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Eine wirkungsvolle Abwendung der Klimakrise und des Artensterbens ist mit den bestehenden juristischen und politischen Möglichkeiten unerreichbar. Wälder, Flüsse, Tierarten sowie ganze Ökosysteme sollten Rechtspersonen sein, die juristisch in eigenem Namen auftreten und Klage führen können.

Jedoch sind der bedrohte Schweinswal in der Ostsee oder die ausbleibenden Wildbienen im Schwarzwald vor Gericht bis heute nur eine Sache, die keine eigenen Rechte hat. Weil nur Menschen Rechte haben können? Wieso ist dann ein Kapitalunternehmen eine Rechtsperson, aber ein Wald mit seiner lebendigen Vielfalt und seiner Bedeutung für uns Menschen oder für denkende Wesen wie Wal, Hund oder Schimpanse jedoch nicht? Eine Tierart oder ein Ökosystem erfüllen nicht nur „Dienstleistungen“ für den Menschen, sie haben einen Wert und sogar eine Würde an sich. Dennoch unterliegen sie regelmäßig einseitigen menschlichen Interessen; ob die Alpentäler, der Vogel des Jahres, der Amazonas, Korallenriffe… es scheint heute absurd, dass sie ihr Recht auf Leben juristisch nicht einfordern können.

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Schon in ihrer oberflächlichsten Form ist Dankbarkeit schön. Und gut. Sie hebt die Grenzen auf zwischen dir und mir, zwischen mir und den Dingen, erlaubt mir, die Umwelt als Mitwelt zu erleben. Im Mindesten verwandelt sie die Grenzen, innenräumlich wie innenzeitlich, in Grenzräume und macht sie damit gangbar und durchlässig.

Auf einer noch tieferen und vielleicht ihrer eigentümlichsten Ebene hilft sie uns, die Verbindung mit allen Wesen einzugehen. In der Dankbarkeit erklingt die Welt in mir und ermöglicht mir mitzuschwingen. Manchmal bin ich Regen, manchmal Sonnenschein und oft irgendetwas dazwischen, oft bewölkt mit gelegentlichen Sonnenschauern, oft blinzle ich den Wolken zu. Und immer nehme ich teil an der großen Verwandlung, sterbe in tausend Augenblicken und tauche immer wieder verwundert in mir auf – und in dir und der Welt und bin froh, dass ich da bin, dass du da bist und die Welt, und Leben und Sterben gehen so ineinander über, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Reihenfolge nicht umgekehrt ist: Sterben und Leben. Aber vermutlich ist es ja gar keine Reihenfolge, sondern ein Kreis, in den wir eingebunden sind.

Dann ist Dankbarkeit eine Lebensqualität, eine Qualität des Umgangs mit mir und der Welt; dann wird Dankbarkeit zur Achtsamkeit und Achtsamkeit zur Dankbarkeit und beide äußern sich in Zufriedenheit, in innerem Frieden inmitten einer turbulenten und oft schlimmen Welt, der ich dann anders und klarer begegnen kann, denn Dankbarkeit kann auch Richtschnur sein und Maß.

Manchmal, wenn ich ganz allein bin mit mir in der Natur – und das können Augenblicke sein –, empfinde ich eine so herzliche Verwandtschaft mit dem Leben um mich, dass ich es umarmen möchte, wie man das eben mit Freunden tut. Dann kann ich schon mal meine Brust an einen Baumstamm drücken und mein Anderssein vergessen, aber dann kommt das Schlimme: Eine Scham steigt in mir auf. Wie kann ich als Erwachsener, als Mensch, einen Baum umarmen! Ist das nicht kitschig?

Zwei schwierige Fragen

Nein, ist es nicht, im Gegenteil. Kitsch ist das Nachgemachte, Unechte. Im Gefühl der Verbundenheit mit der Natur flammt die Erkenntnis auf, dass aus ihr die Quelle unserer Existenz entspringt. Letztlich müsste der Aufruf lauten: Nicht zurück zur, sondern zurück in die Natur! Nur: Wie kann man an einen Ort zurückkehren, an dem man sich ohnehin befindet?

Nötig ist die Forderung „Zurück in die Natur“ geworden, weil wir uns schon vor Jahrhunderten von der Natur verabschiedet haben, auf dass wir sie uns nach Belieben unterwerfen können. Aber kann man etwas unterwerfen, das man selbst ist? Ja, offenbar kann man das; es gelingt, indem man sich geistig-seelisch zweiteilt, eine innerpsychische, kulturelle Schizophrenie herstellt, „die Natur“ als das Fremde abspaltet – und modern wird.

Was wäre ein Fluss ohne Mündung?

„Zurück in die Natur“ bedeutet, die Perspektive wechseln: Nicht die Natur ist für mich da, sondern ich bin für die Natur da oder, noch richtiger für mich: Wir sind einander geschenkt. Ob ich es will und begreife oder nicht, ich reihe mich ein in Ebbe und Flut der Nahrungsketten, liefere meine Moleküle ab an der großen Theke des Lebens zur weiteren Verwendung. In die Natur zurückzukehren, wäre gleichsam das Ende der Besserwisserei, das Ende einer westlichen Haltung, die besagt: „Natur, schön und gut, aber wir können es besser.“ „Zurück in die Natur“ wäre der Weg vom homo arrogans zum homo sapiens.

„Zurück in die Natur“ bedeutet auch, den Tod nicht mehr als Ende, als die Verneinung des Lebens zu verstehen, sondern als die Mündung des Flusses, die uns ins Meer entlässt. Es ist zwar richtig, dass es nach der Mündung keinen Fluss mehr gibt, aber was wäre der Sinn eines Flusses ohne Mündung? Und auch: Was wäre ein Meer ohne Flüsse?

Wir brauchen kein Jenseits

Was ist Seele? So unterschiedlich die Definitionen dafür ausfallen, als Trägerin unserer Lebendigkeit scheint sie uns eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Seele aushaucht, der ist nicht mehr, was er zuvor war. Hat denn nicht alles Lebendige Seele, von der Amöbe bis zum Menschen, von der Alge bis zur Rebe? Kann denn ein Lebewesen unbeseelt sein oder umgekehrt: Kann etwas Seelenloses sterben? Niemand käme auf die Idee, von einem gestorbenen Auto zu sprechen oder einer gestorbenen Spülmaschine. Sie sind „kaputt“.

Sind Körper und Seele nicht eins, statt, wie uns weisgemacht wird, gespalten zu sein? Ist nicht die Trennung von Körper und Seele eine Hilfskonstruktion zunächst der monotheistischen Religionen und später des Materialismus, der ohne Seele auszukommen glaubt? Ist ein seelenloses Biotop vorstellbar? Ist das kein Widerspruch in sich? Und sind nicht auch das Wasser dort, die Binsen und Mückenlarven, die Frösche und der Reiher, das Holz und die Steine Teil eines komplexen Ganzen? Nichts davon ist ein beliebig austauschbares „Ding“, sondern Mitgewachsenes und Zugehöriges, aus der Zeit Geborenes. Ist es nicht so, dass es in der Natur nur Ganzes gibt, und wenn wir Teil der Natur sind, dann sind auch wir unteilbar ganz. Wir benötigen kein Jenseits dafür. In einer ungetrennt beseelten Welt können wir uns auch ohne Transzendenz aufgehoben und weitergetragen fühlen.

Essbar sein

Wenn wir also „zurück in die Natur“ wollen – kommst du mit? –, dann verlassen wir die anatomische Perspektive, steigen vom hohen Ross bzw. westlichen Elfenbeinturm und lassen uns überwältigen, öffnen uns für die Schönheit, aber auch für den Tod und das Endliche, die die Grundlage sind für die Vielfalt und überwältigende Fülle des Seins. Dann sind wir bereit, unser nach Sicherheit, Distanz und Dominanz strebendes Ich preiszugeben, um ein neues, integres, weil integrales Ich zu entdecken im Kontakt mit der Welt, die wir sind. Der Hamburger Biologe und Philosoph Andreas Weber geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, „essbar zu sein“. Sich nach Unsterblichkeit zu sehnen, sagt er, sei eine „ökologische Todsünde“. Särge sind unser letzter Trennungsversuch, im Sarg sind wir noch nicht essbar für die Würmerwelt, zögern wir unsere Essbarkeit noch ein wenig hinaus; als Asche in der freien Natur wären wir hingegen essbar in einer quasi vorverdauten Form. In der Erkenntnis unserer Essbarkeit vereinigen sich Mystik und Biologie.

Wo endet die Innenwelt?

In die Natur zurückzukehren, heißt anzuerkennen, dass auch unsere Geschwisterwesen eine Innenwelt besitzen, dass sie die Welt subjektiv wahrnehmen, so wie wir auch. Letztlich weiß jeder um die Innenwelt allen Lebens, und einen Schritt weitergedacht: dass eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenwelt existiert. Alles fühlt, will heil und gesund sein, kann froh sein oder leiden, alles nimmt wahr, nur nicht unbedingt so wie „wir Menschen“. Aber wer ist schon „wir“? Du als Leserin fühlst anders als ich, die Innenwelt jedes Menschen unterscheidet sich von der des anderen; das ist unsere alltägliche Erfahrung. Und falls du einen Hund hast oder eine Katze, dann trifft das auch auf sie zu, nicht wahr? Letztlich gibt es dieses „wir“ gar nicht, diesen statistischen Querschnitt des Innenlebens aller Menschen, sehr wohl jedoch deine und meine Innenwelt und die aller anderen. So erhebt sich die Frage: Bei welchen Lebewesen, bei welcher Art endet die Innenwelt? Haben nur Lebewesen mit einem dem Menschen ähnelnden Nervensystem eine Innenwelt? Welche Innenwelt haben Vögel, Fische, Schlangen, Insekten, Pflanzen? Andreas Weber konnte unter dem Mikroskop beobachten, wie sich Einzeller furchtsam vor dem tödlichen Tropfen Alkohol auf dem Glas unter der Linse zurückzogen. Wollen schon Einzeller leben? Alles spricht dafür. Nicht nur wir blicken auf unsere Mitwelt, sie blickt auch zurück – und vermutlich vom Menschen dauertraumatisiert.

Radikale Wechselseitigkeit statt Romantik

Wenn wir einen Apfel essen, dann wird er zu einem Teil unseres Körpers; mit anderen Worten: Ein Teil eines Apfelbaums verwandelt sich in dich oder mich. Der Gedanke mag zunächst verblüffend erscheinen, und doch handelt es sich bei diesem Vorgang um den Normalzustand in der Natur und gilt sogar für die Steine, auch wenn deren Verwandlungsprozess hin zum Mineral und damit zum Pflanzennährstoff länger dauert als bei anderen Wesen. Nichts ist auf der Erdoberfläche, das nicht in den großen Stoffwechsel einbezogen wäre, und wer weiß: Vielleicht ist unser Planet ja ein Molekül im Stoffwechsel des Universums?

Hier geht es um keine Hirngespinste, romantischen Gefühle oder Rousseauschen Ideale, sondern um eine notwendige Revolution, wenn wir das Niveau unserer Zivilisation halbwegs aufrechterhalten wollen. Was ansteht, ist eine radikale Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die uns von Grund auf erfasst und in der der Mensch auf eine fundamentale Art und Weise Verantwortung übernimmt, wie er sich einer fühlenden, verletzlichen, gleichwürdigen Welt gegenüber verhält. Dann endet die seit Jahrhunderten andauernde Suche nach dem Sinn, weil wir auf eine ganz selbstverständliche Weise in Verbundenheit blühen und weil dieses Blühen nur geschieht, weil jedes Wesen mit dem anderen verschränkt, verknüpft und verwoben ist. Es ist ein Blühen von Geschwistern.

Symbiose statt Kampf

„Zurückkehren in die Natur“ würde bedeuten, respektvoll anzuerkennen, dass die anders-als-menschliche Welt eben nicht aus Dingen besteht, mit denen wir verfahren können, wie es uns beliebt oder gefällt; dass wir auch dann in die Welt eingreifen, wenn wir dort kein Leben erkennen können. Denn jeder Eingriff bleibt ein Eingriff in die Lebensströme und Zusammenhänge der Welt, und nur selten – wenn überhaupt – wissen wir genau um die Folgen unseres Tuns. Schon morgen kann unser Eingriff etwas anderes bedeuten als heute. „Zurück in die Natur“ erkennt: Leben ist Synergie und Symbiose, nicht Kampf. Noch wehren wir uns gegen die Umarmung der Bäume. Deshalb, so Andreas Weber, brauchen wir „eine Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen“. Nur dann haben wir eine Chance auf eine lebenswerte, der bisherigen Gegenwart ähnliche Zukunft.

Zur Vertiefung: Andreas Weber, Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik, Verlag thinkOya, ISBN 978-3-947296-09-5, 26,80 Euro

 

Wenn man sonst nichts zu tun hat, kann man sich darüber streiten …
Aber egal, Asra hat dazu einen schönen und wie ich finde, sehr lesenswerten, Blogbeitrag verfasst:

„Was ist männlich? Was ist weiblich? Und was hat das mit Männern und Frauen und Anderen zu tun?
Was ist normal? Heißes Thema. Fettnäpfchen bis zum Horizont.

Hier findet ihr den ganzen Beitrag.

Und hier als ziemlich aufwändig gemachten Videobeitrag:

Von Bobby Langer

Aktivismus ist oldschool

Früher sagten wir ironisch: „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie.“ Letztlich ist es diese feste Überzeugung, es lohne sich, angesichts des Unmöglichen Mögliches zu versuchen, die das Unmögliche in seine Schranken zu weisen vermag – und Hoffnung macht. Einfach formuliert: Wir ringen den Gegner nieder, indem wir uns nicht auf seine Waffen einlassen. Deshalb könnte man das auch einen kulturellen Guerillakampf nennen.

Schluss mit dem Kampf gegen Windmühlen

Eine, wenn nicht sogar die Hauptwaffe des Gegners besteht darin, uns glauben zu machen, es gebe jeweils einen leicht identifizierbaren Gegner: die Polizei zum Beispiel, die Banker, die Pharma- und Waffenindustrie, die Politiker, die Manager. Was für ein Pech: Es gibt sie nicht, sie sind allesamt nicht vorhanden. Es gibt nicht „die“ Politiker, nicht „die“ Polizei, noch nicht einmal „die“ Waffenindustrie. Sie alle sind Schimären, die das Feindbild-Szenario bevölkern und uns gegen Windmühlen kämpfen lassen. Wer nun meint, er könne, ja müsse, diese Schimären bekämpfen, egal ob mit Gewalt oder ohne, gehört zur Gruppe der Aktivisten, die sich neuerdings – und sehr viel cooler – „Aktivisti“ nennen.

Ein Postaktivist namens Franziskus

Oft noch unsichtbar, aber bereits gestaffelt dahinter (oder davor, je man Perspektive) stehen die Postaktivisten. Sie eint die „unbedingte Überzeugung, dass ein sehr grundsätzlicher Wandel gelingen kann“. Postaktivistinnen glauben nicht mehr an einzelne Verfehlungen innerhalb „des Systems“, sie denken über Systemchange nach. Und sie bestehen auf diesem Nachdenken, egal, ob sie „von irgendeinem eloquenten Politiker oder CEO als undemokratisch“ bezeichnet werden. Das Totschlagargument ist ihnen egal, weil ja Totschlag systemimmanent ist. „Diese Wirtschaft tötet“, befand Papst Franziskus, der definitiv kein activisto ist, sondern eben ein Postaktivist. Postaktivisten eint das Bewusstsein, sich „viel grundsätzlicher zu empören, zu vernetzen und selbst für die Zukunft des Planeten einzustehen“. Aktivismus im oben beschriebenen Sinne ist einfach oldschool.

Zivilisatorische Kehrtwende

Phillip Maiwald hat sich auf das Phänomen Postaktivismus eingelassen und ihm ein gleichnamiges Buch gewidmet, Untertitel: „Die Stille im Inneren der Krise“. Es geht also nicht mehr darum, sich mit den Auswirkungen des Orkans zu beschäftigen, sondern bis ins stille Auge des Orkans vorzudringen. Es zeugt von Beuysscher Radikalität, wenn Maiwald fordert: „Ich bestehe … auf Schönheit und ich ernenne sie hiermit zu einer der Topmerkmale des Postaktivismus. Ich wünsche mir … einen Aktivismus, der smarter, kreativer, frecher, dabei freundlicher, unkonventioneller, radikaler und besser organisiert ist als der mir noch immer über weite Strecken begegnende.“

Postaktivismus wird gebraucht, weil der Aktivismus seit den 80er Jahren nicht funktioniert hat; sonst „würden wir heute nicht vor diesen ökologischen Wahnsinnsproblemen stehen“. Dabei will Maiwald all die kleinen Erfolge vergangener aktivistischer Aktionen nicht schmälern, doch sei jetzt weit mehr angesagt, nämlich „eine zivilisatorische Kehrtwende“: „In Anbetracht unserer heutigen Situation sollte man sich die Frage stellen, ob wir die uns anvertraute Natur durch eine alle Bereiche des Lebens durchziehende Technologie ersetzen wollen, oder ob wir versuchen wollen, das Viele am Leben zu erhalten, was heute trotz widriger Umstände noch immer da ist und was wir unsere Heimat nennen.“

Unbequeme Fragen müssen sein

Dann aber seien unbequeme Fragen zu beantworten:

– „Wie geht man emotional mit … dem Ökozid des Planeten um?“

– „Wie vereint, organisiert und mobilisiert man eine revolutionäre Bewegung?“

– „… sollten wir die Zerstörung vielleicht sogar beschleunigen, um unnötiges Leid zu vermeiden?“

– „Wie verteidigt man sich gegen den Vorwurf, Mitglied einer radikalen, ökologischen Gemeinschaft zu sein? Muss man sich überhaupt verteidigen?“

– „Ist es ein legitimer Akt von Gewalt, wenn man einen den Regenwald abholzenden Bulldozer anzündet?“

-„Ist es ein Akt von Gewalt, wenn ich Fleisch esse?“

Vom Wert der Tränen

Mit seinem Buch „Postaktivismus“ spricht Phillip Maiwald letztlich dem tiefenökologischen Gedanken das Wort, dass wir erst dann wirklich ins Handeln kommen, wenn wir den Schmerz über die Verwüstungen der Erde (und in uns) zulassen. An das berühmte William-Blake-Zitat „A tear is an intellectual thing” [eine Träne ist eine intellektuelle Sache] anknüpfend sagt er, man könne die ganze Welt daran aufhängen. Es ist eben diese Träne, die wichtiger ist als all diese „Überheblichkeiten und Grabenkämpfe“; „Wir werden in Zukunft mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die wir noch vor kurzem für Fachidioten und Hampelmänner gehalten haben, wir werden mit Nationalisten, Populisten und Kapitalisten sprechen und zusammenarbeiten müssen. Nur so können wir den Herausforderungen der Zukunft auch nur annähernd gerecht werden.“

Radikal mit dem Alten aufräumen

Die fetten Jahre sind vorbei, und die Zeit für lang gehätschelte Glaubenssätze ebenfalls. Diesbezüglich erinnert Maiwald an den riesigen Werbescreen am New Yorker Times Square, auf dem die Künstlerin Jenny Holzer den Spruch installiert hatte: „Protect me from what I want“ [Schütze mich vor dem, was ich möchte]. Vielmehr sei es sinnvoll, einen Minimalkonsens zu entwickeln, „für den man sich begeistern und einsetzen kann, während man über unvermeidliche Unterschiede … großzügig hinweg sieht“. Man könne nun mal „keinen radikalen Wandel auf den Weg bringen und zur gleichen Zeit alles beim Alten belassen“. Bei seinem Formulierungsversuch eines solchen Minimalkonsens‘ zeigt sich rasch, welche Tabuthemen angefasst werden müssten, zum Beispiel: konsequente Umverteilung von materiellem Reichtum, Schließung energieverschlingender Veranstaltungsräume, neues Finanzsystem, sofortiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Vergesellschaftung der Chemie-, Energie- und Stahlindustrie, Austritt aus der Nato. Stattdessen Verankerung von Tier-/Pflanzenrechten und den Rechten kommender Generationen im Grundgesetz, Einführung bzw. Subventionierung von Kreislaufwirtschaft in allen Industriezweigen und Geld für die ganzheitliche Bildung der Kinder.

Hüter/innen der Erde

Weil die Erfüllung all dieser Forderungen einer Umwälzung sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse gleichkäme, werden die meisten davon, nüchtern betrachtet, wohl unangetastet bleiben – mit allen langfristig unvermeidlichen und voraussichtlich desaströsen Folgen für Mensch und Mitwelt. Doch gemäß der hartnäckigen Einsicht „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie“, liegt der Wert von Phillip Maiwalds Buch nicht in der detaillierten Analyse eines sozial-ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, sondern darin, das Notwendige zu Ende zu denken und dabei auch Denktabus nicht länger hinzunehmen. Schließlich gehe es darum, „wirklich etwas zu wagen und gemeinsam das Richtige zu tun; wir sind ohne Einschränkung die Hüterinnen und Hüter der Erde bis zum letzten, lebendigen Wesen“.

Phillip Maiwald, Postaktivismus, 20 €, Büchner Verlag, ISBN 978-3-96317-345-5


Siehe auch: civil integrity – postactivism

von Peter Zettel

Rote oder blaue Pille?

Gestern sah ich in einem Video-Gespräch im Hintergrund ein Bild mit einer roten und einer blauen Pille. Ganz klar eine Anspielung auf den Film „Matrix“. Was mich zu der erstaunten Frage veranlasste „Du hast dich noch nicht entschieden?“

Sein „Doch, habe ich!“ klang mir jedoch nicht überzeugend, denn hätte er sich entschieden, wäre da eine Pille weg. Falls Sie den Film nicht kennen:

Neo wird vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Nimmt er die blaue, geht es für ihn zurück in seine heile Welt, die nicht der Realität entspricht. Die rote Pille bewirkt das genaue Gegenteil und befreit ihn aus der Simulation.

Also ich kenne keinen Philosophen oder Wissenschaftler, den ich ernst nehmen würde, der nicht die rote Pille geschluckt und eine eindeutige Meinung hätte. Der Weg Suche nach der Wahrheit lässt nämlich keinen anderen Weg zu. Rote oder blaue Pille?

Die Entscheidung muss man treffen: Will ich wirklich die Wahrheit über mich selbst wissen oder möchte ich nur meine Ansichten bestätigt haben? Die Wahrheit kann nämlich ganz schön hart sein.

Weiter mit Mit den Wölfen heulen …

Von Charles Eisenstein

[Dieser Artikel ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreiten und vervielfältigen werden.]

Jemand schickte mir am 19. Januar [2021] ein Video, in dem der Gastgeber, unter Berufung auf eine geheime Quelle aus der „White Hat Power“-Fraktion, sagte, dass endgültige Pläne im Gang sind, um den kriminellen Tiefen Staat ein für alle Mal zu stürzen. Die Amtseinführung von Joe Biden werde nicht stattfinden. Die Lügen und Verbrechen der satanischen Menschenhandels-Elite würden offenbar werden. Die Gerechtigkeit werde sich durchsetzen, die Republik wiederhergestellt werden. Vielleicht, sagte er, werde der Tiefe Staat einen letzten verzweifelten Versuch machen, an der Macht zu bleiben, indem er eine gefälschte Einweihung inszeniert, mit Deep-Fake-Videoeffekten, um es so aussehen zu lassen, als würde Chief Justice John Roberts wirklich Joe Biden vereidigen. Lassen Sie sich nicht täuschen, sagte er. Vertrauen Sie dem Plan. Donald Trump wird weiterhin der eigentliche Präsident bleiben, auch wenn die gesamten Mainstream-Medien etwas anderes sagen.

Die Demokratie ist am Ende

Es ist kaum die Zeit wert, das Video an sich zu kritisieren, da es ein unspektakuläres Beispiel für sein Genre ist. Ich schlage nicht vor, dass Sie es sich ansehen. Was ernst genommen werden muss und alarmierend ist, ist Folgendes: Die Zersplitterung der Wissensgemeinschaft in unzusammenhängende Realitäten ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass eine große Anzahl von Menschen bis heute glaubt, Donald Trump sei insgeheim Präsident, während Joe Biden ein als Weißes Haus getarntes Hollywood-Studio bewohnt. Dies ist eine abgeschwächte Version des viel weiter verbreiteten Glaubens (Dutzende von Millionen Menschen), dass die Wahl gestohlen wurde.

In einer funktionierenden Demokratie könnten die beiden Seiten die Frage, ob die Wahl gestohlen wurde, durch Beweise aus für beide Seiten akzeptablen Informationsquellen diskutieren. Heute gibt es keine solche Quelle. Der größte Teil der Medien hat sich in separate und sich gegenseitig ausschließende Ökosysteme aufgespalten, die jeweils die Domäne einer politischen Fraktion sind, was eine Debatte unmöglich macht. Alles, was übrigbleibt, ist, wie Sie vielleicht schon erlebt haben, ein Schrei-Duell. Ohne Debatte muss man zu anderen Mitteln greifen, um in der Politik den Sieg zu erringen: Gewalt statt Überzeugung.

Dies ist ein Grund, warum ich denke, dass die Demokratie am Ende ist. (Ob wir sie jemals hatten, oder wie viel davon, ist eine andere Frage.)

Sieg ist inzwischen wichtiger als Demokratie

Angenommen, ich wollte einen rechtsextremen, Trump-unterstützenden Leser davon überzeugen, dass die Behauptungen über Wahlbetrug unbegründet sind. Ich könnte Berichte und Faktenchecks auf CNN oder der New York Times oder Wikipedia zitieren, aber nichts davon ist für diese Person glaubwürdig, die mit einiger Berechtigung annimmt, dass diese Publikationen gegenüber Trump voreingenommen sind. Das Gleiche gilt, wenn Sie ein Biden-Anhänger sind und ich versuche, Sie von massivem Wahlbetrug zu überzeugen. Beweise dafür finden sich nur in rechten Publikationen, die Sie sofort als unzuverlässig abtun werden.

Lassen Sie mich dem aufgebrachten Leser etwas Zeit ersparen und Ihre vernichtende Kritik des Obigen für Sie formulieren. „Charles, Sie stellen hier eine falsche Gleichsetzung auf, die schockierend ignorant gegenüber bestimmten unbestreitbaren Fakten ist. Fakt eins! Fakt zwei! Fakt drei! Hier sind die Links. Sie erweisen der Öffentlichkeit einen Bärendienst, wenn Sie auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die andere Seite es wert ist, gehört zu werden.“

Wenn auch nur eine Seite das glaubt, sind wir nicht mehr in einer Demokratie. Mir geht es hier nicht darum, beide Seiten gleich zu behandeln. Mein Punkt ist, dass keine Gespräche stattfinden oder stattfinden können. Wir sind nicht mehr in einer Demokratie. Demokratie hängt von einem gewissen Maß an bürgerlichem Vertrauen ab, von der Bereitschaft, über die Verteilung der Macht durch friedliche, faire Wahlen zu entscheiden, die von einer objektiven Presse begleitet werden. Sie erfordert die Bereitschaft, sich auf Gespräche oder zumindest Debatten einzulassen. Sie erfordert, dass eine wesentliche Mehrheit etwas – die Demokratie selbst – für wichtiger hält als den Sieg. Andernfalls befinden wir uns entweder in einem Zustand des Bürgerkriegs oder, wenn eine Seite dominant ist, in einem Zustand des Autoritarismus und der Rebellion.

So wird die Linke zur Rechten

An diesem Punkt ist es klar, welche Seite die Oberhand hat. Es liegt eine Art poetische Gerechtigkeit darin, dass der rechte Flügel – der die Informationstechnologie der Volksverhetzung und der narrativen Kriegsführung überhaupt erst perfektioniert hat – nun ihr Opfer ist. Konservative Experten und Plattformen werden schnell aus den sozialen Medien, aus den App-Stores und sogar ganz aus dem Internet verdrängt. Wenn ich das in der heutigen Umgebung überhaupt sage, erregt es den Verdacht, dass ich selbst ein Konservativer bin. Ich bin genau das Gegenteil. Aber wie eine Minderheit von linken Journalisten wie Matt Taibbi und Glenn Greenwald bin ich entsetzt über die Löschung, den Ausschluss von sozialen Netzwerken, Zensur und Dämonisierung der Rechten (einschließlich 75 Millionen Trump-Wähler) – etwas, das man nur als Totalen Informationskrieg bezeichnen kann. Im Totalen Informationskrieg (wie in militärischen Konflikten) ist es eine wichtige Taktik, seine Gegner so schlecht wie möglich aussehen zu lassen. Wie können wir eine Demokratie haben, wenn wir von den Medien, auf die wir uns verlassen, um uns zu sagen, was real ist, was „Nachrichten“ sind, und was die Welt ist, dazu aufgehetzt werden, uns gegenseitig zu hassen?

Es sieht heute so aus, als würde die Linke die Rechte in ihrem eigenen Spiel schlagen: dem Spiel der Zensur, des Autoritarismus und der Unterdrückung von Dissens. Aber bevor Sie die Vertreibung der Rechten aus den sozialen Medien und dem öffentlichen Diskurs feiern, verstehen Sie bitte das unvermeidliche Ergebnis: Die Linke wird zur Rechten. Dies ist bereits seit Langem im Gange, wie die überwältigende Präsenz von Neocons, Wall-Street-Insidern und Unternehmensvertretern in der Biden-Administration beweist. Der parteiische Informationskrieg, der als Links-Rechts-Konflikt begann, mit Fox auf der einen Seite und CNN und MSNBC auf der anderen, wandelt sich rasch in einen Kampf zwischen dem Establishment und seinen Herausforderern.

Erzwungene Illegitimität

Wenn Big Tech, Big Pharma und Wall Street auf der gleichen Seite sind wie das Militär, die Geheimdienste und die Mehrheit der Regierungsbeamten, wird es nicht lange dauern, bis diejenigen zensiert sind, die ihre Agenda stören.

Glenn Greenwald bringt es gut auf den Punkt:

 Es gibt Zeiten, in denen sich Repressions- und Zensurmaßnahmen eher gegen die Linke richten, und Zeiten, in denen sie eher gegen die Rechte gerichtet sind, aber es ist weder eine inhärent linke noch eine rechte Taktik. Es ist eine Taktik der herrschenden Klasse, und sie wird gegen jeden eingesetzt, der als Abweichler von den Interessen und Orthodoxien der herrschenden Klasse wahrgenommen wird, ganz gleich, wo auf dem ideologischen Spektrum er sich befindet.

Für das Protokoll: Ich glaube nicht, dass Donald Trump noch Präsident ist, noch glaube ich, dass es massiven Wahlbetrug gegeben hat. Allerdings denke ich auch, dass, wenn es ihn gegeben hätte, wir keine Garantie hätten, das herauszufinden, weil genau die Mechanismen zur Unterdrückung von Wahlbetrugs-Fehlinformationen auch zur Unterdrückung dieser Informationen verwendet werden könnten, falls sie wahr wären. Wenn Konzern-Regierungs-Mächte die Presse und unsere Mittel der Kommunikation (das Internet) gekapert haben, was soll sie davon abhalten, Dissens zu unterdrücken?

Als Autor, der in den letzten zwanzig Jahren gegenkulturelle Ansichten zu vielen Themen vertreten hat, stehe ich vor einem Dilemma. Die Beweise, auf die ich mich berufen kann, um meine Ansichten zu untermauern, verschwinden aus den Wissensbeständen. Die Quellen, die ich verwenden könnte, um dominante Narrative zu untergraben, sind illegitim, weil gerade sie dominante Narrative untergraben. Die Wächter des Internets erzwingen diese Illegitimität durch eine Vielzahl von Mitteln: algorithmische Unterdrückung, tendenziöses automatisches Ausfüllen von Suchbegriffen, Dämonisierung abweichender Kanäle, Kennzeichnung abweichender Ansichten als „falsch“, Löschung von Accounts, Zensur von Bürgerjournalisten und so weiter.

Der Kultcharakter des Mainstreams

Die daraus resultierende Erkenntnisblase belässt den Durchschnittsbürger genauso in der Realitätsferne wie jemanden, der glaubt, Trump sei noch Präsident. Der kultähnliche Charakter von QAnon und der extremen Rechten ist klar erkennbar. Was weniger offensichtlich ist (vor allem für diejenigen, die sich darin befinden), ist der zunehmend kultähnliche Charakter des Mainstreams. Wie können wir es anders nennen als eine Sekte, wenn sie Informationen kontrolliert, abweichende Meinungen bestraft, ihre Mitglieder ausspioniert und ihre physischen Bewegungen kontrolliert, es an Transparenz und Verantwortlichkeit in der Führung mangelt, sie vorschreibt, was ihre Mitglieder sagen, denken und fühlen sollen, sie ermutigt, sich gegenseitig zu denunzieren und auszuspionieren, und eine polarisierte Wir-gegen-die-Mentalität aufrechterhält? Ich sage sicherlich nicht, dass alles, was die Mainstream-Medien, die Wissenschaft und die Akademiker sagen, falsch ist. Wenn jedoch mächtige Interessen Informationen kontrollieren, können sie die Realität ausblenden und die Öffentlichkeit dazu bringen, Absurditäten zu glauben.

Vielleicht geschieht das mit der Kultur im Allgemeinen. „Kultur“ kommt von der gleichen sprachlichen Wurzel wie „Kult“. Sie erzeugt eine gemeinsame Realität, indem sie die Wahrnehmung konditioniert, den Gedanken strukturiert und die Kreativität lenkt. Was heute anders ist, ist, dass etablierte Kräfte verzweifelt versuchen, eine Realität aufrechtzuerhalten, die nicht mehr zum Bewusstsein einer Öffentlichkeit passt, die sich schnell aus dem Zeitalter der Trennung herausbewegt. Die Verbreitung von Sekten und Verschwörungstheorien spiegelt die zunehmend aus den Angeln gehobene Absurdität der offiziellen Realität sowie der Lügen und Propaganda wider, die sie aufrechterhalten.

Anders ausgedrückt: Der Wahnsinn, der die Trump-Präsidentschaft war, war keine Abweichung von einer Entwicklung hin zu immer größerer Vernunft. Sie war kein Stolpern auf dem Weg von mittelalterlichem Aberglauben und Barbarei hin zu einer rationalen, wissenschaftlichen Gesellschaft. Sie bezog ihre Kraft aus einer zunehmenden kulturellen Turbulenz, so wie ein Fluss immer heftigere Gegenströmungen erzeugt, wenn er sich seinem Sturz über den Wasserfall nähert.

Diskreditierende Belege einer anderen Realität

In letzter Zeit hatte ich als Autor das Gefühl, dass ich versuche, einen Verrückten von seinem Wahnsinn abzubringen. Wenn Sie jemals versucht haben, mit einem QAnon-Anhänger zu argumentieren, wissen Sie, wovon ich spreche, wenn ich versuche, mit dem öffentlichen Verstand zu argumentieren. Ich will mich nicht als das einzige vernünftige Individuum in einer verrückt gewordenen Welt darstellen (und damit meine eigene Verrücktheit demonstrieren), sondern vielmehr ein Gefühl ansprechen, das sicher viele Leser teilen: dass die Welt verrückt geworden ist. Dass unsere Gesellschaft in die Unwirklichkeit abgedriftet ist, sich in einer Illusion verloren hat. So sehr wir auch hoffen, den Wahnsinn einer kleinen und beklagenswerten Untergruppe der Gesellschaft zuschreiben zu können, handelt es sich doch um einen allgemeinen Zustand.

Als Gesellschaft sind wir aufgefordert, das Inakzeptable zu akzeptieren: die Kriege, die Gefängnisse, die gezielt herbeigeführte Hungersnot im Jemen, die Vertreibungen, die Landnahmen, die häuslichen Misshandlungen, die rassistische Gewalt, die Kindesmisshandlungen, die Abzocke, die Zwangsfleischfabriken, die Bodenzerstörung, den Ökozid, die Enthauptungen, die Folter, die Vergewaltigungen, die extreme Ungleichheit, die Verfolgung von Whistleblowern… Auf irgendeiner Ebene ist uns allen bewusst, dass es verrückt ist, mit dem Leben fortzufahren, als ob all dies nicht geschehen würde. Zu leben, als ob die Realität nicht real wäre – das ist die Essenz des Wahnsinns.

Ebenfalls an den Rand der offiziellen Realität gedrängt ist ein Großteil der wunderbaren heilenden und schöpferischen Kraft von Menschen und anderen als menschlichen Wesen. Ironischerweise, wenn ich einige Beispiele dieser außergewöhnlichen Technologien erwähne, zum Beispiel in den Bereichen Medizin, Landwirtschaft oder Energie, handle ich mir den Vorwurf ein, „unrealistisch“ zu sein. Ich frage mich, ob der Leser, wie ich, direkte Erfahrungen mit Phänomenen hat, die offiziell nicht real sind?

Ich bin sehr versucht zu behaupten, dass die moderne Gesellschaft auf eine enge Unwirklichkeit beschränkt ist, aber genau das ist das Problem. Alle Beispiele, die ich von jenseits akzeptabler politischer, medizinischer, wissenschaftlicher oder psychologischer (Un-)Realität anführe, diskreditieren automatisch mein Argument und machen mich für jeden, der mir nicht ohnehin zustimmt, zu einer verdächtigen Figur.

Informationskontrolle erzeugt Verschwörungstheorien

Lassen Sie uns ein kleines Experiment machen. Hey, Leute, Geräte mit freier Energie sind echt, ich habe eins gesehen!

Also, vertrauen Sie mir nach dieser Aussage eher mehr oder weniger? Jeder, der die offizielle Realität in Frage stellt, hat dieses Problem. Schauen Sie, was mit Journalisten passiert, die darauf hinweisen, dass Amerika all die Dinge tut, die es Russland und China vorwirft (Einmischung in Wahlen, Sabotage von Stromnetzen, Bau von elektronischen Hintertüren [zum geheimdienstlichen Abhören]). Sie werden nicht oft auf MSNBC oder der New York Times zu finden sein. Die von Herman und Chomsky beschriebene Fabrikation von Zustimmung („manufacture of consent“) geht weit über die Zustimmung zum Krieg hinaus.

Indem die herrschenden Institutionen Informationen kontrollieren, erzeugen sie eine passive öffentliche Zustimmung zu der Wahrnehmungs-Realitäts-Matrix, die ihre Dominanz aufrechterhält. Je erfolgreicher sie bei der Kontrolle der Realität sind, desto unwirklicher wird sie, bis wir das Extrem erreichen, bei dem jeder vorgibt zu glauben, aber niemand es wirklich tut. Wir sind noch nicht so weit, aber wir nähern uns diesem Punkt schnell. Wir sind noch nicht auf dem Stand des späten sowjetischen Russland, als praktisch niemand die Prawda und die Iswestija für bare Münze nahm. Die Irrealität der offiziellen Realität ist noch nicht so vollständig, ebenso wenig wie die Zensur der inoffiziellen Realitäten. Wir befinden uns immer noch in der Phase der verdrängten Entfremdung, in der viele das vage Gefühl haben, in einer VR-Matrix, einer Show, einer Pantomime zu leben.

Was verdrängt wird, neigt dazu, in extremer und verzerrter Form zum Vorschein zu kommen; zum Beispiel Verschwörungstheorien, dass die Erde flach ist, dass die Erde hohl ist, dass sich chinesische Truppen an der US-Grenze sammeln, dass die Welt von babyfressenden Satanisten regiert wird und so weiter. Solche Überzeugungen sind Symptome dafür, dass man die Menschen in eine Matrix von Lügen einsperrt und ihnen vorgaukelt, sie sei real.

Umso strenger die Behörden Informationen kontrollieren, um die offizielle Realität zu bewahren, desto virulenter und verbreiteter werden die Verschwörungstheorien. Schon jetzt schrumpft der Kanon der „autoritären Quellen“ bis zu dem Punkt, an dem Kritiker der US-Außenpolitik, israelische/palästinensische Friedensaktivisten, Impfstoffskeptiker, ganzheitliche Gesundheitsforscher und gewöhnliche Dissidenten wie ich Gefahr laufen, in die gleichen Internet-Ghettos verbannt zu werden wie die Vollblut-Verschwörungstheoretiker. In der Tat tafeln wir zu einem großen Teil am selben Tisch. Welche andere Wahl gibt es, wenn der Mainstream-Journalismus seiner Pflicht, die Macht energisch herauszufordern, nicht nachkommt, als auf Bürgerjournalisten, unabhängige Forscher und anekdotische Quellen zurückzugreifen, um der Welt einen Sinn zu geben?

Suche nach einem kraftvolleren Weg

Ich merke, dass ich übertreibe, dass ich den Sachverhalt überzeichne, um den Grund für meine jüngsten Gefühle von Vergeblichkeit herauszukitzeln. Die uns zum Konsum angebotene Realität ist keineswegs in sich konsistent oder vollständig; ihre Lücken und Widersprüche können ausgenutzt werden, um Menschen dazu einzuladen, ihre Vernünftigkeit in Frage zu stellen. Es geht mir nicht darum, meine Hilflosigkeit zu beklagen, sondern zu erkunden, ob es für mich einen kraftvolleren Weg gibt, das öffentliche Gespräch angesichts der von mir beschriebenen Umnachtung zu führen.

Ich schreibe seit fast 20 Jahren über die bestimmende Mythologie der Zivilisation, die ich das Narrativ des Getrenntseins nenne, und ihre Folgen: das Programm der Kontrolle, die Denkweise des Reduktionismus, den Krieg gegen das Andere, die Polarisierung der Gesellschaft.

Offensichtlich haben meine Essays und Bücher den Anspruch meines naiven Ehrgeizes nicht eingelöst, genau die Umstände zu verhüten, denen wir heute gegenüberstehen. Ich muss gestehen, dass ich müde bin. Ich bin es leid, Phänomene wie den Brexit, die Trump-Wahl, QAnon und den Capitol-Aufstand als Symptome einer viel tieferen Krankheit zu erklären, als es bloßer Rassismus oder Kultismus oder Dummheit oder Wahnsinn ist.

LeserInnen können mit jüngsten Essays extrapolieren

Ich weiß, wie ich diesen Aufsatz schreiben würde: Ich würde die versteckten Annahmen, die verschiedene Seiten teilen, aufdecken und die Fragen, die nur wenige stellen. Ich würde darlegen, wie die Werkzeuge des Friedens und des Mitgefühls die zugrunde liegenden Ursachen der Affäre aufdecken könnten. Ich würde dem Vorwurf der falschen Gleichwertigkeit, des Both-Sideism und des Spirituellen Bypassings zuvorkommen, indem ich beschreibe, wie Mitgefühl uns befähigt, über den endlosen Krieg gegen das Symptom hinauszugehen und die Ursachen zu bekämpfen. Ich würde beschreiben, wie der Krieg gegen das Böse zu der gegenwärtigen Situation geführt hat, wie das Programm der Kontrolle immer virulentere Formen dessen erzeugt, was es auszurotten versucht, weil es nicht die ganze Reihe von Bedingungen sehen kann, die seine Feinde hervorbringen. Diese Bedingungen, so würde ich erklären, beinhalten in ihrem Kern eine tiefgreifende Enteignung, die aus dem Zusammenbruch von definierenden Mythen und Systemen herrührt. Schließlich würde ich beschreiben, wie eine andere Mythologie der Ganzheit, der Ökologie und des Zusammenseins eine neue Politik motivieren könnte.

Fünf Jahre lang habe ich für Frieden und Mitgefühl plädiert – nicht als moralische Gebote, sondern als praktische Notwendigkeiten. Ich habe wenig Neues über die gegenwärtigen internen Auseinandersetzungen in meinem Land [USA] zu sagen. Ich könnte die grundlegenden konzeptionellen Werkzeuge meiner früheren Arbeit nehmen und sie auf die gegenwärtige Situation anwenden, aber stattdessen mache ich eine Atempause, um zu hören, was unter der Erschöpfung und dem Gefühl der Vergeblichkeit liegen könnte. LeserInnen, die von mir einen detaillierteren Blick auf die aktuelle Politik wünschen, können aus den jüngsten Essays über Frieden, Kriegsmentalität, Polarisierung, Mitgefühl und Entmenschlichung extrapolieren. Es ist alles da in Building a Peace Narrative, The Election: Hate, Grief, and a New Story, QAnon: A Dark Mirror, Making the Universe Great Again, The Polarization Trap und anderem.

Wende zu einer tiefen Auseinandersetzung mit der Realität

Also, ich nehme eine Auszeit vom Schreiben erklärender Prosa oder zumindest eine Verlangsamung. Das heißt nicht, dass ich aufgebe und in den Ruhestand gehe. Ganz im Gegenteil. Indem ich auf meinen Körper und seine Gefühle höre, bereite ich mich nach tiefer Meditation, Beratung und medizinischer Arbeit darauf vor, etwas zu tun, was ich bisher noch nicht versucht habe.

In „Der Verschwörungsmythos“ habe ich die Idee erforscht, dass die Kontrolleure der „Neuen Weltordnung“ keine bewusste Gruppe von menschlichen Übeltätern sind, sondern Ideologien, Mythen und Systeme, die ein Eigenleben entwickelt haben. Es sind diese Wesen, die die Marionettenfäden derer ziehen, von denen wir normalerweise glauben, dass sie die Macht haben. Hinter dem Hass und der Spaltung, hinter dem unternehmerischen Totalitarismus und dem Informationskrieg, der Zensur und dem permanenten Biosicherheitsstaat sind mächtige mythische und archetypische Wesen im Spiel. Sie können nicht direkt wörtlich angegangen werden, sondern nur in ihrer eigenen Sphäre.

Ich beabsichtige, das durch eine Geschichte zu tun, wahrscheinlich in Form eines Drehbuchs, aber möglicherweise auch mit einem anderen Medium der Fiktion. Einige der Szenen, die mir eingefallen sind, sind atemberaubend. Mein Bestreben ist ein Werk, das so schön ist, dass die Leute weinen, wenn es vorbei ist, weil sie nicht wollen, dass es aufhört. Keine Flucht vor der Realität, sondern eine Wende hin zu einer tieferen Auseinandersetzung mit ihr. Denn das, was real und möglich ist, ist viel größer, als der Kult der Normalität uns glauben machen will.

Ein Ausweg aus der kulturellen Sackgasse

Ich gebe freimütig zu, dass ich wenig Grund habe zu glauben, dass ich in der Lage bin, so etwas zu schreiben. Ich hatte nie viel Talent für Fiktion. Ich werde mein Bestes tun und vertraue darauf, dass mir eine so durchdringend schöne Vision nicht gezeigt worden wäre, wenn es keinen Weg dorthin gäbe.

Seit Jahren schreibe ich über die Macht der Geschichte. Es ist an der Zeit für mich, diese Technik voll einzusetzen, im Dienst einer neuen Mythologie. Ausführliche Prosa erzeugt Widerstand, aber Geschichten berühren einen tieferen Ort in der Seele. Sie fließen wie Wasser um die intellektuellen Abwehrkräfte herum und weichen den Boden auf, so dass schlummernde Visionen und Ideale Wurzeln schlagen können. Ich wollte gerade sagen, dass es mein Ziel ist, die Ideen, mit denen ich gearbeitet habe, in fiktionale Form zu bringen, aber das ist es nicht ganz. Es geht darum, dass das, was ich ausdrücken möchte, größer ist, als es in erklärender Prosa untergebracht werden kann. Fiktion ist größer und wahrhaftiger als Sachtexte, und jede Erklärung einer Geschichte ist weniger als die Geschichte selbst.

Die Art der Geschichte, die mich aus meiner persönlichen Sackgasse befreien kann, könnte auch für die größere kulturelle Sackgasse von Bedeutung sein. Was kann die Kluft überbrücken in einer Zeit, in der die Uneinigkeit über eine gültige Quelle von Fakten eine Debatte unmöglich macht? Vielleicht sind es auch hier Geschichten: sowohl fiktionale Geschichten, die Wahrheiten transportieren, die sonst durch die Barrieren der Faktenkontrolle unzugänglich sind, als auch persönliche Geschichten, die uns gegenseitig wieder menschlich machen.

Die Wissensallmende des Internets ausschöpfen

Zu Ersterem gehört die Art von gegen-dystopischer Fiktion, die ich schaffen will (nicht unbedingt ein Bild von Utopia malen, aber einen Ton der Heilung anschlagen, den das Herz als authentisch erkennt). Wenn dystopische Fiktion als eine „prädiktive Programmierung“ dient, die das Publikum auf eine hässliche, brutale oder zerstörte Welt vorbereitet, können wir auch das Gegenteil erreichen, indem wir Heilung, Erlösung, Sinneswandel und Vergebung beschwören und normalisieren. Wir brauchen dringend Geschichten, in denen die Lösung nicht darin besteht, dass die Guten die Bösen in ihrem eigenen Spiel (Gewalt) schlagen. Die Geschichte lehrt uns, was unweigerlich darauf folgt: Die Guten werden zu den neuen Bösen, genau wie in der Informationsschlacht, die ich oben erörtert habe.

Mit der letzteren Art von Erzählung, der der persönlichen Erfahrung, können wir einander auf einer zentralen menschlichen Ebene begegnen, die sich nicht widerlegen oder leugnen lässt. Man kann über die Interpretation einer Geschichte streiten, aber nicht über die Geschichte selbst. Mit der Bereitschaft, die Geschichten derer zu suchen, die außerhalb der eigenen vertrauten Ecke der Realität stehen, können wir das Potenzial des Internets zur Wiederherstellung der Wissensallmende ausschöpfen. Dann werden wir die Zutaten für eine demokratische Renaissance haben. Demokratie hängt von einem gemeinsamen Gefühl von „Wir, das Volk“ ab. Es gibt kein „Wir“, wenn wir uns gegenseitig durch parteipolitische Karikaturen sehen und uns nicht direkt engagieren. Wenn wir die Geschichten der anderen hören, wissen wir, dass im wirklichen Leben Gut gegen Böse selten die Wahrheit ist, und dass Herrschaft selten die Antwort ist.

Wenden wir uns einem gewaltfreien Umgang mit der Welt zu

[…]

So begeistert habe ich mich noch nie bei einem kreativen Projekt gefühlt, seit ich 2003–2006 „The Ascent of Humanity“ geschrieben habe. Ich fühle, dass sich das Leben regt, Leben und Hoffnung. Ich glaube, dass in Amerika und wahrscheinlich auch an vielen anderen Orten dunkle Zeiten auf uns zukommen. Im vergangenen Jahr habe ich Phasen tiefer Verzweiflung durchlebt, als Dinge eintraten, die ich zwanzig Jahre lang zu verhindern versucht hatte. All meine Bemühungen schienen vergeblich. Doch jetzt, da ich eine neue Richtung einschlage, erblüht in mir die Hoffnung, dass andere das Gleiche tun werden, und das menschliche Kollektiv ebenso. Denn haben sich nicht auch unsere furiosen Bemühungen, eine bessere Welt zu schaffen, als vergeblich erwiesen, wenn man den aktuellen Zustand von Ökologie, Wirtschaft und Politik betrachtet? Sind wir als Kollektiv nicht alle erschöpft von dem Kampf?

Ein Schlüsselthema meiner Arbeit war die Berufung auf andere kausale Prinzipien als Gewalt: Morphogenese, Synchronizität, die Zeremonie, das Gebet, die Geschichte, der Samen. Ironischerweise sind viele meiner Essays selbst von einem gewaltsamen Typus: Sie tragen Beweise zusammen, setzen Logik ein und tragen einen Fall vor. Es ist nicht so, dass Technologien der Gewalt von Natur aus schlecht sind; sie sind nur begrenzt und unzureichend für die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Beherrschung und Kontrolle haben die Zivilisation dorthin gebracht, wo sie heute ist, im Guten wie im Schlechten. Wie sehr wir uns auch an sie klammern mögen, sie werden Autoimmunkrankheiten, Armut, ökologischen Kollaps, Rassenhass oder den Trend zum Extremismus nicht lösen. Diese werden nicht ausgerottet werden. Genauso wird die Wiederherstellung der Demokratie nicht kommen, weil jemand einen Streit gewinnt. Und so erkläre ich gerne meine Bereitschaft, mich dem gewaltfreien Umgang mit der Welt zuzuwenden. Möge diese Entscheidung Teil eines morphischen Feldes sein, in dem die Menschheit kollektiv das Gleiche tut.

Übersetzung: Bobby Langer

Spenden ans gesamte Übersetzerteam werden gerne angenommen:

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(Originaltext: https://charleseisenstein.org/essays/to-reason-with-a-madman)

 

von Bobby Langer

Zufriedene Menschen haben keinen guten Ruf. Sie gelten bestenfalls als naiv, schlimmstenfalls als dumm. Zufrieden sind Tiere in Käfighaltung, die es nicht besser wissen, zufrieden sind aber auch freilebende Tiere in einer relativ unbedrohten Natur. Zufrieden sind Geisteskranke und Säuglinge an der Mutterbrust.

Eine schauerliche Beschreibung von Zufriedenheit liefert Wikipedia: „Die Zufriedenheit tritt im Leben nicht automatisch ein, sondern sie muss sich in der ständigen Auseinandersetzung mit der Unzufriedenheit behaupten.“ Mit anderen Worten: Es gibt keine grundsätzlich zufriedenen Menschen (es sei denn die Unzurechnungsfähigen). Unzufriedenheit ist also der vorherrschende Seinszustand.

Ist Zufriedenheit weiblich?

Tatsächlich habe ich schon eine Reihe zufriedener Menschen kennengelernt: meine Großmutter zum Beispiel, die aus Schlesien vertrieben war und doch in eine geradezu provokative Zufriedenheit fand; zwei alte österreichische Sennerinnen, die sich von einem 14-Stunden-Arbeitstag nicht aus der Ruhe bringen ließen; eine junge Mutter, obwohl der Erzeuger sich weigerte, die Vaterrolle zu übernehmen; ein schottischer Landwirt, der seine Heimat nie verlassen hatte und mit 16 Arbeitsstunden einverstanden war – am Sonntag genehmigte er sich zwei, drei Stunden weniger. Würde ich mir das Gedächtnis ein wenig mehr zermartern, fände ich sicherlich einige zufriedene Menschen mehr. Auffällig an meiner zufälligen Zusammenstellung ist die weibliche Häufung.

Zufriedenheit, nicht Befriedigung

Eins sei grundsätzlich angemerkt: Zufriedenheit darf nicht verwechselt werden mit Befriedigung. Nun geht es mir hier gar nicht um eine genauere Betrachtung der Zufriedenheit, sondern mehr um die Konsequenzen von Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit. Der Frieden bildet nicht umsonst den Kern des Wortes Zufriedenheit. Frieden ist keine kurzfristige Situation, sondern ein anhaltender Zustand. Zufriedene Menschen sind tendenziell friedliche Menschen. Sie lieben fröhliche oder auch stille Geselligkeit, den Kreis der Familie oder von Freunden. Konflikte hingegen meiden zufriedene Menschen tunlichst; lieber beschäftigen sie sich damit, den Zustand ihrer inneren Ruhe auszugestalten und das vorhandene Gute zu ergänzen und auszubauen. Streitlustigen gehen sie aus dem Weg oder sie wenden sich von ihnen ab.

Das Bewusstsein der Lücke

Streit ist dem Zufriedenen ein fremder und befremdlicher Zustand. Wird der Zufriedene zum Streit gezwungen, dann kann er zwar hart kämpfen, aber er kämpft nicht um Sieg, sondern um die Wiederherstellung der Zufriedenheit. Man könnte geradezu sagen: Im Kampf zwischen bedrohten Zufriedenen und bedrohenden Unzufriedenen kämpfen beide Parteien aneinander vorbei. Weil der Unzufriedene sich Zufriedenheit wünscht, jagt er ihr hinterher und versucht, sie zu erzwingen. Der mentale Grundzustand des Unzufriedenen ist das Bewusstsein einer unerklärlichen Lücke, die er ständig zu füllen versucht. Dem Zufriedenen ist dieser mentale Grundzustand fremd.

Bedeutungsfelder

Über Zufriedenheit und ihr Gegenteil habe ich bisher nur auf der individuellen Ebene gesprochen. Übergangsweise kann man sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn eine ganze Gruppe von Zufriedenen zusammenlebt. Dabei entstehen Bedeutungsfelder wie Beistand, Glück, Harmonie, Heimat, Vertrauen und Frieden, allesamt mit dem Verdacht kritikloser Naivität belastet. Andererseits kann man sich die Folgen ausmalen, wenn eine Gruppe von Unzufriedenen zusammenkommt. Dabei werden Streit entstehen, Auseinandersetzung, Dominanz, Hierarchie, Gewalt und Krieg.

Brutstätte der Unzufriedenheit

Eine Steigerungsform einer solchen dissonanten Situation entsteht, wenn man die Unzufriedenheit zur Grundlage einer Gesellschaftsordnung macht; und wenn sich diese Gesellschaftsordnung einer Wirtschaftsordnung unterwirft, in der es kein Genug gibt, sondern es immer mehr und besser und größer und bequemer werden muss. Die vom kapitalistischen Wirtschaftssystem gezauberte Konsumgesellschaft ist eine Brutstätte der Unzufriedenheit sowie Entfremdung und damit latent gewalttätig. Der Strom der immer neu geweckten Wünsche treibt das Konsumrad an, das so lange in Schwung bleibt, solange es nur zu einer kurzfristigen Befriedigung kommt und keine dauerhafte Zufriedenheit entsteht.

Reizorientiert, fremdbestimmt und krank

Der Drang nach immer mehr erzeugt eine permanente Unzufriedenheit, seelisches Leid und eine Grundstimmung der Friedlosigkeit, wenn nicht der Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft. So zurechtgetrimmte Menschen leben reizorientiert und ohne inneres Fundament, sind auf eine geradezu lustvolle Art und Weise fremdgesteuert und deshalb leicht zu (ver)führen. Da dieser „konsumistische Formungsprozess“ in immer jüngeren Jahren beginnt und in seinen Konsequenzen nur von wenigen Eltern durchschaut wird, setzt auch die Anspruchshaltung gegenüber den Lebensumständen immer früher ein. Unzufriedenheit stellt sich schon in der Grundschule ein, wenn nicht bereits im Kindergarten. Einher gehen damit entgleisende kindliche Seelen und gestörte Familien und Beziehungen.

von Peter Zettel

Wir sehen die Fragmentierung in der Welt und suchen, sie zu überwinden. Durch mehr Menschlichkeit, einen anderen Umgang miteinander, humanitäres Verhalten. Doch es wird uns wohl kaum wirklich gelingen, dadurch die Fragmentierung im Denken der Menschen zu überwinden.

Solange wir nach dem Licht streben und der Dunkelheit in uns selbst zu begegnen scheuen, solange werden wir nicht erkennen können, worum es in Wirklichkeit geht. Denn es ist nicht wie in einem Zimmer, wo ich nur das Licht anzumachen brauche, um die Dunkelheit zu vertreiben. Weiterlesen

Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

Rezension von Bobby Langer

Worum geht es eigentlich? Ich spreche weder von Corona, noch vom Ukrainekrieg, noch von der Klimakrise. Ja, kann man von etwas anderem sprechen? Gibt es etwas Wichtigeres? Ja, nämlich die Ursache für Corona, für den Krieg und die Klimakrise. Wenn es so eine Ursache gäbe, wäre sie es nicht wert, beseitigt zu werden? Prio eins sozusagen? Genau darum geht es in Fabian Scheidlers Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“.

Es geht buchstäblich um das „alles oder nichts“. Es geht um „die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist“, es geht um „Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse“. Und weil Scheidler durch und durch Journalist ist, kann man dieses Buch auch lesen, ohne Sekundärliteratur zu studieren oder nach fünf Seiten einzuschlafen. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?“ Weiterlesen