Der Stoff, aus dem wir sind

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Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

Rezension von Bobby Langer

Worum geht es eigentlich? Ich spreche weder von Corona, noch vom Ukrainekrieg, noch von der Klimakrise. Ja, kann man von etwas anderem sprechen? Gibt es etwas Wichtigeres? Ja, nämlich die Ursache für Corona, für den Krieg und die Klimakrise. Wenn es so eine Ursache gäbe, wäre sie es nicht wert, beseitigt zu werden? Prio eins sozusagen? Genau darum geht es in Fabian Scheidlers Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“.

Es geht buchstäblich um das „alles oder nichts“. Es geht um „die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist“, es geht um „Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse“. Und weil Scheidler durch und durch Journalist ist, kann man dieses Buch auch lesen, ohne Sekundärliteratur zu studieren oder nach fünf Seiten einzuschlafen. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?“

Scheidler befasst sich mit der „Trennung“ in ein scheinbar belangloses Innen und ein belangvolles Außen und macht diese Trennung auf verschiedensten Ebenen transparent und dingfest. Warum er der Trennung, genauer: der Illusion der Trennung, eine solch fundamentale Bedeutung beimisst, erklärt sich aus folgendem Zitat des Quantenphysikers Hans-Peter Dürr: „Es gibt keine isolierten Teile, alles hängt mit allem zusammen. Was in Zukunft mit etwas passiert, hat nicht eine einzelne Ursache, sondern die Ursache ist das gesamte Weltgeschehen.“ In seiner Analyse untersucht Fabian Scheidler – mit wissenschaftlichem Ernst – das, was er den „Weltinnenraum“ nennt. Da ihn jeder von uns kennt, muss es ihn auch geben. Dennoch wurde er bislang von den Naturwissenschaften, von seltenen Ausnahmen abgesehen, missachtet, obwohl „die Welt ein unauftrennbares Gewebe ist“. Wenn es aber stimmt, dass die Naturwissenschaften in ihrer Analyse der Welt die Subjektivität – den Weltinnenraum – bislang übersehen haben, dann liegt hier ein fundamentales Problem; vermutlich DAS Kernproblem.

Denn Tatsache ist nun einmal: Die Subjektivität ist unsere primäre Realität. Wer sie nicht zur Kenntnis nimmt, leidet an Realitätsverlust. Nach gründlicher Analyse der bekannten Fakten schließt sich Scheidler der Forderung des Philosophen David Chalmers und des Neurowissenschaftlers Christof Koch an, nämlich: „den grundlegenden physikalischen Kategorien des Universums wie Raum, Zeit, Masse und Energie“ sei eine weitere hinzuzufügen, „die Innensicht“. Bereits W. K. Clifford, einer der bedeutendsten Mathematiker des 19. Jahrhunderts, hatte den Begriff „Mind-stuff“ geprägt. Scheidler: „Vielleicht hat ja sogar der Kosmos als Ganzes eine verborgene Innerperspektive. Vielleicht befindet er sich im traumlosen Tiefschlaf und schlägt nur in uns die Augen auf?“

Solange die moderne Weltsicht die Bedeutung der Innensicht nicht versteht und anerkennt, wird sie beim technokratischen Blick auf die Welt stecken bleiben. Das bedeutet Scheidler zufolge:

  1. Das Mess- und Zählbare hat einen höheren Realitätsstatus als die erlebten Qualitäten unserer Wahrnehmung …
  2. Die Welt besteht aus zerlegbaren Einzelteilen und lässt sich entsprechend auch beliebig neu zusammenbauen …
  3. Die Welt gehorcht im Wesentlichen linearen und deterministischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und kann daher planmäßig gesteuert werden.

Obwohl diese Sicht der Dinge schon vor hundert Jahren, in der Physik, spektakulär gescheitert sei, werde sie „in Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Sendungen“ noch immer verbreitet, und die „Maschinisierung unserer Lebenswelten“ schreite immer weiter voran. „Statt sich damit zu beschäftigen, wie sie aus der tödlichen Matrix aussteigen können, konsumieren die Bürger eine Ersatzwelt, die ihnen von genau den Konzernen bereitgestellt wird, die für die planetare Zerstörung verantwortlich sind.“ Letztlich gehe es um einen „Tiefenumbau der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fundamente unserer Gesellschaft“. Die aber sei untrennbar verbunden mit einem „nicht minder tiefen Wandel der Weltsichten, die dieses System tragen“. Erst im Zusammenwirken beider Sphären lasse sich „der harte Kern unserer Zivilisation“ auflösen: „der Zwang zur endlosen Expansion, die Umwandlung einer lebenden Mitwelt in tote Waren und die damit einhergehende Verwüstung des Planeten“, eine „Kette der strukturellen Verantwortungslosigkeit und systemischen Blindheit“. Dies sei die „Urfunktion, um die sich alle anderen Institutionen formiert haben“.

Viele Leser, auch in verantwortlicher Position, werden Fabian Scheidler vielleicht, wenn auch zögernd, bis zu diesem Punkt folgen können. Doch wie steht es mit seiner Folgerung: „Wenn sich zeigt, dass eine bestimmte Wirtschaftsordnung mit der Erhaltung der Biosphären unvereinbar ist, muss sie geändert werden.“ Politisches Handeln sei hier nicht nur nötig, sondern auch für jeden von uns möglich, indem wir „die Leiden an der Entfremdung ernst nehmen und den verdrängten Innenwelten eine Stimme geben“.

Fabian Scheidler, Der Stoff, aus dem wir sind – Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen, Piper Verlag, 20 Euro, ISBN 978-3-492-07060-7
Homepage des Autors:
https://fabian-scheidler.de

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