, erklärt Dr. Eisenbach.  PCS (Phytoponic Compost Substrate, von phytho (gr.)= Pflanze, und ponos (gr.) =Arbeit, Mühe) ist vollreifer Kompost rein pflanzlicher Herkunft und nach bisherigen Erkenntnissen unabdingbar als Ausgangsmaterial für die Entstehung von Biozyklischer Humuserde.

Der anfängliche Kompostierungsprozess wird nach streng definierten Parametern gesteuert; es müssen unter anderem Temperatur, Feuchtigkeit und CO2 Gehalt ständig überwacht werden, damit der Kompost zum richtigen Zeitpunkt gewendet werden kann. Beim Wenden wird die Kompostmiete sozusagen belüftet, damit die Mikroorganismen nach dem Vorbild der Natur zu jedem Zeitpunkt genügend Sauerstoff für ihre Arbeit zur Verfügung haben. Ein solch komplexes Verfahren kann in der Regel am besten in professionellen Kompostierungsanlagen gewährleistet werden, in denen zusätzlich die Verbleibdauer des Kompostes bis zur Vollreife verlängert ist. Die erforderlichen, finanziellen Mittel dafür bereitzustellen, ist das Ziel der Bemühungen von Dr. Eisenbachs Team. Anschließend soll in zertifizierten gärtnerischen Betrieben die Bepflanzung mit Mischkulturen erfolgen, mittels derer dann der vollreife Kompost (PCS) in bis zu 5 Jahren zur Biozyklischen Humuserde „veredelt“ wird. Es könnte einen interessante Alternative für viele Betriebe sein, da ihnen das PCS unentgeltlich für die Dauer der Veredelung zur Verfügung gestellt wird. Das darauf geerntete Gemüse können sie selbständig vermarkten, wobei die Einhaltung der biozyklisch-veganen Richtlinien, genau wie bei anderen biologischen Anbauverbänden, jährlich kontrolliert wird. Wenn der Veredelungsprozess abgeschlossen ist, wird zusammen mit den an der Schaffung der finanziellen Grundlagen für die Entstehung der Biozyklischen Humuserde Beteiligten über die weitere Verwendung entschieden, Einzelheiten dazu sind im Terra-Plena-Fonds geregelt. Natürlich kann die veredelte Humuserde dann auch in landwirtschaftlichen Betrieben genutzt werden.

Phythoponisches Compost Substrate (PCS) ≈ vollreifer Kompost

*ENTSTEHUNG: aus überwachtem und gesteuertem Kompostierungsprozess aus rein pflanzlichen Ausgangsmaterialien auf einer Kompostanlage oder einem spezialisierten land- oder gartenbaulichen Betrieb entsteht reifer Kompost. Dieser wird weiter in der Miete gelagert bis er sich auf natürliche Weise begrünt und so zur Vollreife kommt.

*EIGENSCHAFTEN:
– es kann zur Auswaschung sehr geringer Nährstoffmengen kommen
– voll pflanzenverträglich, muss für Bepflanzung nicht mit Erde vermischt werden
– gute Erträge

Der Terra-Plena-Fonds

Als finanzieller Mechanismus, der die weltweite Verbreitung Biozyklischer Humuserde ermöglichen soll, wurde der Terra-Plena-Fonds geschaffen. Investoren werden hier zu „Bodenkuratoren“, die mitwirken an der Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und damit der Sicherung der Welternährung. Eine Wertsteigerung der Fondsanteile ist zunächst mit der steigenden Nachfrage nach fruchtbarer Erde zu erwarten. Auch sollen in Zukunft CO2-Zertifikate auf die Entstehung Biozyklischer Humuserde ausgestellt werden. Es wurde errechnet, dass die Erzeugung von 2,5 Tonnen Biozyklischer Humuserde auf zertifizierten Veredelungsflächen etwa 1 Tonne CO2-Äquivalente bindet. Des Weiteren ist geplant, eine naturwertbasierte dezentrale „Fruchtbarkeitswährung“ terra libra bereitzustellen, die auf einem Blockchain-basierten Marktplatz verfügbar ist. Eine elektronische Währung, die sich durch einen stabilen, natürlichen Wert auszeichnet und mit der gesunde, schmackhafte und biologisch nährstoffreiche Lebensmittel angebaut und erworben werden können, ist eine absolut neuartige Möglichkeit der Zukunftssicherung.

Vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten

Wir leben in Zeiten, in denen die menschliche Gesundheit besonders bedroht scheint und der Zusammenhang mit der belasteten Umwelt sowie der Zerstörung insbesondere der Bodenfruchtbarkeit nahezu allseitig anerkannt ist. Umso wichtiger wird es, natürliche, im Kreislauf des Lebens entstandene, fruchtbare Erde als universelle Existenzgrundlage zu erkennen, ihren Wert zu schätzen und zu fördern. Bleibt zu wünschen, dass die Entdeckung auf den Komposthügeln von Kalamata, im Zusammenwirken interessierter Personen und Organisationen möglichst schnell dazu beitragen kann, Gartenbau und Landwirtschaft zu einer lebensfördernden Praxis zu transformieren.

________________

¹Eisenbach L.D. et al. (2018): Effect of Biocyclic Humus Soil on Yield and Quality Parameters of Sweet Potato (Ipomoea batatas L.). Scientific Papers. Series A. Agronomy, Vol. LXI, No. 1, 2018. S.210-217

²Schubert, Anna: Masterarbeit an der Humboldt-Universität Berlin, März 2023, Stickstoffdüngewirkung veganer organischer Reststoffe durch einen Gefäßversuch mit Deutschem Weidelgras (Lolium perenne L.)

Auch Sie können zur Entstehung von mehr Biozyklischer Humuserde beitragen, sei es in Ihrem privaten oder gewerblichen Garten, auf einem landwirtschaftlichen Betrieb oder als Bodenkurator mit Ihrer Investition in den Terra-Plena-Fonds, vielleicht haben Sie auch persönliche Verbindungen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die das Projekt weiterbringen können.

Bitte kontaktieren Sie Frau Dipl.-Ing. agr. Ulrike B. Rapp, E-Mail: ulrikebrapp@gmail.com

 

 

Die auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Bank Triodos legt in ihrem neuen Bericht über die Wirtschaftsaussichten für das Jahr 2024 ein überraschendes Bekenntnis ab: Sie setzt sich nicht für Wirtschaftswachstum um jeden Preis ein. Vielmehr will sie eine “Postwachstumsökonomie” fördern. Aus ihrem langfristigen Investitionspapier:

Die globalen Volkswirtschaften wachsen. Man schätzt, dass der Durchschnittsbürger heute 1,5 Mal reicher ist als im Jahr 2000. In diesem langfristigen Ausblick erörtern wir, dass Wachstum ein grundlegendes Merkmal von Marktwirtschaften ist, wie wir sie kennen.

Marktwirtschaften in ihrem derzeitigen Aufbau benötigen Wachstum, um stabil zu sein. Aber selbst wenn die fortgeschrittenen Volkswirtschaften Wachstum um jeden Preis anstreben würden, sind die langfristigen Wachstumsaussichten dürftig.

Wir argumentieren, dass Wachstum ein ökologisches Problem darstellt. Wir überschreiten gegenwärtig 6 von 9 planetarischen Grenzen, die durch die Wirtschaftstätigkeit angetrieben werden. Die ökologische Krise verschärft sich. Auch in sozialer Hinsicht hat das Wachstum nicht gefruchtet.

Die Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung sind ins Stocken geraten, und die Armut hat weltweit zugenommen. Wir zeigen, dass das Vertrauen in die Innovation, um die Wirtschaftstätigkeit vollständig von den ökologischen Auswirkungen zu entkoppeln, nicht evidenzbasiert ist.

Anschließend erörtern wir drei Wege, auf denen eine Wirtschaft aufgebaut werden könnte, die innerhalb der planetarischen Grenzen Wohlstand für alle bietet.

Wir diskutieren
1) eine nachhaltigere Art zu produzieren,
2) eine nachhaltigere Art zu konsumieren und
3) eine kollektive Entscheidung, mehr Freizeit zu haben.
Obwohl wir sie theoretisch voneinander trennen, könnten diese Wege in der Praxis vermischt werden.

Nach einer kurzen Erörterung der Dynamik, die diese Wege mit sich bringen, geben wir eine vorläufige Prognose für ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die ökologischen Folgen ab. Alle Wege führen zu einer erfolgreichen Verringerung der ökologischen Auswirkungen und zu einer Verkleinerung der Wirtschaft.

Nachdem wir gezeigt haben, dass wir zu einer Postwachstumsökonomie übergehen sollten, erörtern wir, wie wir dies erreichen können. Zunächst erörtern wir einige der politischen Maßnahmen und Denkweisen, die erforderlich sind, um unsere Volkswirtschaften vom Wachstumsimperativ zu befreien.

Dazu gehört eine institutionelle Umgestaltung, die es den Regierungen ermöglicht, ohne Wachstum zu funktionieren, und eine Neuausrichtung der Unternehmen auf die Interessen aller Beteiligten und das Gemeinwohl.

Anschließend wenden wir uns den Auswirkungen auf den Finanzsektor und die Anleger zu. Es ist eine tiefgreifende Überarbeitung des Sektors erforderlich, einschließlich einer größeren Vielfalt und einer Abkehr vom “too big to fail”-Denken.

Wir kommen zu dem Schluss, dass Investoren in der Zeit nach dem Wachstum finanzielle Erträge erzielen können, aber nur, wenn sie die Auswirkungen in den Vordergrund stellen.

Indem sie aktiv in die Realwirtschaft investieren und sich langfristig engagieren, können Anleger den notwendigen Wandel nach dem Wachstum ermöglichen.

Mehr dazu hier. Und aus ihrer Pressemitteilung:

Für wohlhabende Länder ist es nach Ansicht der Triodos Bank wichtig, anzuerkennen, dass zusätzlicher materieller Wohlstand nicht unbedingt zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Gleichzeitig wird kein Wachstum oder sogar ein Rückgang der Wirtschaftstätigkeit in wohlhabenden Ländern den weniger wohlhabenden Ländern Fortschritte ermöglichen, da dort ein höheres integratives Wachstum die Lebensbedingungen positiv beeinflussen kann.

Die Wege in die Postwachstumszeit erfordern radikale Umstellungen. Einige Sektoren müssen auslaufen, während andere florieren müssen. Sektoren mit hohem Verschmutzungsgrad, wie fossile Brennstoffe, Fast Fashion und industrielle Landwirtschaft, mögen zwar finanziellen Wert schaffen, aber sie erodieren ökologische und soziale Werte und schmälern den (zukünftigen) Wohlstand.

In einer Postwachstumsökonomie gibt es Raum für restaurative Unternehmen, die einen positiven Nettowert schaffen, um zu florieren. Die Erleichterung dieses Wandels erfordert erhebliche Veränderungen, die von der Politik bis zu den Verhaltensweisen reichen. Die Triodos Bank hält dies für ein plausibles Unterfangen.

Mehr dazu hier.

Mehr zum Thema Postwachstum finden Sie in Tim Jacksons Beitrag “Imagining post-growth” vom Mai dieses Jahres. Ein Auszug:

Wir sollten keinen Zweifel daran haben, dass wir mit einem schwierigen Dilemma konfrontiert sind. Vielleicht dem tiefgreifendsten Dilemma unserer Zeit. Wachstum ist unhaltbar. Aber die Welt nach dem Wachstum ist beängstigend. Wir haben eine Wirtschaft aufgebaut, die auf Wachstum angewiesen ist.

Wir müssen von neuem lernen, wie die Gesellschaft funktioniert, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Wie Wohlfahrtssysteme funktionieren. Wie Finanzsysteme funktionieren. Wie die Regierung funktioniert.

Und wir müssen uns mit den Theorien der Unmöglichkeit auseinandersetzen, die uns von denjenigen präsentiert werden, die sich dem Wandel widersetzen.

Wenn Sie glauben, dass Sie ein dysfunktionales System vor sich haben, das niemandem nützt, dann schauen Sie wahrscheinlich nicht genau genug hin. Hinter den schönen Worten und unterstützenden Gesten derer, die sich an die Macht klammern, verbergen sich Interessen, die den Fortschritt sabotieren wollen.

Und genau hier muss unser Bekenntnis zur Fürsorge mit Realismus gemildert werden. Unser Mitgefühl füreinander muss mit eiserner Entschlossenheit gestärkt werden. Unsere grenzenlose Kreativität muss sich auf ein Gefühl des Kampfes gründen.

Jeden Tag mit einem Gefühl der Sicherheit und des Komforts aufzuwachen, ist eine verlockende Vision für unser Leben. Aufzuwachen und das Gefühl zu haben, kämpfen zu müssen, kann uns den Atem rauben. Und doch bietet dieser Kampf eine andere Art von Antwort auf die schwierige Frage, die mir gestern Abend (von einer jungen Frau) gestellt wurde. Wie kann eine Postwachstumsökonomie einer Generation junger Menschen helfen, einer Zukunft voller Ängste und Zweifel entgegenzusehen?

Nicht durch ein rosarotes Gefühl der blinden Hoffnung. Nicht durch ein falsches Versprechen von mehr und mehr. Nicht durch vage Zusicherungen, dass alles gut werden wird. Sondern durch ein Engagement für den Kampf.

Das Gegenmittel zur Verzweiflung liegt nicht in der Hoffnung, sondern im Handeln. Im Handeln. Indem wir uns mit all unserer schöpferischen Energie auf die vor uns liegende Aufgabe einlassen. Ein Weg durch die Grenzen hin zum Unbegrenzten. Ein Wohlstand, der nicht auf Reichtum, sondern auf Gesundheit beruht.

Ein Kampf, um die systematische Verzerrung der Werte zu entwirren, die den Kern eines kaputten Kapitalismus bildet. Und um an seiner Stelle eine Wirtschaft der Fürsorge, des Handwerks und der Kreativität zu schaffen, die auf einem endlichen Planeten ihren Zweck erfüllt.

Bobby Langer: Jascha, dein kürzlich erschienenes Buch „Die große Kokreation“ bezeichnet sich als „Standardwerk für transformative Kokreation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“. Ist das ein Buch für Spezialisten bzw. Experten, also zum Beispiel Soziologen oder Politologen, oder schreibst du für eine breitere Zielgruppe?

Jascha Rohr: Ich schreibe für alle, die sich engagieren, die Dinge bewegen und verändern wollen und wissen, dass das gemeinsam besser geht als alleine. Das ist, so hoffe ich, eine sehr breite Zielgruppe, die Expert:innen einschließt, sich darüber hinaus aber auch an Führungskräfte, Aktivist:innen, Unternehmer:innen, Projektleiter:innen, lokal Engagierte und viele mehr richtet, die den Anspruch haben, mit ihrer Arbeit einen positiven Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

B.L.: Was verpasst man, wenn man es nicht gelesen hat?

J.R.: Das Buch ist voller Modelle, Methoden, Theorie und Praxis, so dass wir zu informiert Handelnden werden können. Ich persönlich sehe den wertvollsten Beitrag des Buches aber darin, dass es ein neues ökologisches Paradigma anbietet, mit dem wir die Prozesse von Entwicklung, Veränderung und Gestaltung viel besser verstehen und anwenden können.

B.L.: Du sagst, es gehe dir um die „Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation“. Das klingt im ersten Moment ziemlich abgehoben. Weshalb hältst du diese Neuerfindung für notwendig?

J.R.: Das ist natürlich erst einmal eine Provokation. Und eine homogene globale Zivilisation gibt es in diesem Sinne auch gar nicht. Aber klar ist: Wenn wir global so weitermachen wie bisher, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen und damit das, was wir Zivilisation nennen. Das kennen wir aus der Vergangenheit der Menschheit im Kleinen. Da konnte es dann aber immer an anderer Stelle weitergehen. Kollabieren wir heute als globale Zivilisation, gibt es keinen Ausweichplaneten. Diesmal muss es uns gelingen, uns neu zu erfinden, bevor wir komplett kollabieren. Das nenne ich Neuerfindung unserer Zivilisation.

B.L.: Wer bist du, um sagen zu können, du wärest zu einer solchen Konzeptleistung in der Lage?

J.R.: Mein Beruf ist es, seit ca. 25 Jahren kleine und große Gruppen darin beizustehen, sich selbst neu zu erfinden – vom Dorf bis zur nationalen Ebene habe ich Beteiligungs- und Gestaltungsprozesse konzipiert und begleitet. Meine Leistung dabei ist es, den Prozess zu strukturieren und zu halten, in dem diese Gruppen sich selbst erfinden. Ich bin so etwas wie eine Gestaltungshebamme. In diesem Sinne würde ich mir auch nicht anmaßen, alleine unsere Zivilisation neu zu erfinden. Aber ich fühle mich gut darauf vorbereitet, auch große internationale und globale Prozesse zu konzipieren, methodisch zu unterstützen und zu begleiten, in denen die Beteiligten miteinander beginnen, „Zivilisation“ neu zu erfinden.

B.L.: Gibt es nicht mehr als eine Zivilisation auf dem Planeten? Wenn du also von „planetarer Zivilisation“ sprichst, klingt das so, als würdest du die westliche, industriell geprägte Zivilisation mit der planetaren gleichsetzen?

J.R.: Ja genau, das klingt so, dessen bin ich mir bewusst, und das ist natürlich nicht so. Und doch gibt es so etwas wie eine globale diverse Gesellschaft, globale Märkte, eine globale politische Arena, eine globale Medienlandschaft, globale Diskurse, globale Konflikte und globale Prozesse, zum Beispiel in Bezug auf Corona oder den Klimawandel. Dieses sehr heterogene Feld nenne ich vereinfacht globale Zivilisation, um klarzumachen: Dieses globale Feld ist in seiner Ganzheit eher toxisch als heilsam. Es muss transformiert werden im Sinne einer globalen Regeneration.

B.L.: Du schreibst ein ganzes Buch lang über Methoden und Werkzeuge. Hast du keine Sorge, dass deine Zielgruppe auf Inhalte pocht?

J.R.: Das ist die Krux. Es gab viele, die hätten sich lieber ein einfaches Rezeptbuch gewünscht: Lösungen zum Nachmachen. Und genau da wollte ich ehrlich bleiben: Aus dieser Rezeptlogik müssen wir aussteigen, sie ist Teil des Problems. Nachhaltige Lösungen haben immer damit zu tun, dass wir lokale Kontexte verstehen und dafür angepasste Lösungen entwickeln. Das habe ich aus der Permakultur gelernt. Dazu müssen wir uns trainieren und ausbilden. Dafür braucht es Methoden und Werkzeuge. Den Rest müssen die Kokreator:innen vor Ort leisten.

B.L.: Du schreibst: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Das ist logisch. Nur: Wie willst du als Kind der alten Zivilisation Werkzeuge einer neuen Zivilisation finden?

J.R.: Das geht nur über Transformationsprozesse. Und ich benutze diesen Begriff nicht leichtfertig, sondern in aller Konsequenz und Tiefe: Jede:r, der oder die mal einen Kulturschock erlebt hat und sich in eine neue Kultur einleben musste, der oder die eine religiöse Einstellung geändert hat, das berufliche Leben neu begonnen hat oder eine langfristige Beziehung für eine neue verlassen hat, kennt solche einschneidenden Veränderungsprozesse. Ich selbst habe meine ganz persönlichen Krisen und Auseinandersetzungen gehabt, in denen ich immer wieder zumindest Aspekte der „alten Zivilisation“ persönlich transformieren konnte. Meine Gründungen der Permakultur Akademie, des Instituts für partizipatives Gestalten und der Cocreation Foundation waren jeweils von genau solchen Erkenntnisprozessen getragen, die dann ihren gestalterischen Ausdruck in diesen Organisationen gefunden haben. Aber natürlich bin auch ich noch verhaftet, ich verstehe mich als Mensch in Transition.

B.L.: Obwohl du deine Augen nicht vor der Lage der Menschheit verschließt („Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich“), ist der Grundtenor deines Buches ausgesprochen positiv. Woher nimmst du deinen Optimismus?

J.R.: Der Optimismus ist eine Überlebensstrategie. Ohne ihn hätte ich gar nicht die Kraft, das zu tun, was ich tue. Woher sollen wir die Energie für so viel Wandel und Gestaltung nehmen? Ich glaube, dass wir das nur schaffen, wenn wir aus dieser Aufgabe Kraft, Freude, Lebendigkeit und Fülle für uns schöpfen. Ich mache das mit Hoffnung spendenden Narrativen. Wenn ich mich damit selbst manipuliere, nehme ich das gerne in Kauf: Lieber eine positive selbsterfüllende Prophezeiung als eine negative!

B.L.: Das Buch war der Band 1. Was können wir von Band 2 erwarten?

J.R.: In Band 1 haben wir den Werkzeugkoffer gepackt und uns den Kollaps und die Vision angeschaut. In Band 2 gehen wir in die Transformation, in die Höhle des Monsters sozusagen. Die drei bestimmenden Themen werden sein: Resonanz, Trauma und Krise. Heftiger Stoff, aber auch unglaublich spannend! Ich forsche gerade sehr stark dazu, was es in Gruppen heißen kann, das kollektive Nervensystem zu beruhigen, zu regulieren und Traumata zu integrieren. Ich glaube – eine weitere grobe Metapher –, dass unsere globale Zivilisation sich am besten mit einer Suchtanalogie beschreiben lässt: Wir sind süchtig nach Energie und Konsum. Eine nachhaltige Regeneration wird uns nur gelingen, wenn wir von der Nadel kommen. Das ist keine einfach zu lösende Sachthematik, sondern ein kollektivpsychologisches Problem. Aber meine Arbeitsweise ist ja generativ, ich bin selbst gespannt, was im weiteren Schreibprozess passiert.

Rezension

Internetseite zum Buch

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Design für die Rettung der Welt – so der Anspruch eines kürzlich erschienenen Buches

„Wie können wir es schaffen, mit zehn bis zwölf Milliarden Menschen gut auf dieser Erde zu leben? Wie erreichen wir für alle ein Leben in angemessenem Wohlstand, in Frieden und Freiheit und in einem global intakten und vielfältigen Ökosystem?“ Jascha Rohr

Von Bobby Langer

Könnte man den geläufigen Ausdruck „das Buch der Stunde“ auf eine ganze Epoche übertragen, dann träfe er auf dieses Buch zu. Es erhitzt sich nicht an – immer diskutablen – Inhalten, sondern beschäftigt sich klug, systematisch und auf viel Erfahrung zurückgreifend mit den uns bleibenden Möglichkeiten, das Ruder herumzureißen.

Der Autor Jascha Rohr beschreibt sein Buch folgendermaßen: „Wir haben einen kokreative Werkstatt in Form eines Buches vor uns, die aus einer Reihe von Werkräumen besteht, den Kapiteln dieses Buches. Unser Ziel ist der Entwurf für die große Kokreation.“

Kein Was ohne Wie

Für viele Laien, aber auch Experten in Sachen Nachhaltigkeit, Erderwärmung oder Artensterben sieht es eher hoffnungslos aus. Gleich dem vom Auge der Schlange gebannten Kaninchen stehen sie dem lebensverschlingenden Verhalten der industriellen Zivilisation ratlos gegenüber. Jascha Rohr hat – wenigstens für sich – diesen Bann gebrochen. Statt sich dystopischen Gedanken zu überlassen, überlegt er, wie eine nachhaltige Umgestaltung der Welt funktionieren könnte. Denn, so findet er, ohne über das Wie nachgedacht zu haben, brauchen wir uns über das Was erst gar keine Gedanken zu machen. „Die große Kokreation“ ist für ihn ein „Entwurf darüber, wie wir unsere globalen Probleme besser miteinander lösen können“. Die Zukünftigen lässt er rufen: „Stellt euch den Herausforderungen und Schwierigkeiten, entwickelt positive Wirkung. Baut auf das, was euch Kraft gibt und im besten Sinne wirkmächtig macht – auf eure Lebendigkeit, Kreativität, Freude und Liebe, eure Lust, Begeisterung, Intelligenz und Empathie.“

Nicht nur lesenswert, sondern auch lesbar

Rohrs Buch ist eine „Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“ – so der Untertitel. Das kann nicht anders als komplex und auf hohem theoretischen Niveau angegangen werden. Und doch gelingt es dem Autor, sich dem großen Thema klar, übersichtlich und auch sehr persönlich und menschlich zu nähern. Mit anderen Worten: Man muss nicht Sozialwissenschaften studiert haben, um es lesen zu können. Dazu trägt bei, dass Jascha Rohr sowohl induktiv wie deduktiv arbeitet; d. h. manchmal begibt er sich von einem praktischen Beispiel ausgehend auf die Metaebene, manchmal startet er gedanklich auf der Metaebene und belegt seine Gedanken durch ein Beispiel. Selbst die Grafiken sind dank ihrer Skizzenhaftigkeit besser nachvollziehbar und einprägsamer, als dies „perfekte“, theoriebezogene Grafiken normalerweise sind. Und noch eines macht sein Buch lesenswert: Es ist getragen von dem unbedingten Willen, Positives in die Welt zu bringen – ohne die Augen vor den drängenden Problemen zu verschließen.

Methoden zur Neuerfindung der planetaren Zivilisation

Entscheidend für Jascha Rohr: Es geht nicht um fertige inhaltliche Lösungen, sondern um die „Beschreibung des Wie …, also eines Prozesses. Dieser Prozess hat im Grunde längst schon begonnen … Es ist ein Prozess, in dem wir miteinander lernen, unsere Probleme ganz anders zu lösen, als wir es bisher versuchen … Das Ziel ist nichts Geringeres als die Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation.“ Ein hoher Anspruch.

Die zentrale Methode für dieses „Global Resonance Project“ nennt er „Resonanzarbeit“. Und das ähnelt keiner bekannten Methode, ganz im Gegenteil: „Resonanzarbeit folgt keiner festen Strategie, sondern ist mäandernd, verknüpfend, assoziativ. Sie stellt vielfältige Verbindungen und Beziehungen her, um Kreativität, Ideen und Innovationen anzuregen. Im Idealfall entsteht daraus am Ende ein kokreativer Entwurf.“ Der Prozess ist „entwurfsorientiert. Er ist ein Angebot zum Selbstdenken, zum Entwickeln und Mitgestalten … [Das Buch] bietet die Möglichkeit der Auseinandersetzung in einem Feld – in diesem Fall ist das die planetare Zivilisation –, damit dann aus dem eigenen Impuls heraus und mit den eigenen Potenzialen und Möglichkeiten transformatorische Projekte entwickelt und in die Umsetzung gebracht werden können, sodass am Ende eine reale Veränderung in der Welt entsteht“.

Aus einem alten Hut wird kein neuer

Jascha Rohr geht es um zwei Fragen:

„Wie kann es sein, dass wir als Spezies unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören?“
Und: „Was kann Kokreation dazu beitragen, dass sich diese Dynamik zum Positiven wendet?“

Der Leser kann, wenn er möchte, mitverfolgen und dabei erlernen, wie sich Methoden in kokreativen Prozessen kontextspezifisch aus dem Prozess entwickeln und ist eingeladen, „in der eigenen Praxis mit diesen Ansätzen zu experimentieren“. Personen, die an eigenen Prozessen und Projekten arbeiten, empfiehlt Jascha Rohr, das Buch mit dem eigenen Projektteam zu lesen.

Klar: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Um diesem Fehler nicht zu erliegen, kommt die Kokreation ins Spiel, ein Wort, das der „Kooperation“ oder „Kollaboration“ ähnelt, sich aber deutlich davon unterscheidet. So bezieht sich das „Ko“ in Kokreation nicht nur auf Mitmenschen, sondern auf die gesamte Mitwelt, also auf alle Mitgeschöpfe, auch: Mitdinge. Es geht darum, Mittel und Wege zu finden, „mit der gesamten Welt gemeinsam zu gestalten, statt die gesamte Welt als Menschen zu gestalten“. Das klingt in der Tat nicht mehr nach einem „Werkzeug der alten Zivilisation“. Der Wortteil „kreation“ in Kokreation bezieht sich auf Kreativität als Grundlage von Emergenz in Kunst und Kultur, wozu unbedingt auch Architektur, Philosophie, Ingenieurskunst und Wissenschaft gehören. Anders als in der alten Zivilisation lässt sich in einem kokreativen Entwurfsprozess „meist gar kein klares Ergebnis definieren, sondern eher einen Ergebnistyp“. Auf der Suche nach neuen Lösungsansätzen werden „die Themen, Akteure und Kontexte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt“.

Das ontologische Grundproblem angehen

Der Vater aller Probleme ist der Subjekt-Objekt-Dualismus, den Jascha Rohr als „ontologisches Grundproblem der ökologischen Krise“ identifiziert. Um sich von ihm zu lösen, sind die entscheidenden begrifflichen Werkzeuge:

Das Feld: „die räumliche Konstellation von miteinander interagierenden Partizipateuren und ihre Wirkungen aufeinander“ (auch: „die Wirkungen und Kräfte, die sich zwischen den Elementen aufspannen“). Anders als „Systeme“ sind Felder nicht durchschaubar und nicht steuerbar.

Der Prozess: „die sich zeitlich entfaltende Dynamik eines Feldes“, bestehend „aus allen diesen Prozess prägenden Partizipateuren, deren Wirkungen und Interaktionen sowie der fortschreitenden generativen Entwicklung, die daraus resultiert“. Besonders wichtig und auch schon in kleinem Rahmen anwendbar und aufs Größere übertragbar: „Prozesse sind fraktal und verschachtelt.“ Zur Erklärung des damit Gemeinten: „Unser Leben ist ein Prozess, aber unsere Ausbildung, Beziehungsphasen und die Phasen, in denen wir einer bestimmten Profession nachgehen, sind ebenfalls Prozesse.“

Indem Rohr die Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ abschafft und durch „Partizipateur“ ersetzt, schafft er die gedankliche Voraussetzung für einen tatsächlich ontologischen Paradigmenwechsel: „Alle Dinge der Welt sind Dinge der Welt, weil sie an der Welt teilhaben.“ Folgerichtig können auch „eine Geschichte, eine Kaffeetasse, eine Blume und die Gravitation“ Partizipateure sein: „Alles in der Welt ist Partizipateur, wenn es wirkt und teilhat. Was nicht wirkt und an nichts teilhat, existiert nicht.“

Zusammenfassend: „Ein Feld ist ein Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein Prozess ist ein Feld in seiner dynamischen Entfaltung.“ Die große Aufgabe, die Zukunft zu gestalten, kann folglich kein „funktionales Gestalten“ sein – das wäre das Übliche –, sondern „ein generatives, wechselseitiges, fluides Interagieren mit den Prozessen, die uns gestalten, während wir gestalten“. Erst wenn wir „die Dinge in ihrer jeweiligen intrinsischen Eigenart als Gegenüber anerkennen“, wird tatsächlich ein Ausweg aus dem Subjekt-Objekt-Dualismus vorstellbar hin zu einer ökologischen, kokreativen Demokratie.

Die dazu fähige und dafür notwendige Kulturtechnik ist die Kokreation. „Sie ist das Wie: Wie gestalten wir gemeinsam. Das Was ergibt sich dann daraus … das wird synchron passieren: Wir werden diese erst in den Anfängen sichtbare Kulturtechnik entdecken, entwickeln, erfinden, erlernen und trainieren müssen, während wir beginnen, sie anzuwenden und erste Ergebnisse zu produzieren.“

Und das ist dabei die Herausforderung: „Da rollt die phantastischste Wahnsinnswelle auf uns zu, die wir je haben reiten können. Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich, aber der Ritt, den wir nehmen könnten, kann der beste unseres Lebens werden.“ Sich dem zu stellen, ist eine gewaltige und riskante Aufgabe mit ungewissem Ausgang. Das schätzt auch Jascha Rohr so ein und gesteht: „Dieses Buch ist ein Wagnis und der Versuch, eine visionäre Geschichte zu erzählen.“ Ihm zuzuhören, ist fesselnd und lädt ein, dabei zu sein beim „planetaren Fest der Gestaltung“.

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Interview mit Jascha Rohr

Internetseite zum Buch

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Kein Geringerer als Fritjof Capra meinte zu dem im Folgenden besprochenen Buch „Regenerative Kulturen gestalten“: „Dieses Buch ist ein wertvoller Beitrag zu der Diskussion über die Weltanschauung, die wir brauchen, um unsere gesamte Kultur so zu gestalten, dass sie sich regeneriert und nicht zerstört.“

Rezension von Bobby Langer

Womit Fritjof Capra die Aufgabenstellung, um die es geht, auf den Punkt gebracht hat: „unsere gesamte Kultur so zu gestalten, dass sie sich regeneriert und nicht zerstört.“ Die Betonung liegt auf „gesamte Kultur“. Kein Mensch, auch keine Organisation könnte diese Mammut-Aufgabe schaffen. Und doch muss sie sein, wenn wir nicht im größten anzunehmenden Unglück landen wollen, das dereinst die Menschheit ereilen wird.

Richtige Fragen statt richtiger Antworten

Daniel Christian Wahl (DCW) hat diese ungeheure Aufgabe mit seinem Buch in den Blick genommen. Nicht weil er wüsste, wie es geht, sondern weil er zumindest ganz gut weiß, wie es nicht geht: mit business as usual. So besteht seine Leistung letztlich aus einer gedanklichen Doppelarbeit: einerseits die ausgetretenen Pfade der Irrtümer und zuverlässigen Zerstörungen zu analysieren und andererseits Mittel und Methoden zu beschreiben, mit denen sich erstere vermeiden lassen. Die wichtigste Methode dabei lässt sich mit Rilkes berühmtem Satz zusammenfassen: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“ Es geht also nicht darum, die richtigen Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Erst wenn es uns gelingt, die Richtung zu ändern, mit der wir uns in die Zukunft bewegen, können sich brauchbare Erfolge einstellen. Was geschieht, wenn wir das nicht tun, beschreibt ein chinesisches Sprichwort: „Wenn wir unsere Richtung nicht ändern, werden wir wahrscheinlich genau dort landen, wo wir gerade hingehen.“

Aber lohnt es sich denn überhaupt, die Richtung zu ändern, um die kulturellen Errungenschaften der Menschheit zu erhalten? Immer wieder taucht diese Frage auf, die wohl die gesamte Transformationsbewegung weltweit umtreibt. DCW hat darauf eine klare Antwort:

„Wir wissen weder, dass eine andere Spezies Gedichte schreibt oder Musik komponiert, um das verbindende Gefühl, das wir Liebe nennen, widerzuspiegeln, noch wissen wir, wie sich das Vergehen der Jahreszeiten für einen Mammutbaum anfühlt oder wie ein Kaiserpinguin subjektiv die ersten Sonnenstrahlen nach dem antarktischen Winter erlebt. Aber gibt es nicht etwas Schützenswertes an einer Spezies, die sich solche Fragen stellen kann?“

Vier Einsichten für eine lebenswerte Zukunft

Wie ein roter Faden zieht sich eine Kern-Einsicht des Autors durch alle Kapitel: dass wir nämlich nicht wissen können, was auf uns zukommt. Nur wenn wir kokreativ mit dieser Unsicherheit umzugehen bereit sind und unser Verhalten immer wieder neu justieren, haben wir eine echte Chance. Eine zweite Einsicht gesellt sich zur ersten. Sie ist der Natur abgeschaut: Zu schaffen sei ein lebendiger, ein regenerativer Prozess, der bis ins Detail das Leben fördert. Denn Natur ist Leben, das Leben fördert. Und auch mit einem dritten Prinzip ist die Natur als Vorbild zu nehmen: dass sie nämlich ­– so groß sie ist und so universell ihre Gesetze sind – nicht in Monopolen funktioniert, sondern in kleinen, lokalen und regionalen Netzwerken, Netze in Netzen in Netzen. Was wir brauchen, schreibt DCW, ist ein „Feingefühl für den Maßstab, die Einzigartigkeit des Ortes und die lokale Kultur“. Und: „Wir müssen das traditionelle ortsbezogene Wissen und die Kultur wertschätzen, ohne in die Fallen eines wiederauflebenden radikalen Regionalismus und engstirnigen Pfarrei-Denkens zu tappen … Systemische Gesundheit als emergente Eigenschaft regenerativer Kulturen entsteht, wenn lokal und regional angepasste Gemeinschaften lernen, innerhalb der durch die ökologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer lokalen Bioregion gesetzten ‚förderlichen Einschränkungen‘ und Möglichkeiten in einem global kooperativen Kontext zu gedeihen.“

Ein viertes Prinzip lässt sich von diesen drei nicht trennen: das Vorsorgeprinzip, das damit beginnt, für die jederzeit möglichen Änderungen der Umstände vorgesorgt zu haben. Unter Vorsorge versteht DCW aber auch unsere Haltung, mit der wir gestaltend mit der Welt umgehen. „Wir brauchen dringend einen hippokratischen Eid für Design, Technologie und Planung: Do no harm! Um diesen ethischen Imperativ in die Tat umzusetzen, brauchen wir eine salutogene (gesundheitsfördernde) Absicht hinter allem Design, aller Technologie und Planung: Wir müssen Design machen für Menschen, Ökosysteme und die Gesundheit des Planeten.“ Ein solches Design „erkennt die untrennbare Verbindung zwischen menschlicher, ökosystemischer und planetarischer Gesundheit an“. Um da hinzukommen, sei das Meta-Design, das „Narrativ der Trennung“, zu ändern hin zu einem „Narrativ des Interbeing“; Design sei der Ort, an dem sich Theorie und Praxis treffen.

Mit Bescheidenheit und Zukunftsbewusstsein handeln

Auf Basis dieser Überlegungen und Analysen entsteht im Laufe der rund 380 Seiten dann doch eine Art Werkzeugkasten für den Umbau der westlichen Industriekultur. Dazu hat DCW alle gedanklichen und praktischen Ansätze der letzten Jahrzehnte ausgewertet und in seine Überlegungen miteinbezogen. Es geschieht ja schon so viel weltweit auf allen Kontinenten. Nun gilt es, alle diese Bemühungen in einen gemeinsamen Prozess einmünden zu lassen, um „the great turning“, wie Joana Macy das nannte, ins Werk zu setzen.

Konsequenterweise hat DCW zu jedem Kapitel ein Fragenset erarbeitet, das dabei unterstützen soll, den statischen Ist-Zustand des jeweiligen Themas aufzugeben und in einen zukunftsfähigen Prozess zu überführen: die chemisch-pharmazeutische Industrie, die Architektur, die Stadt- und Regionalplanung, die industrielle Ökologie, die Gemeinschaftsplanung, die Landwirtschaft, das Unternehmens- und Produktdesign. Denn „systemisches Denken und systemische Interventionen sind mögliche Gegenmittel für die unbeabsichtigten und gefährlichen Nebenwirkungen der jahrhundertelangen Konzentration auf reduktionistische und quantitative Analysen, die von dem Narrativ der Trennung geprägt sind“. So lautet eine Kernfrage, um die so unabdingbare „transformative Resilienz“ zu erreichen: „Wie können wir angesichts der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit komplexer dynamischer Systeme mit Bescheidenheit und Zukunftsbewusstsein handeln und vorausschauende und transformative Innovationen anwenden?“

Tatsächlich hat es etwas Entlastendes zu wissen, dass wir keine endgültigen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben müssen bzw. gar nicht geben sollen. „Indem wir die Fragen gemeinsam leben“, schreibt DCW, „anstatt uns mit endgültigen Antworten und dauerhaften Lösungen zu beschäftigen, können wir den vergeblichen Versuch aufgeben, unseren Weg in die Zukunft zu kennen.“ So hat sein Buch letztlich mehrere Wirkungen auf den Leser: Es ist entlastend, inspirierend, informativ, Hoffnung machend und praxisorientiert zugleich – ziemlich viel für ein Buch.

Daniel Christian Wahl, Regenerative Kulturen gestalten, 384 S., 29,95 Euro, Phänomen Verlag, ISBN 978-84-125877-7-7

von Isabel Batista

(zu Teil 2)

Unsere Welt ist ein lebendiges System aus Zyklen, Rhythmen und Prozessen. Es unterliegt bestimmten Naturgesetzen. Doch mit unserer Art des Lebens und Wirtschaftens verstoßen wir jeden Tag aufs Neue gegen diese Naturgesetze. Das hat schwerwiegende Veränderungen auf dem Planeten Erde verursacht. Um den Prozess der Zerstörung zu stoppen, müssen wir zu Systemwandlern werden. Wir müssen die von uns geschaffenen Systeme wieder in Einklang mit den Naturgesetzen bringen. Eines dieser Systeme ist die Landwirtschaft. Weiterlesen

von Theresia Maria Wuttke

Wir brauchen die Transformation unserer Gesellschaft vom Ich zum Du zum Wir, denn in der Wir-Qualität verbinden sich die Potenziale des Einzelnen mit den Potenzialen von vielen zum Wohle des Ganzen. Weiterlesen