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In diesem zweiten Teil der Reihe geht es um den sogenannten Earth Overshoot Day, den Tag im Jahr, an dem wir dem Ökosystem mehr entnommen haben, als dieses natürlicherweise regenerieren kann.

Teil 2 von Daniel Christian Wahl

Krankheiten vermeiden? Besser Gesundheit kreieren. Umweltschäden reparieren? Besser ökologische Systeme schaffen, die sich selbst am Leben halten und regulieren können. Gesellschaftliche Brüche kitten? Besser aktiv Gemeinschaften organisieren, die die psychosoziale Gesundheit und das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl von Menschen dauerhaft gewährleisten. Unser politischer Diskurs ist zu sehr darauf fixiert, allgegenwärtige Verschlimmerungen aufzuhalten, abzumildern und im besten Fall rückgängig zu machen. So bleiben wir auf das Negative und dessen „Bekämpfung“ fixiert. Ins Positive gewendet, sollten ökologische und soziale Systeme mit einem hohen Grad an Resilienz geschaffen werden — weniger abhängig von andauernder menschlicher Korrektur, selbstreparierend, nachhaltig. Wie das funktionieren könnte, zeigt der Autor in seiner dreiteiligen Serie auf.

Teil 1 von Daniel Christian Wahl

→ Teil 2 (geplant für 19.3.24)

→ Teil 3 (geplant für 21.3.24)

Mit realistischen 3-D-Bildern ermuntert das Buch „Zukunftsbilder 2045“ zu einer zukunftsfähigen Stadtplanung

Rezension von Bobby Langer

„Aus der Krise kann eine neue Welt entstehen, die nicht unserem Verstand entspringt, sondern unseren Träumen. Denn auch, wenn wir nicht genau wissen, wie die Zukunft aussieht, sollten wir sie uns vorstellen. Denn wir können nur erschaffen, was wir als Vision in unserem Herzen tragen“, schrieb die Ökophilosophin Joana Macy. Die 174 Seiten von „Zukunftsbilder 2045“ haben genau das getan.

Doch bevor dieses in seiner Art einmalige, hoffnungsfrohe und zukunftsweisende Buchprojekt möglich wurde, waren ein paar Jahre der Planung nötig; außerdem mussten zig Tausend Euro finanziert werden – was letztlich nur durch ein professionelles Team und unbedingte Hingabe an die Sache funktionieren konnte.

Was gelingt also diesem Buch? Es überführt den Status Quo von Städten und Kommunen (von 2022) in ihr eigenes Zukunftsbild. Das geschieht einerseits in erzählerisch interessanten Texten (Tagebuch, Interview), andererseits aber neu und innovativ als naturgetreues, großformatiges Bild der eigenen Zukunft. Deshalb lautet der Untertitel des beim renommierten oekom Verlag erschienenen Bildbandes auch „Eine Reise in die Welt von morgen“. Für den Leser wird er damit zu einer Kombination aus intellektueller Horizonterweiterung sowie einem Wimmel-Bilderbuch für Erwachsene – und zwar für Erwachsene, denen das Thema Nachhaltigkeit bzw. Zukunftsfähigkeit am Herzen liegt.

Der Leser erlebt die Welt von 2045 ganze 17-mal und zwar die Zukünfte von Berlin (zweifach, einmal zum Thema Renaturierung, einmal zum Thema Gesellschaftsentwicklung), Bremerhaven, Düsseldorf, Emden, Frankfurt, Haan, Hamburg, Köln, Ludwigsburg, Lüneburg, München, Stuttgart, Wien, Leipzig, Wiesenburg, Zürich. Vergleichsweise einfach wäre die Aufgabenstellung für kleinere, weniger komplexer Städte gewesen. Für Konglomerate wie Hamburg, Berlin oder Wien hingegen waren der Rechercheaufwand sowie der graphische Aufwand immens. Das Redaktionsteam hat mit mehreren 3D Grafikagenturen zusammengearbeitet, um die aufwändige Umwandlung heutiger Drohnenfotos zu fotorealistischen Zukunftsszenen zu stemmen.

Die Entwicklungsrichtung der dargestellten Kommunen war nicht der Laune der AutorInnen überlassen; vielmehr folgten sie Zielvorgaben, die die Klima- und Umweltforschung zur Bewältigung der Ökokrise in den letzten Jahren entwickelt hat. Die erzählten und illustrierten Visionen sind also keine lineare Fortschreibung des heutigen Zustands, sondern regenerative Visionen; denn, so die AutorInnen, „die Schäden an der Natur sind inzwischen so groß, dass »Nachhaltigkeit« längst nicht mehr genügt“.

Die Erzählung leitet nicht von der Gegenwart in die Zukunft, sondern umgekehrt. Die Protagonistin, die „Redakteurin Liliana Morgentau“, unternimmt von Mai bis Juni 2045 eine Deutschlandreise und lässt sich von ZeitzeugInnen berichten, wie es möglich wurde, dass sich kleine und große Städte völlig neu erfanden, um den EU-Meilenstein der Klimaneutralität zu erreichen – was ohne gesellschaftliche Umwälzungen nicht möglich war. So sind neue gesellschaftliche Errungenschaften wie das Zukunftsparlament der UNO entstanden; dort wird, als nächste gesellschaftliche Entwicklungsstufe, über die „Biokratie“ nachgedacht, eine künftige Demokratie aller Lebewesen. Und im Zürich des Jahres 2045 ist das Geld längst in den Dienst der Menschen gestellt. Kein Wunder also, dass die Schweizer Großbank UBS, die heutzutage den Paradeplatz dominiert, durch die Bank für Gemeinwohl ersetzt wurde.

Zum Ende des Buches stellt sich ein Gefühl ein, dass einen nur selten ereilt: Dankbarkeit gegenüber dem AutorInnen-Team. Dankbarkeit für die umfassende Schau einer lebenswerten – und machbaren – Zukunft, Dankbarkeit aber auch für die Hoffnung, die nach der Lektüre unvermeidlich ist.

Übrigens wurde „Zukunftsbilder 2045“ von der Wochenzeitung der Freitagzum Buch der Woche“ gekürt.

Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. Von Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar, oekom Verlag, ISBN 978-3-96238-386-2, 33,00 Euro

Lust auf eine Leseprobe? Dann gerne HIER.

Auf der Homepage zum Buch finden sich viele weiterführende Anregungen und Links, denn mit der Lektüre hat ja ein Stück Zukunft begonnen. Die Rubrik Toolbox stellt den BesucherInnen eine Reihe von Methoden zur Verfügung, mit denen sie ihre eigenen Utopien sowie die von Gruppen und Organisationen entwickeln können. Er erhält außerdem Werkzeuge, mit deren Hilfe er eine Welt voller Potenziale sehen kann und mit denen er seine Utopie in die Realität bringt.

Bevor ich überhaupt mit diesem Text beginne, möchte ich vorausschicken, dass ich großen Respekt vor Menschen habe, die ihr Bestes geben oder gegeben haben und „einfach nicht mehr können“. Denn das ist wertvoller Selbstschutz und keine Resignation. Doch Resignation ist tatsächlich oft ein Irrtum, und noch dazu ein „vom System“ suggerierter – was es umso schlimmer macht.

Auch Resignation ist Selbstschutz

Resignation bedeutet, man hält eine Sache für aussichtslos und hört deshalb auf, zu kämpfen bzw. überhaupt irgendetwas zu tun. Wer in Sachen Demokratie oder Gaia resigniert, der begibt sich in eine hoffnungslose Grundhaltung, dreht sich um, murmelt „Es ist eh alles egal“, wählt rechts oder kauft sich einen SUV. Wer richtig gründlich resigniert, für den bedeutet Resignation eine Entlastung. Er übergibt sein Gewissen sozusagen dem Mainstream und ist damit, energetisch betrachtet, fein raus. Ich meine das rein beschreibend, nicht bewertend. Auch Resignation hat einen Aspekt des Selbstschutzes.

Resignation wegen Selbstüberschätzung?

Entscheidend ist, was der Resignation vorausgeht. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Ich bin 13 Jahre alt und möchte den Mount Everest besteigen. Schon auf halbem Weg zum Basislager merke ich, wie mir bei 20 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken die Kraft ausgeht, und ich resigniere. Der Resignation ging in diesem Fall ein unrealistisches Ziel voraus. Zweites Beispiel: Ich bin 70 Jahre alt und will mich nochmals so richtig verlieben. Nach drei Dates gebe ich auf und resigniere. Was ging hier der Resignation voraus? Offenbar eine Fehleinschätzung meiner Chancen. Natürlich könnte das klappen, aber eben nicht so schnell. Vielleicht brauche ich 15 oder 30 Versuche. Hinter der Fehleinschätzung könnte sehr leicht Selbstüberschätzung stecken: „Ich bin so schön, dass alle auf mich fliegen, sobald ich mich zeige.“

Das alte Tellerwäscher-Märchen

Damit sind wir der Kernaussage des Titels schon auf der Spur. In Sachen Demokratie oder Mitwelt lohnt sich aber eine Vertiefung. Beides sind hochkomplexe Themen. Sehe ich also die Demokratie oder die Mitwelt gefährdet, dann kann mich das so sehr berühren, dass ich aktiv werden möchte. Bis dahin gibt es auch kein Problem. Bin ich aber nun der Meinung, ich könnte die Demokratie oder die Mitwelt „retten“ (oder das Klima oder die Berggorillas oder …), dann habe ich entweder nicht die Dimension des Problems verstanden oder ich halte mich für Supergirl oder Superman – und bin damit dem „System“ aufgesessen, das mich glauben machen will, ich, ich ganz allein, könne der oder die Größte sein, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden.

Leidenschaftliche Geduld

Anders herum: Mit einer realistischen Einschätzung der Situation und einer mit Leidenschaft gepaarten Geduld kann ich immer neue, kleine, erfolgreiche Schritte tun und vielleicht sogar das große Ziel erreichen. Unter Umständen bezwingt ja der 13-Jährige zehn Jahre später den Mount Everest – nach viel Training, Bergsteigerkursen und 1000 Stunden Erfahrung am Berg. Spirituell benutzt man in so einem Fall das unscheinbare Wörtchen Demut, hinter dem sich eine mächtige Möglichkeit verbirgt.

Wenn Demut sich mit der Erkenntnis verbindet, dass große Ziele nie allein zu bewältigen sind, dass wir dafür PartnerInnen, BegleiterInnen, FreundInnen, UnterstützerInnen, kurz Gemeinschaft brauchen, dann nimmt nicht nur die Arroganz ab, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, resignieren zu müssen. Sogar der halbe Weg zum Ziel kann dann schon eine Menge Spaß gemacht haben.

Von Bobby Langer

Aktivismus ist oldschool

Früher sagten wir ironisch: „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie.“ Letztlich ist es diese feste Überzeugung, es lohne sich, angesichts des Unmöglichen Mögliches zu versuchen, die das Unmögliche in seine Schranken zu weisen vermag – und Hoffnung macht. Einfach formuliert: Wir ringen den Gegner nieder, indem wir uns nicht auf seine Waffen einlassen. Deshalb könnte man das auch einen kulturellen Guerillakampf nennen.

Schluss mit dem Kampf gegen Windmühlen

Eine, wenn nicht sogar die Hauptwaffe des Gegners besteht darin, uns glauben zu machen, es gebe jeweils einen leicht identifizierbaren Gegner: die Polizei zum Beispiel, die Banker, die Pharma- und Waffenindustrie, die Politiker, die Manager. Was für ein Pech: Es gibt sie nicht, sie sind allesamt nicht vorhanden. Es gibt nicht „die“ Politiker, nicht „die“ Polizei, noch nicht einmal „die“ Waffenindustrie. Sie alle sind Schimären, die das Feindbild-Szenario bevölkern und uns gegen Windmühlen kämpfen lassen. Wer nun meint, er könne, ja müsse, diese Schimären bekämpfen, egal ob mit Gewalt oder ohne, gehört zur Gruppe der Aktivisten, die sich neuerdings – und sehr viel cooler – „Aktivisti“ nennen.

Ein Postaktivist namens Franziskus

Oft noch unsichtbar, aber bereits gestaffelt dahinter (oder davor, je man Perspektive) stehen die Postaktivisten. Sie eint die „unbedingte Überzeugung, dass ein sehr grundsätzlicher Wandel gelingen kann“. Postaktivistinnen glauben nicht mehr an einzelne Verfehlungen innerhalb „des Systems“, sie denken über Systemchange nach. Und sie bestehen auf diesem Nachdenken, egal, ob sie „von irgendeinem eloquenten Politiker oder CEO als undemokratisch“ bezeichnet werden. Das Totschlagargument ist ihnen egal, weil ja Totschlag systemimmanent ist. „Diese Wirtschaft tötet“, befand Papst Franziskus, der definitiv kein activisto ist, sondern eben ein Postaktivist. Postaktivisten eint das Bewusstsein, sich „viel grundsätzlicher zu empören, zu vernetzen und selbst für die Zukunft des Planeten einzustehen“. Aktivismus im oben beschriebenen Sinne ist einfach oldschool.

Zivilisatorische Kehrtwende

Phillip Maiwald hat sich auf das Phänomen Postaktivismus eingelassen und ihm ein gleichnamiges Buch gewidmet, Untertitel: „Die Stille im Inneren der Krise“. Es geht also nicht mehr darum, sich mit den Auswirkungen des Orkans zu beschäftigen, sondern bis ins stille Auge des Orkans vorzudringen. Es zeugt von Beuysscher Radikalität, wenn Maiwald fordert: „Ich bestehe … auf Schönheit und ich ernenne sie hiermit zu einer der Topmerkmale des Postaktivismus. Ich wünsche mir … einen Aktivismus, der smarter, kreativer, frecher, dabei freundlicher, unkonventioneller, radikaler und besser organisiert ist als der mir noch immer über weite Strecken begegnende.“

Postaktivismus wird gebraucht, weil der Aktivismus seit den 80er Jahren nicht funktioniert hat; sonst „würden wir heute nicht vor diesen ökologischen Wahnsinnsproblemen stehen“. Dabei will Maiwald all die kleinen Erfolge vergangener aktivistischer Aktionen nicht schmälern, doch sei jetzt weit mehr angesagt, nämlich „eine zivilisatorische Kehrtwende“: „In Anbetracht unserer heutigen Situation sollte man sich die Frage stellen, ob wir die uns anvertraute Natur durch eine alle Bereiche des Lebens durchziehende Technologie ersetzen wollen, oder ob wir versuchen wollen, das Viele am Leben zu erhalten, was heute trotz widriger Umstände noch immer da ist und was wir unsere Heimat nennen.“

Unbequeme Fragen müssen sein

Dann aber seien unbequeme Fragen zu beantworten:

– „Wie geht man emotional mit … dem Ökozid des Planeten um?“

– „Wie vereint, organisiert und mobilisiert man eine revolutionäre Bewegung?“

– „… sollten wir die Zerstörung vielleicht sogar beschleunigen, um unnötiges Leid zu vermeiden?“

– „Wie verteidigt man sich gegen den Vorwurf, Mitglied einer radikalen, ökologischen Gemeinschaft zu sein? Muss man sich überhaupt verteidigen?“

– „Ist es ein legitimer Akt von Gewalt, wenn man einen den Regenwald abholzenden Bulldozer anzündet?“

-„Ist es ein Akt von Gewalt, wenn ich Fleisch esse?“

Vom Wert der Tränen

Mit seinem Buch „Postaktivismus“ spricht Phillip Maiwald letztlich dem tiefenökologischen Gedanken das Wort, dass wir erst dann wirklich ins Handeln kommen, wenn wir den Schmerz über die Verwüstungen der Erde (und in uns) zulassen. An das berühmte William-Blake-Zitat „A tear is an intellectual thing” [eine Träne ist eine intellektuelle Sache] anknüpfend sagt er, man könne die ganze Welt daran aufhängen. Es ist eben diese Träne, die wichtiger ist als all diese „Überheblichkeiten und Grabenkämpfe“; „Wir werden in Zukunft mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die wir noch vor kurzem für Fachidioten und Hampelmänner gehalten haben, wir werden mit Nationalisten, Populisten und Kapitalisten sprechen und zusammenarbeiten müssen. Nur so können wir den Herausforderungen der Zukunft auch nur annähernd gerecht werden.“

Radikal mit dem Alten aufräumen

Die fetten Jahre sind vorbei, und die Zeit für lang gehätschelte Glaubenssätze ebenfalls. Diesbezüglich erinnert Maiwald an den riesigen Werbescreen am New Yorker Times Square, auf dem die Künstlerin Jenny Holzer den Spruch installiert hatte: „Protect me from what I want“ [Schütze mich vor dem, was ich möchte]. Vielmehr sei es sinnvoll, einen Minimalkonsens zu entwickeln, „für den man sich begeistern und einsetzen kann, während man über unvermeidliche Unterschiede … großzügig hinweg sieht“. Man könne nun mal „keinen radikalen Wandel auf den Weg bringen und zur gleichen Zeit alles beim Alten belassen“. Bei seinem Formulierungsversuch eines solchen Minimalkonsens‘ zeigt sich rasch, welche Tabuthemen angefasst werden müssten, zum Beispiel: konsequente Umverteilung von materiellem Reichtum, Schließung energieverschlingender Veranstaltungsräume, neues Finanzsystem, sofortiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Vergesellschaftung der Chemie-, Energie- und Stahlindustrie, Austritt aus der Nato. Stattdessen Verankerung von Tier-/Pflanzenrechten und den Rechten kommender Generationen im Grundgesetz, Einführung bzw. Subventionierung von Kreislaufwirtschaft in allen Industriezweigen und Geld für die ganzheitliche Bildung der Kinder.

Hüter/innen der Erde

Weil die Erfüllung all dieser Forderungen einer Umwälzung sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse gleichkäme, werden die meisten davon, nüchtern betrachtet, wohl unangetastet bleiben – mit allen langfristig unvermeidlichen und voraussichtlich desaströsen Folgen für Mensch und Mitwelt. Doch gemäß der hartnäckigen Einsicht „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie“, liegt der Wert von Phillip Maiwalds Buch nicht in der detaillierten Analyse eines sozial-ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, sondern darin, das Notwendige zu Ende zu denken und dabei auch Denktabus nicht länger hinzunehmen. Schließlich gehe es darum, „wirklich etwas zu wagen und gemeinsam das Richtige zu tun; wir sind ohne Einschränkung die Hüterinnen und Hüter der Erde bis zum letzten, lebendigen Wesen“.

Phillip Maiwald, Postaktivismus, 20 €, Büchner Verlag, ISBN 978-3-96317-345-5


Siehe auch: civil integrity – postactivism

Bobby Langer: Jascha, dein kürzlich erschienenes Buch „Die große Kokreation“ bezeichnet sich als „Standardwerk für transformative Kokreation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“. Ist das ein Buch für Spezialisten bzw. Experten, also zum Beispiel Soziologen oder Politologen, oder schreibst du für eine breitere Zielgruppe?

Jascha Rohr: Ich schreibe für alle, die sich engagieren, die Dinge bewegen und verändern wollen und wissen, dass das gemeinsam besser geht als alleine. Das ist, so hoffe ich, eine sehr breite Zielgruppe, die Expert:innen einschließt, sich darüber hinaus aber auch an Führungskräfte, Aktivist:innen, Unternehmer:innen, Projektleiter:innen, lokal Engagierte und viele mehr richtet, die den Anspruch haben, mit ihrer Arbeit einen positiven Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

B.L.: Was verpasst man, wenn man es nicht gelesen hat?

J.R.: Das Buch ist voller Modelle, Methoden, Theorie und Praxis, so dass wir zu informiert Handelnden werden können. Ich persönlich sehe den wertvollsten Beitrag des Buches aber darin, dass es ein neues ökologisches Paradigma anbietet, mit dem wir die Prozesse von Entwicklung, Veränderung und Gestaltung viel besser verstehen und anwenden können.

B.L.: Du sagst, es gehe dir um die „Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation“. Das klingt im ersten Moment ziemlich abgehoben. Weshalb hältst du diese Neuerfindung für notwendig?

J.R.: Das ist natürlich erst einmal eine Provokation. Und eine homogene globale Zivilisation gibt es in diesem Sinne auch gar nicht. Aber klar ist: Wenn wir global so weitermachen wie bisher, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen und damit das, was wir Zivilisation nennen. Das kennen wir aus der Vergangenheit der Menschheit im Kleinen. Da konnte es dann aber immer an anderer Stelle weitergehen. Kollabieren wir heute als globale Zivilisation, gibt es keinen Ausweichplaneten. Diesmal muss es uns gelingen, uns neu zu erfinden, bevor wir komplett kollabieren. Das nenne ich Neuerfindung unserer Zivilisation.

B.L.: Wer bist du, um sagen zu können, du wärest zu einer solchen Konzeptleistung in der Lage?

J.R.: Mein Beruf ist es, seit ca. 25 Jahren kleine und große Gruppen darin beizustehen, sich selbst neu zu erfinden – vom Dorf bis zur nationalen Ebene habe ich Beteiligungs- und Gestaltungsprozesse konzipiert und begleitet. Meine Leistung dabei ist es, den Prozess zu strukturieren und zu halten, in dem diese Gruppen sich selbst erfinden. Ich bin so etwas wie eine Gestaltungshebamme. In diesem Sinne würde ich mir auch nicht anmaßen, alleine unsere Zivilisation neu zu erfinden. Aber ich fühle mich gut darauf vorbereitet, auch große internationale und globale Prozesse zu konzipieren, methodisch zu unterstützen und zu begleiten, in denen die Beteiligten miteinander beginnen, „Zivilisation“ neu zu erfinden.

B.L.: Gibt es nicht mehr als eine Zivilisation auf dem Planeten? Wenn du also von „planetarer Zivilisation“ sprichst, klingt das so, als würdest du die westliche, industriell geprägte Zivilisation mit der planetaren gleichsetzen?

J.R.: Ja genau, das klingt so, dessen bin ich mir bewusst, und das ist natürlich nicht so. Und doch gibt es so etwas wie eine globale diverse Gesellschaft, globale Märkte, eine globale politische Arena, eine globale Medienlandschaft, globale Diskurse, globale Konflikte und globale Prozesse, zum Beispiel in Bezug auf Corona oder den Klimawandel. Dieses sehr heterogene Feld nenne ich vereinfacht globale Zivilisation, um klarzumachen: Dieses globale Feld ist in seiner Ganzheit eher toxisch als heilsam. Es muss transformiert werden im Sinne einer globalen Regeneration.

B.L.: Du schreibst ein ganzes Buch lang über Methoden und Werkzeuge. Hast du keine Sorge, dass deine Zielgruppe auf Inhalte pocht?

J.R.: Das ist die Krux. Es gab viele, die hätten sich lieber ein einfaches Rezeptbuch gewünscht: Lösungen zum Nachmachen. Und genau da wollte ich ehrlich bleiben: Aus dieser Rezeptlogik müssen wir aussteigen, sie ist Teil des Problems. Nachhaltige Lösungen haben immer damit zu tun, dass wir lokale Kontexte verstehen und dafür angepasste Lösungen entwickeln. Das habe ich aus der Permakultur gelernt. Dazu müssen wir uns trainieren und ausbilden. Dafür braucht es Methoden und Werkzeuge. Den Rest müssen die Kokreator:innen vor Ort leisten.

B.L.: Du schreibst: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Das ist logisch. Nur: Wie willst du als Kind der alten Zivilisation Werkzeuge einer neuen Zivilisation finden?

J.R.: Das geht nur über Transformationsprozesse. Und ich benutze diesen Begriff nicht leichtfertig, sondern in aller Konsequenz und Tiefe: Jede:r, der oder die mal einen Kulturschock erlebt hat und sich in eine neue Kultur einleben musste, der oder die eine religiöse Einstellung geändert hat, das berufliche Leben neu begonnen hat oder eine langfristige Beziehung für eine neue verlassen hat, kennt solche einschneidenden Veränderungsprozesse. Ich selbst habe meine ganz persönlichen Krisen und Auseinandersetzungen gehabt, in denen ich immer wieder zumindest Aspekte der „alten Zivilisation“ persönlich transformieren konnte. Meine Gründungen der Permakultur Akademie, des Instituts für partizipatives Gestalten und der Cocreation Foundation waren jeweils von genau solchen Erkenntnisprozessen getragen, die dann ihren gestalterischen Ausdruck in diesen Organisationen gefunden haben. Aber natürlich bin auch ich noch verhaftet, ich verstehe mich als Mensch in Transition.

B.L.: Obwohl du deine Augen nicht vor der Lage der Menschheit verschließt („Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich“), ist der Grundtenor deines Buches ausgesprochen positiv. Woher nimmst du deinen Optimismus?

J.R.: Der Optimismus ist eine Überlebensstrategie. Ohne ihn hätte ich gar nicht die Kraft, das zu tun, was ich tue. Woher sollen wir die Energie für so viel Wandel und Gestaltung nehmen? Ich glaube, dass wir das nur schaffen, wenn wir aus dieser Aufgabe Kraft, Freude, Lebendigkeit und Fülle für uns schöpfen. Ich mache das mit Hoffnung spendenden Narrativen. Wenn ich mich damit selbst manipuliere, nehme ich das gerne in Kauf: Lieber eine positive selbsterfüllende Prophezeiung als eine negative!

B.L.: Das Buch war der Band 1. Was können wir von Band 2 erwarten?

J.R.: In Band 1 haben wir den Werkzeugkoffer gepackt und uns den Kollaps und die Vision angeschaut. In Band 2 gehen wir in die Transformation, in die Höhle des Monsters sozusagen. Die drei bestimmenden Themen werden sein: Resonanz, Trauma und Krise. Heftiger Stoff, aber auch unglaublich spannend! Ich forsche gerade sehr stark dazu, was es in Gruppen heißen kann, das kollektive Nervensystem zu beruhigen, zu regulieren und Traumata zu integrieren. Ich glaube – eine weitere grobe Metapher –, dass unsere globale Zivilisation sich am besten mit einer Suchtanalogie beschreiben lässt: Wir sind süchtig nach Energie und Konsum. Eine nachhaltige Regeneration wird uns nur gelingen, wenn wir von der Nadel kommen. Das ist keine einfach zu lösende Sachthematik, sondern ein kollektivpsychologisches Problem. Aber meine Arbeitsweise ist ja generativ, ich bin selbst gespannt, was im weiteren Schreibprozess passiert.

Rezension

Internetseite zum Buch

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Eine Rezension von „Schöner grüner Schein“

Von Bobby Langer

„Was auch immer Sie lieben, es ist bedroht. Aber lieben ist ein Tätigkeitswort. Möge diese Liebe uns ins Handeln bringen.“

Es gibt so etwas wie das „fröhliche gute Gewissen der Grünen“. Gemeint sind damit nicht nur die Parteimitglieder, sondern alle, die auf diesem Segelschiff der Illusionen mitschwimmen. Im Schiffsbauch befindet sich die Vorstellung eines Green New Deal, mit dem wir die westliche Industriegesellschaft ohne sonderliche Abstriche retten und weiterbetreiben können.

Die Autoren von „Schöner grüner Schein“, Derrick Jensen, Lierre Keith und Max Wilbert, bezeichnen die Segelmeister und Passagiere dieses Segelschiffs als die „Hellgrünen“.  Mit ihrem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch tun sie alles, um Bewegung in die Wogen zu bringen und dieses ruhige Gewissen aufzuscheuchen. Kapitel für Kapitel belegen sie, dass eine „grüne“ Industriegesellschaft nur um den Preis weiterer und unaufhaltsamer Umweltzerstörungen möglich ist. „Hellgrüne Lösungen sind nur dazu da, den lebenden Planeten wieder und immer weiter zu zerstören.“

So sei also an den Anfang dieser Besprechung einerseits eine Warnung gestellt, andererseits ein Versprechen. Eine Warnung, weil die Lektüre der 463 Textseiten einem die „grüne Unschuld“ nimmt und der „deflorierte Leser“ danach ernüchtert seine Positionen überdenken muss; ein Versprechen hingegen für all jene, die schon immer das „Weiter so“ unter grüner Flagge mit Bauchgrimmen wahrgenommen haben. Hier bekommen sie endlich das inhaltliche, argumentative Rüstzeug für die nächste Debatte. Denn wenn in diesem Buch etwas nicht fehlt, dann sind das die Fakten: Fakten zur Solar- und Windindustrie, Fakten zur grünen Energiespeicherung, Fakten zu Recycling und Effizienz, zur grünen Stadt, zum grünen Netz und zur Wasserkraft sowie diversen Scheinlösungen wie Geothermie oder Kohlenstoffabscheidung.

Das Spektrum des Umweltschutzes [aus Sicht der Autoren]

Tiefgrün

Sowohl der lebende Planet als auch die nichtmenschlichen Lebewesen haben das Recht zu existieren. Das menschliche Wohlergehen hängt von einer gesunden Ökologie ab. Um den Planeten zu retten, müssen die Menschen innerhalb der Grenzen der natürlichen Welt leben.

Lifestylisten

Der Mensch ist von der Natur abhängig, und die Technologie wird die Umweltprobleme wahrscheinlich nicht lösen, aber politisches Engagement ist entweder unmöglich oder unnötig. Das Beste, was wir tun können, ist, uns in Eigenverantwortung zu üben … Der Rückzug wird die Welt verändern.

Hellgrüne

Es gibt ernsthafte Umweltprobleme, aber grüne Technologie und grünes Design sowie ethisches Konsumverhalten werden es möglich machen, den modernen, energieintensiven Lebensstil auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.

Vernünftige Nutzer

Es gibt zwar ökologische Probleme, aber die meisten davon sind nicht so schlimm und können durch ein angemessenes Management gelöst werden.

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Alles, worum Derrick Jensen bittet, ist „ehrlich mit uns selbst zu sein“. Was er damit meint, zeigt er am Beispiel einer „unschuldigen“ Brille: „Sie besteht aus Plastik, für das Öl und Transportinfrastrukturen benötigt werden, und aus Metall, für das Bergbau, Öl und Transportinfrastrukturen erforderlich sind … und die moderne Glasherstellung erfordert Energie und Transportinfrastruktur. Die Minen, aus denen die Materialien für meine Lesebrille kommen, müssen irgendwo liegen, und die Energie für die Herstellung muss auch irgendwoher kommen.“ Es gibt nun mal kein Abrakadabra-Simsalabim für irgendein Industrieprodukt, auch wenn es uns so vorgespiegelt wird. Wir meinen, wir bräuchten nur das nötige Kleingeld zu haben, und schon „zaubern“ wir uns, ohne Umweltkosten, unseren Komfort herbei – eine kindliche Vorstellung.

Ein kleiner Wermutstropfen angesichts der vielen Fakten ist ihr relatives Alter. Der US-Titel „Bright Green Lies: How the Environmental Movement Lost Its Way and What We Can Do About It” erschien 2021. Die im Buch genannten Zahlen sind also wenigstens fünf Jahre alt. Andersherum wissen wir: So gut wie nichts hat sich seither zum Besseren gewendet.

Wie gut, dass das Autorenteam einen nicht im Regen stehen lässt. Auf rund 40 Seiten befasst es sich mit „wirklichen Lösungen“, an denen – zumindest dieser Logik nach – kein Weg vorbeigeht. Letzten Endes gehe es um alles oder nichts. Zu einer zukunftsfähigen Lösung, so die Autoren, werden wir erst kommen, wenn wir bereit sind, „eine Lawine von Wehmut auszuhalten … Aber wenn man diesen Planeten liebt, muss man es tun“. Was anstehe, sei eine Reindigenisierung der westlichen Lebensweise. „Wir müssen erkennen, dass, da die Erde die Quelle allen Lebens ist, die Gesundheit der Erde bei unseren Entscheidungsprozessen an erster Stelle stehen muss … Wenn wir unsere Werte ändern, werden bisher unlösbare Probleme lösbar.“ Wir müssen aufhören, uns die falschen Fragen zu stellen.  „‚Wie können wir weiterhin industrielle Energiemengen gewinnen, ohne Schaden anzurichten?‘, ist die falsche Frage. Die richtige Frage lautet: ‚Was können wir tun, um der Erde zu helfen, die durch diese Kultur verursachten Schäden zu reparieren?‘“

Zurück zum Einstieg: Dieses Buch ist schwer verdauliche Kost, nicht weil es schwer zu lesen wäre, sondern weil es seinen Leserinnen und Lesern von Kapitel zu Kapitel mehr den Staub der Illusionen aus dem Zivilisationsmäntelchen klopft. „Schöner grüner Schein“, schreibt Vandana Shiva, sei „ein dringend notwendiger Weckruf, wenn wir verhindern wollen, dass wir schlafwandelnd aussterben – und damit den 200 unserer Mitgeschöpfe und Verwandten folgen, die täglich von einer extravistischen, kolonisierenden Geldmaschine in den Tod getrieben werden, die von grenzenloser Gier geschmiert und vom mechanistischen Geist des Industrialismus geleitet wird.“

Schöner grüner Schein. Warum »grüne« Technologien derselbe Irrweg in Grün sind. Von Derrick Jensen, Lierre Keith und Max Wilbert, Verlag Neue Erde, 517 S., 36 Euro, ISBN 978-3-89060-838-9

In diesen jeweils ca. 15 Minuten dauernden Gesprächen unterhalten sich Thomas Hann und Bobby Langer über die Möglichkeiten unserer Zeit, zum Beispiel darüber, ob es so etwas wie deutsche Tugenden gibt, ob es im Gegensatz zum zwölfjährigen “1000jährigen Reich” ein tatsächliches “1000-jähriges Reich der Menschheit” geben könnte oder über eine resiliente Gesellschaft und die entsprechenden Perspektiven daraus. Hier beginnt die Playlist:

von Peter Zettel

Rote oder blaue Pille?

Gestern sah ich in einem Video-Gespräch im Hintergrund ein Bild mit einer roten und einer blauen Pille. Ganz klar eine Anspielung auf den Film „Matrix“. Was mich zu der erstaunten Frage veranlasste „Du hast dich noch nicht entschieden?“

Sein „Doch, habe ich!“ klang mir jedoch nicht überzeugend, denn hätte er sich entschieden, wäre da eine Pille weg. Falls Sie den Film nicht kennen:

Neo wird vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Nimmt er die blaue, geht es für ihn zurück in seine heile Welt, die nicht der Realität entspricht. Die rote Pille bewirkt das genaue Gegenteil und befreit ihn aus der Simulation.

Also ich kenne keinen Philosophen oder Wissenschaftler, den ich ernst nehmen würde, der nicht die rote Pille geschluckt und eine eindeutige Meinung hätte. Der Weg Suche nach der Wahrheit lässt nämlich keinen anderen Weg zu. Rote oder blaue Pille?

Die Entscheidung muss man treffen: Will ich wirklich die Wahrheit über mich selbst wissen oder möchte ich nur meine Ansichten bestätigt haben? Die Wahrheit kann nämlich ganz schön hart sein.

Weiter mit Mit den Wölfen heulen …

[Dieser Artikel ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine inhaltlichen Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreiten und vervielfältigen werden.]

Kein Geringerer als Fritjof Capra meinte zu dem im Folgenden besprochenen Buch „Regenerative Kulturen gestalten“: „Dieses Buch ist ein wertvoller Beitrag zu der Diskussion über die Weltanschauung, die wir brauchen, um unsere gesamte Kultur so zu gestalten, dass sie sich regeneriert und nicht zerstört.“

Rezension von Bobby Langer

Womit Fritjof Capra die Aufgabenstellung, um die es geht, auf den Punkt gebracht hat: „unsere gesamte Kultur so zu gestalten, dass sie sich regeneriert und nicht zerstört.“ Die Betonung liegt auf „gesamte Kultur“. Kein Mensch, auch keine Organisation könnte diese Mammut-Aufgabe schaffen. Und doch muss sie sein, wenn wir nicht im größten anzunehmenden Unglück landen wollen, das dereinst die Menschheit ereilen wird.

Richtige Fragen statt richtiger Antworten

Daniel Christian Wahl (DCW) hat diese ungeheure Aufgabe mit seinem Buch in den Blick genommen. Nicht weil er wüsste, wie es geht, sondern weil er zumindest ganz gut weiß, wie es nicht geht: mit business as usual. So besteht seine Leistung letztlich aus einer gedanklichen Doppelarbeit: einerseits die ausgetretenen Pfade der Irrtümer und zuverlässigen Zerstörungen zu analysieren und andererseits Mittel und Methoden zu beschreiben, mit denen sich erstere vermeiden lassen. Die wichtigste Methode dabei lässt sich mit Rilkes berühmtem Satz zusammenfassen: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“ Es geht also nicht darum, die richtigen Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Erst wenn es uns gelingt, die Richtung zu ändern, mit der wir uns in die Zukunft bewegen, können sich brauchbare Erfolge einstellen. Was geschieht, wenn wir das nicht tun, beschreibt ein chinesisches Sprichwort: „Wenn wir unsere Richtung nicht ändern, werden wir wahrscheinlich genau dort landen, wo wir gerade hingehen.“

Aber lohnt es sich denn überhaupt, die Richtung zu ändern, um die kulturellen Errungenschaften der Menschheit zu erhalten? Immer wieder taucht diese Frage auf, die wohl die gesamte Transformationsbewegung weltweit umtreibt. DCW hat darauf eine klare Antwort:

„Wir wissen weder, dass eine andere Spezies Gedichte schreibt oder Musik komponiert, um das verbindende Gefühl, das wir Liebe nennen, widerzuspiegeln, noch wissen wir, wie sich das Vergehen der Jahreszeiten für einen Mammutbaum anfühlt oder wie ein Kaiserpinguin subjektiv die ersten Sonnenstrahlen nach dem antarktischen Winter erlebt. Aber gibt es nicht etwas Schützenswertes an einer Spezies, die sich solche Fragen stellen kann?“

Vier Einsichten für eine lebenswerte Zukunft

Wie ein roter Faden zieht sich eine Kern-Einsicht des Autors durch alle Kapitel: dass wir nämlich nicht wissen können, was auf uns zukommt. Nur wenn wir kokreativ mit dieser Unsicherheit umzugehen bereit sind und unser Verhalten immer wieder neu justieren, haben wir eine echte Chance. Eine zweite Einsicht gesellt sich zur ersten. Sie ist der Natur abgeschaut: Zu schaffen sei ein lebendiger, ein regenerativer Prozess, der bis ins Detail das Leben fördert. Denn Natur ist Leben, das Leben fördert. Und auch mit einem dritten Prinzip ist die Natur als Vorbild zu nehmen: dass sie nämlich ­– so groß sie ist und so universell ihre Gesetze sind – nicht in Monopolen funktioniert, sondern in kleinen, lokalen und regionalen Netzwerken, Netze in Netzen in Netzen. Was wir brauchen, schreibt DCW, ist ein „Feingefühl für den Maßstab, die Einzigartigkeit des Ortes und die lokale Kultur“. Und: „Wir müssen das traditionelle ortsbezogene Wissen und die Kultur wertschätzen, ohne in die Fallen eines wiederauflebenden radikalen Regionalismus und engstirnigen Pfarrei-Denkens zu tappen … Systemische Gesundheit als emergente Eigenschaft regenerativer Kulturen entsteht, wenn lokal und regional angepasste Gemeinschaften lernen, innerhalb der durch die ökologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen ihrer lokalen Bioregion gesetzten ‚förderlichen Einschränkungen‘ und Möglichkeiten in einem global kooperativen Kontext zu gedeihen.“

Ein viertes Prinzip lässt sich von diesen drei nicht trennen: das Vorsorgeprinzip, das damit beginnt, für die jederzeit möglichen Änderungen der Umstände vorgesorgt zu haben. Unter Vorsorge versteht DCW aber auch unsere Haltung, mit der wir gestaltend mit der Welt umgehen. „Wir brauchen dringend einen hippokratischen Eid für Design, Technologie und Planung: Do no harm! Um diesen ethischen Imperativ in die Tat umzusetzen, brauchen wir eine salutogene (gesundheitsfördernde) Absicht hinter allem Design, aller Technologie und Planung: Wir müssen Design machen für Menschen, Ökosysteme und die Gesundheit des Planeten.“ Ein solches Design „erkennt die untrennbare Verbindung zwischen menschlicher, ökosystemischer und planetarischer Gesundheit an“. Um da hinzukommen, sei das Meta-Design, das „Narrativ der Trennung“, zu ändern hin zu einem „Narrativ des Interbeing“; Design sei der Ort, an dem sich Theorie und Praxis treffen.

Mit Bescheidenheit und Zukunftsbewusstsein handeln

Auf Basis dieser Überlegungen und Analysen entsteht im Laufe der rund 380 Seiten dann doch eine Art Werkzeugkasten für den Umbau der westlichen Industriekultur. Dazu hat DCW alle gedanklichen und praktischen Ansätze der letzten Jahrzehnte ausgewertet und in seine Überlegungen miteinbezogen. Es geschieht ja schon so viel weltweit auf allen Kontinenten. Nun gilt es, alle diese Bemühungen in einen gemeinsamen Prozess einmünden zu lassen, um „the great turning“, wie Joana Macy das nannte, ins Werk zu setzen.

Konsequenterweise hat DCW zu jedem Kapitel ein Fragenset erarbeitet, das dabei unterstützen soll, den statischen Ist-Zustand des jeweiligen Themas aufzugeben und in einen zukunftsfähigen Prozess zu überführen: die chemisch-pharmazeutische Industrie, die Architektur, die Stadt- und Regionalplanung, die industrielle Ökologie, die Gemeinschaftsplanung, die Landwirtschaft, das Unternehmens- und Produktdesign. Denn „systemisches Denken und systemische Interventionen sind mögliche Gegenmittel für die unbeabsichtigten und gefährlichen Nebenwirkungen der jahrhundertelangen Konzentration auf reduktionistische und quantitative Analysen, die von dem Narrativ der Trennung geprägt sind“. So lautet eine Kernfrage, um die so unabdingbare „transformative Resilienz“ zu erreichen: „Wie können wir angesichts der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit komplexer dynamischer Systeme mit Bescheidenheit und Zukunftsbewusstsein handeln und vorausschauende und transformative Innovationen anwenden?“

Tatsächlich hat es etwas Entlastendes zu wissen, dass wir keine endgültigen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben müssen bzw. gar nicht geben sollen. „Indem wir die Fragen gemeinsam leben“, schreibt DCW, „anstatt uns mit endgültigen Antworten und dauerhaften Lösungen zu beschäftigen, können wir den vergeblichen Versuch aufgeben, unseren Weg in die Zukunft zu kennen.“ So hat sein Buch letztlich mehrere Wirkungen auf den Leser: Es ist entlastend, inspirierend, informativ, Hoffnung machend und praxisorientiert zugleich – ziemlich viel für ein Buch.

Daniel Christian Wahl, Regenerative Kulturen gestalten, 384 S., 29,95 Euro, Phänomen Verlag, ISBN 978-84-125877-7-7