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Eine Polemik von Bobby Langer und Maria Ghoebel

Nennen wir ihn Franz. Franz wirkt – mal mehr, mal weniger hoffend – seit Jahren auf einen „Wandelfonds“ hin. Diverse Anläufe gingen mit schmerzlicher Regelmäßigkeit schief. Franz zählt sich mit gutem Grund zur „Wandelbewegung“ und macht sich mit mindestens ebenso gutem Grund große Sorgen um die Zukunft, nein die Zukünfte: die Zukunft der versehrten Erde, die Zukunft ihrer hilflosesten, vom Menschen abhängigen Geschöpfe, die Zukunft der Menschheit und – naturgemäß – seine eigene Zukunft. Das alles ist auch eine Klassenfrage. Warum? Um die Antwort geht es hier.

Geräumige, grüne „Bubble“

Ich sehe schon die beim Begriff „Klassenfrage“ hochgezogenen Augenbrauen und gerümpften Nasen. „‚Klassengesellschaft‘, das gibt’s doch nicht. Ist ein Begriff aus der Mottenkiste der Kommunisten.“ So in etwa könnte die süffisante Anmerkung eines standardisierten „Grünen“ lauten. Damit meine ich jene bekennenden Grünen, die in der Mittelschicht (gelegentlich auch der Oberschicht) aufgehoben sind, sich in einer Blase (bubble) bewegen, einer „Echokammer[1]“, die so geräumig ist, dass der Eindruck, gar die Überzeugung entsteht, gepflegte Grünanlagen, Öko-Häuser, Handys, Solarzellen und Elektroautos – und natürlich Facebook, TikTok, Google und Amazon – entstünden von alleine, sozusagen arbeiterfrei. Zu dieser Echokammer gehören genauso Biomärkte, Naturkosmetik, Öko-Kleidung und vegane Schuhe; schöne grüne Welt. Natürlich: Rein theoretisch weiß man, dass sich „da draußen“ Menschen für Hungerlöhne abschuften; dass für unseren westlichen Über-Komfort, diesen elitären Wohlstand, Tag für Tag mehr Natur- und Kulturräume samt zahlreicher Tier- und Pflanzenarten vor die Hunde gehen. Rein praktisch denken wir lieber nicht dran und spenden vorsichtshalber für Greenpeace oder den Regenwald.

Die, die ihre Seele nicht verkaufen wollen

Aber da ist etwas noch Dunkleres, das meistens nicht einmal in der Theorie aufscheint: Dass nämlich diese Echokammer so gut abgeschottet ist, dass für eine enkeltaugliche Welt wenig bis nichts vorangeht; dass nach fünfzig Jahren Umweltbewegung und Hunderten von Konferenzen sich die Erde nach wie vor unnötig erwärmt, nach wie vor täglich Arten sterben, nach wie vor Tausende Quadratkilometer Primärwald abgeholzt, Böden versiegelt und Flüsse von Bergbauminen vergiftet werden. Und dass die SUVs fröhliche Urständ feiern. Der Echokammer gelingt es erfolgreich, dass die eigene Beteiligung an diesen exponentiell wachsenden Verbrechen an der Mitwelt im wahrsten Sinne des Wortes „außen vor“ bleiben kann. Als Mittelklasse definiere ich hier mal all jene, die den Euro nicht umdrehen müssen, wenn es um den Wocheneinkauf oder die Urlaubsplanung geht. Man wirft das Geld zwar nicht zum Fenster raus, aber man hat es in ausreichendem Maße auf der hohen Kante.

Aber wie ist es mit all den zugegebenermaßen wenigen wie Franz, die sich an der Schädigung der Mitwelt nicht beteiligen wollen; die nicht „mitmachen“ wollen; denen es nicht gelingt, den täglich angerichteten Schaden unseres Zivilisationsmodells unter den Gewissensteppich zu kehren; die nicht ihre Seele verkaufen wollen oder können? Das sind naturgemäß die, die keinen einträglichen Job haben, die von der Hand in den Mund leben. Das sind die, die sich bücken und eine Schnecke vom Gehweg aufklauben, ehe sie zertreten wird; das sind die, die nur das Nötigste einkaufen und forschen, wo sie es am günstigsten und am wenigsten schädlich herbekommen. Den Bio-Supermarkt können sie sich leider nicht leisten; und um sich auch mal etwas Gesundes gönnen oder am öffentlichen Kulturleben teilnehmen zu können, müssen sie an Strom, Heizung und Warmwasser sparen.

Kein Budget für Eigen-PR

Verstehen Sie jetzt, weshalb das Thema „Klassengesellschaft“ endlich im „Grünbezirk“ ankommen sollte? Und warum ein „Wandelfonds“ so nützlich wäre? Er könnte all den sensiblen Seelen auf die Beine helfen, denen die Mitwelt WIRKLICH und nicht nur theoretisch am Herzen liegt. Erst dann wären echte Oasen der sozial-ökologischen Transformation möglich und nicht nur solche, in denen sich all jene tummeln, die ein paar zehntausend Euro zur Verfügung haben, um sich in ein Ökodorf einzukaufen. Erst dann käme das Wörtchen „sozial“ auch im Grünbezirk an, könnte der alte Arbeiterbegriff der Solidarität eine neue, zukunftsfreundliche Bedeutung annehmen. Man kann nicht solidarisch sein mit Bienchen und Berggorillas, aber blind sein gegenüber den Menschen im eigenen Grünbezirk und sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen.

Beispiel Ökoligenta: Diese im deutschsprachigen Bereich einzigartige Plattform, die den sozial-ökologischen Wandel so vollständig wie möglich abbildet, gibt es inzwischen seit 2017. Seit 2019 erscheint monatlich der Wandel-Newsletter. In beides sind Aberhunderte von Arbeitsstunden eingeflossen. Aufrufe und Bitten um eine Spende, diese Arbeit zu unterstützen, sind nahezu ausnahmslos verhallt. Nicht etwa, weil all jene, die davon profitieren, keine zehn Euro übrighätten, sondern deshalb, weil ihr Echoraum sie nicht wahrnehmen lässt, dass es „da draußen“ Menschen gibt, die solche Spenden wirklich „brauchen“. Und – entscheidend – die „da draußen“ haben für die Eigen-PR kein Budget, sondern sind froh, wenn ihnen die Waschmaschine nicht kaputt geht. Umgekehrt halten es die Grünbezirkler für selbstverständlich, sich für ihre (oftmals oberflächlichen) Dienstleistungen im Bereich „Wandel“ stattlich bezahlen zu lassen. Für das Wochenend-Seminar „Beziehungen im Einklang mit der Erde“ legt man rund 300 Euro hin, wer bereit ist, im Freien zu übernachten, darf für 200 Euro dabei sein. Das WE-Seminar „Neue Männer für eine neue Epoche“ kostet 360 Euro zuzüglich Übernachtung und Verpflegung. Für einen Online-Kurs zur „Ermächtigung der Weiblichkeit“ darf man gerne 3000 Euro hinlegen. Ein Mensch wie Franz, der aus seinem „indigenen Bewusstsein“ heraus mit Herzblut für die große sozial-ökologische Transformation die eigene Haut aufs Spiel setzt, muss draußen bleiben. Er passt nicht ins System, seine Anwesenheit würde stören. Sie könnte die wohl einstudierte Performance infrage stellen und die sie begleitende Scheinheiligkeit enttarnen. Mit Nachhaltigkeits-Label, Buddhismus, spiritueller Erleuchtung und Selbstversorgung hingegen lässt sich gut locken. Ein Hype. Man brüstet sich zwar mit Permakultur, übersieht aber, dass zur Permakultur eine grundsätzlich demütige und ehrende Haltung gegenüber Natur und Schöpfung gehört. Das wäre dann doch zu anstrengend und umfassend. Aber „Permakultur“ – das klingt halt gut. Der Green New Deal lässt die Kassen klingeln. Mit Chat-GPT sind schnell die richtigen Sätze zusammengebastelt und fertig ist das grüne, spirituelle Image.  Würden all jene, die diese Transformation täglich mit wohlgewählten Worten und schillerndem Halbwissen herbeireden, einen Euro im Monat in einen Wandelfonds einzahlen, dann wäre die Gründung echter Wandel-Oasen ein Kinderspiel. Sie würden dann auch sehen und erleben können, wie sich die eigene Lebensweise verändern lässt, ohne Krieg gegen die Natur zu führen und ohne an Wohlstand zu verlieren. Es würde ein geradezu kraftvoller Ruck durch die Gesellschaft gehen. Der, auf den so viele seit Jahrzehnten warten.

Auch die Zukunft ist eine Klassenfrage

Rein theoretisch gibt es sogar eine „Wandelbewegung“. Zumindest gab es vor ein paar Jahren Ansätze eines breitflächigen Zusammengehörigkeitsgefühls all derer, die den Großen Wandel der westlichen Industriezivilisation für notwendig hielten. Franz zählte sich dazu – und wurde auch da enttäuscht. Es fanden viele akademische und gescheite Grundsatzdebatten statt, aber echte Fortschritte für die „Wandelbewegung“ da draußen gibt es bis heute nicht. Man diskutiert munter Strukturen und Abläufe, als hätte man noch Jahrzehnte Zeit, das Handeln und Wirken der Menschheit zu transformieren. Die Erde, Mutter Natur muss eben warten mit ihrem Kollaps.  Die für ein paar Jahre aufgedämmerte, emotionale Solidarität ist fadenscheinig geworden. Von echter und wirksamer Kooperation im Alltag findet sich kaum eine Spur. Während Deutschland eine Billion Euro und mehr in eine Brutto-Sozial-Produkt-fähige Pseudosicherheit investiert, wird der ökologisch mögliche und wahrscheinliche Super-GAU erfolgreich ausgeblendet. Der findet allenfalls bei „den Wilden“ statt, irgendwo im Kongo, auf Borneo oder am Amazonas, wo wir ihnen die Lebensräume wegholzen, oder in Bolivien, Chile und Argentinien, wo wir ihnen das Lithium stehlen und zum Dank verseuchte Erde hinterlassen. Zukunft ist offenbar das, was wir uns im (digitalisierten) Kopf zurechtzimmern und nicht das, was real stattfindet. Auch die Zukunft ist eine Klassenfrage, aber diesmal auf globaler Ebene.

Ideen und Anregungen bzgl. eines „Wandelfonds“ bitte an info@oekoligenta.de

[1] Der Begriff des Echokammer-Effektes stammt aus der Kommunikationswissenschaft. Gemeint ist hier eine verengte Weltsicht, in der man sich die gemeinsame Weltsicht nur als die einzig richtige bestätigt.

Design für die Rettung der Welt – so der Anspruch eines kürzlich erschienenen Buches

„Wie können wir es schaffen, mit zehn bis zwölf Milliarden Menschen gut auf dieser Erde zu leben? Wie erreichen wir für alle ein Leben in angemessenem Wohlstand, in Frieden und Freiheit und in einem global intakten und vielfältigen Ökosystem?“ Jascha Rohr

Von Bobby Langer

Könnte man den geläufigen Ausdruck „das Buch der Stunde“ auf eine ganze Epoche übertragen, dann träfe er auf dieses Buch zu. Es erhitzt sich nicht an – immer diskutablen – Inhalten, sondern beschäftigt sich klug, systematisch und auf viel Erfahrung zurückgreifend mit den uns bleibenden Möglichkeiten, das Ruder herumzureißen.

Der Autor Jascha Rohr beschreibt sein Buch folgendermaßen: „Wir haben einen kokreative Werkstatt in Form eines Buches vor uns, die aus einer Reihe von Werkräumen besteht, den Kapiteln dieses Buches. Unser Ziel ist der Entwurf für die große Kokreation.“

Kein Was ohne Wie

Für viele Laien, aber auch Experten in Sachen Nachhaltigkeit, Erderwärmung oder Artensterben sieht es eher hoffnungslos aus. Gleich dem vom Auge der Schlange gebannten Kaninchen stehen sie dem lebensverschlingenden Verhalten der industriellen Zivilisation ratlos gegenüber. Jascha Rohr hat – wenigstens für sich – diesen Bann gebrochen. Statt sich dystopischen Gedanken zu überlassen, überlegt er, wie eine nachhaltige Umgestaltung der Welt funktionieren könnte. Denn, so findet er, ohne über das Wie nachgedacht zu haben, brauchen wir uns über das Was erst gar keine Gedanken zu machen. „Die große Kokreation“ ist für ihn ein „Entwurf darüber, wie wir unsere globalen Probleme besser miteinander lösen können“. Die Zukünftigen lässt er rufen: „Stellt euch den Herausforderungen und Schwierigkeiten, entwickelt positive Wirkung. Baut auf das, was euch Kraft gibt und im besten Sinne wirkmächtig macht – auf eure Lebendigkeit, Kreativität, Freude und Liebe, eure Lust, Begeisterung, Intelligenz und Empathie.“

Nicht nur lesenswert, sondern auch lesbar

Rohrs Buch ist eine „Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“ – so der Untertitel. Das kann nicht anders als komplex und auf hohem theoretischen Niveau angegangen werden. Und doch gelingt es dem Autor, sich dem großen Thema klar, übersichtlich und auch sehr persönlich und menschlich zu nähern. Mit anderen Worten: Man muss nicht Sozialwissenschaften studiert haben, um es lesen zu können. Dazu trägt bei, dass Jascha Rohr sowohl induktiv wie deduktiv arbeitet; d. h. manchmal begibt er sich von einem praktischen Beispiel ausgehend auf die Metaebene, manchmal startet er gedanklich auf der Metaebene und belegt seine Gedanken durch ein Beispiel. Selbst die Grafiken sind dank ihrer Skizzenhaftigkeit besser nachvollziehbar und einprägsamer, als dies „perfekte“, theoriebezogene Grafiken normalerweise sind. Und noch eines macht sein Buch lesenswert: Es ist getragen von dem unbedingten Willen, Positives in die Welt zu bringen – ohne die Augen vor den drängenden Problemen zu verschließen.

Methoden zur Neuerfindung der planetaren Zivilisation

Entscheidend für Jascha Rohr: Es geht nicht um fertige inhaltliche Lösungen, sondern um die „Beschreibung des Wie …, also eines Prozesses. Dieser Prozess hat im Grunde längst schon begonnen … Es ist ein Prozess, in dem wir miteinander lernen, unsere Probleme ganz anders zu lösen, als wir es bisher versuchen … Das Ziel ist nichts Geringeres als die Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation.“ Ein hoher Anspruch.

Die zentrale Methode für dieses „Global Resonance Project“ nennt er „Resonanzarbeit“. Und das ähnelt keiner bekannten Methode, ganz im Gegenteil: „Resonanzarbeit folgt keiner festen Strategie, sondern ist mäandernd, verknüpfend, assoziativ. Sie stellt vielfältige Verbindungen und Beziehungen her, um Kreativität, Ideen und Innovationen anzuregen. Im Idealfall entsteht daraus am Ende ein kokreativer Entwurf.“ Der Prozess ist „entwurfsorientiert. Er ist ein Angebot zum Selbstdenken, zum Entwickeln und Mitgestalten … [Das Buch] bietet die Möglichkeit der Auseinandersetzung in einem Feld – in diesem Fall ist das die planetare Zivilisation –, damit dann aus dem eigenen Impuls heraus und mit den eigenen Potenzialen und Möglichkeiten transformatorische Projekte entwickelt und in die Umsetzung gebracht werden können, sodass am Ende eine reale Veränderung in der Welt entsteht“.

Aus einem alten Hut wird kein neuer

Jascha Rohr geht es um zwei Fragen:

„Wie kann es sein, dass wir als Spezies unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören?“
Und: „Was kann Kokreation dazu beitragen, dass sich diese Dynamik zum Positiven wendet?“

Der Leser kann, wenn er möchte, mitverfolgen und dabei erlernen, wie sich Methoden in kokreativen Prozessen kontextspezifisch aus dem Prozess entwickeln und ist eingeladen, „in der eigenen Praxis mit diesen Ansätzen zu experimentieren“. Personen, die an eigenen Prozessen und Projekten arbeiten, empfiehlt Jascha Rohr, das Buch mit dem eigenen Projektteam zu lesen.

Klar: „Benutzen wir … die Werkzeuge der alten Zivilisation, kann nur eine neue Version der alten Zivilisation dabei herauskommen.“ Um diesem Fehler nicht zu erliegen, kommt die Kokreation ins Spiel, ein Wort, das der „Kooperation“ oder „Kollaboration“ ähnelt, sich aber deutlich davon unterscheidet. So bezieht sich das „Ko“ in Kokreation nicht nur auf Mitmenschen, sondern auf die gesamte Mitwelt, also auf alle Mitgeschöpfe, auch: Mitdinge. Es geht darum, Mittel und Wege zu finden, „mit der gesamten Welt gemeinsam zu gestalten, statt die gesamte Welt als Menschen zu gestalten“. Das klingt in der Tat nicht mehr nach einem „Werkzeug der alten Zivilisation“. Der Wortteil „kreation“ in Kokreation bezieht sich auf Kreativität als Grundlage von Emergenz in Kunst und Kultur, wozu unbedingt auch Architektur, Philosophie, Ingenieurskunst und Wissenschaft gehören. Anders als in der alten Zivilisation lässt sich in einem kokreativen Entwurfsprozess „meist gar kein klares Ergebnis definieren, sondern eher einen Ergebnistyp“. Auf der Suche nach neuen Lösungsansätzen werden „die Themen, Akteure und Kontexte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt“.

Das ontologische Grundproblem angehen

Der Vater aller Probleme ist der Subjekt-Objekt-Dualismus, den Jascha Rohr als „ontologisches Grundproblem der ökologischen Krise“ identifiziert. Um sich von ihm zu lösen, sind die entscheidenden begrifflichen Werkzeuge:

Das Feld: „die räumliche Konstellation von miteinander interagierenden Partizipateuren und ihre Wirkungen aufeinander“ (auch: „die Wirkungen und Kräfte, die sich zwischen den Elementen aufspannen“). Anders als „Systeme“ sind Felder nicht durchschaubar und nicht steuerbar.

Der Prozess: „die sich zeitlich entfaltende Dynamik eines Feldes“, bestehend „aus allen diesen Prozess prägenden Partizipateuren, deren Wirkungen und Interaktionen sowie der fortschreitenden generativen Entwicklung, die daraus resultiert“. Besonders wichtig und auch schon in kleinem Rahmen anwendbar und aufs Größere übertragbar: „Prozesse sind fraktal und verschachtelt.“ Zur Erklärung des damit Gemeinten: „Unser Leben ist ein Prozess, aber unsere Ausbildung, Beziehungsphasen und die Phasen, in denen wir einer bestimmten Profession nachgehen, sind ebenfalls Prozesse.“

Indem Rohr die Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ abschafft und durch „Partizipateur“ ersetzt, schafft er die gedankliche Voraussetzung für einen tatsächlich ontologischen Paradigmenwechsel: „Alle Dinge der Welt sind Dinge der Welt, weil sie an der Welt teilhaben.“ Folgerichtig können auch „eine Geschichte, eine Kaffeetasse, eine Blume und die Gravitation“ Partizipateure sein: „Alles in der Welt ist Partizipateur, wenn es wirkt und teilhat. Was nicht wirkt und an nichts teilhat, existiert nicht.“

Zusammenfassend: „Ein Feld ist ein Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ein Prozess ist ein Feld in seiner dynamischen Entfaltung.“ Die große Aufgabe, die Zukunft zu gestalten, kann folglich kein „funktionales Gestalten“ sein – das wäre das Übliche –, sondern „ein generatives, wechselseitiges, fluides Interagieren mit den Prozessen, die uns gestalten, während wir gestalten“. Erst wenn wir „die Dinge in ihrer jeweiligen intrinsischen Eigenart als Gegenüber anerkennen“, wird tatsächlich ein Ausweg aus dem Subjekt-Objekt-Dualismus vorstellbar hin zu einer ökologischen, kokreativen Demokratie.

Die dazu fähige und dafür notwendige Kulturtechnik ist die Kokreation. „Sie ist das Wie: Wie gestalten wir gemeinsam. Das Was ergibt sich dann daraus … das wird synchron passieren: Wir werden diese erst in den Anfängen sichtbare Kulturtechnik entdecken, entwickeln, erfinden, erlernen und trainieren müssen, während wir beginnen, sie anzuwenden und erste Ergebnisse zu produzieren.“

Und das ist dabei die Herausforderung: „Da rollt die phantastischste Wahnsinnswelle auf uns zu, die wir je haben reiten können. Der Einsatz ist hoch, die Welle gefährlich, möglicherweise tödlich, aber der Ritt, den wir nehmen könnten, kann der beste unseres Lebens werden.“ Sich dem zu stellen, ist eine gewaltige und riskante Aufgabe mit ungewissem Ausgang. Das schätzt auch Jascha Rohr so ein und gesteht: „Dieses Buch ist ein Wagnis und der Versuch, eine visionäre Geschichte zu erzählen.“ Ihm zuzuhören, ist fesselnd und lädt ein, dabei zu sein beim „planetaren Fest der Gestaltung“.

Jascha Rohr, Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen. 400 S., 39 Euro, Murmann Verlag, ISBN 978-3-86774-756-1

Interview mit Jascha Rohr

Zusammenstellung der wichtigsten Textpassagen

Internetseite zum Buch

„Sehen Sie“, sagte er zu seinem grauhaarigen Gesprächspartner, „ich kann ja verstehen, dass Sie als Alt-Achtundsechziger zum Putin-Versteher verkümmert sind, aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen, Krieg ist nun mal Krieg. Oder sind Sie auch da anderer Meinung?“

Ich erschrak schon beim Zuhören und zappte auf einen anderen Kanal. So viel Normopathie innerhalb eines Satzes war schwer zu ertragen. Von Stammtischen war mir das ja bekannt … ***

Normopathie scheint nicht nur auf Politiker überzugreifen, sondern zunehmend auch auf Journalisten und Intellektuelle. Eine spannende, wenngleich hier nur am Rande zu erwähnende mentale Grundlage für eine solch pathologische „Empfänglichkeit“ der Deutschen schufen die Nürnberger Gesetze, in denen das menschlich Abnorme (mit Begriffen wie „Rassenschande“, „artverwandtes Blut“, „Arier“, „Deutschblütigkeit“ etc.) zur gesellschaftlichen Norm erhoben und der Bevölkerung eingepeitscht wurde – was bis ins Jahr 2000 hinein mit dem Rechtsprinzip des Jus Sanquinis (des Blutrechts) in der BRD und der DDR fortgeführt wurde (mit Relikten bis heute). Auf die Übernahme von nationalsozialistischem Justizpersonal ins Rechtssystem der BRD sei nur kurz hingewiesen (Polizei, Justiz, Gefängnisaufsicht …); in der DDR gab es diesbezüglich 1952/1953 immerhin eine „Säuberung“ im Justizsystem.

Das Rückgrat der Globalisierung

Nun aber endlich zum Thema. Lassen Sie uns mit der „Norm“ beginnen. Zumindest eine Norm kennen wir alle: die DIN A4, das vermutlich erfolgreichste Exportprodukt Deutschlands seit 1922 und inzwischen als ISO 216 international genormt. Warum aber muss ein platt gewalztes Stück Papier aus der Kalanderwalze einer Normgröße unterworfen werden? Die Antwort fällt leicht: damit all die relevanten und weniger relevanten Papierprodukte entstehen können. Zu den relevanten gehörten zum Beispiel die Bibel, der Koran oder das Tripitaka, noch wichtiger sind das Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafgesetzbuch, am wichtigsten aber ist die Industrienorm ISO 9001, das druckfähige Rückgrat der Globalisierung. Weniger relevant sind all die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher dieser Welt, mit denen wir uns am Baggersee auf die Decke legen.

Der Doppelcharakter der Normen

Normen sind also mentale Ordnungselemente, die häufig dem Denken, Analysieren und Beurteilen vorausgehen. Sie sind die Glaubenssätze jeder Zivilisation, ganz gleich, ob wir von einer indigenen, einer asiatischen oder einer westlichen Zivilisation sprechen. Wer denkt schon beim Ausklappen eines Zollstocks daran, dass auf ihm der Zentimeter über den Zoll triumphierte, die metrische Norm über die nicht metrische, die heute offiziell nur noch in den USA, Liberia und Myanmar Vorschrift ist? Und welcher Mohammedaner überlegt lange, bevor er bei der Begrüßung die rechte Hand ausstreckt, seit Mohammed kundtat, dass der Teufel einen mit der linken Hand begrüßt?

Zusammengefasst: Ohne Normen ist ein geregeltes – und damit gewaltfreies – Zusammenleben nicht vorstellbar. Normen sind sinnvoll, aber nicht gut. Denn „gut“ ist ein Wertbegriff, der in der Regel abgrenzend oder gegenüber Fremdnormen auf einer vergleichbaren Ebene sogar abwertend klingt bzw. gemeint ist (es sei denn, es heißt: „gut für …“). Normen sind also beides: sinnvoll und bedenklich. Dieser Doppelcharakter der Norm wirkt sich besonders auf psychologischer Ebene aus.

Normen sieben die Spreu vom Weizen

Lassen Sie mich diese These illustrieren. Wer schon mal im Gebirge Wandern war, der kennt die Vorwarnung „Nur bei Trittsicherheit“. Begibt man sich auf einen solchen Steig, dann gelangt man gelegentlich an stark ausgesetzte Stellen, bei denen es einem schwindelig werden kann. Für diese Wegabschnitte kann man sich an der Gefahr oft an dicken Stricken, die mit starken Eisen im Fels gesichert sind, vorüberhangeln – sehr beruhigend. Meist verfliegen dann Anflüge von Höhenangst und man ist dankbar für eine solche Wegführung. Nun, Normen haben eine diesen Stricken vergleichbare Funktion. Sie ersparen uns langes Überlegen bzw. Befürchtungen, sich möglicherweise falsch zu verhalten. Wer nicht stiehlt, folgt einer Norm, wer es dennoch tut, verstößt gegen diese Norm und wird, so hoffen wir, bestraft. Normen verschaffen also nicht nur Sicherheit, sie trennen auch die Spreu vom Weizen. Selbstverständlich sind wir der Weizen (meistens jedenfalls und öffentlich immer). Normen sind die Sicherungsstricke durch unsere komplexe Wirklichkeit. Je einfacher eine Intelligenz gestrickt und/oder je schmaler ihr Horizont ist – Intelligenz und Horizontweite sind keineswegs kongruent –, desto bedeutsamer sind diese Stricke. Würde man die Mentalitäten von Menschen auf eine Ebene projizieren, so gäbe es Ebenen mit einer übersichtlichen Anzahl von Leitstricken und solche mit einem schieren Labyrinth davon.

Eine ganz normale Gewohnheit

Normen sind Spurrillen, auf denen unser Denken, Handeln und Reagieren, Sprechen und Kommunizieren mühelos und zuverlässig stattfindet. Das muss allein schon deshalb so sein, weil die uns allgegenwärtig umgebende Technik ohne Normen (ISO 9001 !) undenkbar wäre. Man stelle sich einmal vor, Hyundai folgte bei der Bremsenproduktion oder den Sicherheitsgurten anderen Normen als VW. Oder wir würden uns nicht an die Norm, im Straßenverkehr rechts zu fahren, halten. Haben Sie schon einmal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören (oder einer anderen Pseudosucht) oder Ihre Ernährung auf „vegan“ umzustellen? Gewohnheiten sind zwar keine Normen im eigentlichen Sinn, aber auf psychischer Ebene funktionieren sie genauso. Eine Gewohnheit zu ändern, ist verdammt schwer und umso schwerer, wenn sie den Normen oder Gewohnheiten einer sozialen Gruppe zuwiderläuft, also z. B. seine Zigarettenabstinenz in einer Gruppe von Rauchern aufrechtzuerhalten.

Angenehmer Zwang

Die meisten Menschen – ich schätze mal, mindestens 80 Prozent – bemerken die Spurrille, auf der sich ihr mentales oder emotionales Fahrzeug bewegt, gar nicht. Und wenn doch, so sind sie meistens froh um die Zuverlässigkeit, mit der sie das Gefährt via Autopilot durchs Leben manövriert. Der verbleibende Rest muss mit dem gefühlten Verhaltenszwang umgehen, der durch die Norm ausgelöst wird. Die häufigste Reaktion ist das Verwerfen einer Norm, indem man sich einer anderen Norm unterwirft, etwa wenn Jugendliche gegen die Konventionen ihrer Eltern protestieren und in die Normen einer Clubkultur oder einer Gamer-Community abtauchen; oder wenn Christen aus Protest Mohammedaner werden und, und, und … Eine weitere, häufige Reaktion auf Normenzwang besteht in einer dem Stockholm-Syndrom ähnlichen Fühlweise: Wenn ich mich gegen einen Zwang nicht wehren kann, dann entgehe ich der (ansonsten) permanenten emotionalen Spannung, indem ich zu dem, was mich zwingt (dem Entführer, dem Vater, der Mutter, den Lehrern, Vorgesetzten und Zollbeamten, dem Gesetz, der Norm) ein emotional positives Verhältnis aufbaue. Ich „frame“ den Zwang als gut und sinnvoll für mich und für alle anderen. Das ist zwar noch keine Normopathie, aber doch ein entscheidender Grundstein dafür, der sich auf sexueller Ebene zum Beispiel im Masochismus äußert: Erst in der Unterwerfung werde ich lustfähig.

Die ganz normale Normopathie

Der „ganz normale“ Normopath gibt seine innere Distanz zur Norm vollständig auf und überantwortet sich ihr: Sicherheit pur. Die Norm wird ihm nicht nur zum Gewissensersatz, sondern auch zum allein selig machenden Bewertungsmaßstab seiner Umgebung (z. B. sind dann alle Andersdenkenden „Querdenker“). Die Individualität des Normopathen schnurrt auf die flache Dimension einer Norm zusammen. Daran musste ich denken, als ich kürzlich das Interview mit einer Bürgermeisterkandidatin der CSU verfolgte, die gefragt wurde, ob sie sich einen Lebenspartner vorstellen könne, der in einer anderen Partei Mitglied sei. Ihre impulsive und geradezu heftige Reaktion: „Nein, das wäre unmöglich.“ Quod erat demonstrandum, die Fessel sitzt. Die arme Frau.

Normen sind sozusagen das Wasser, in dem der Fisch schwimmt und über das er gar nicht erst nachdenkt. Für den „Fisch Mensch“ ist der Kapitalismus ein solches „Wasser“, ein mehrdimensionales Normengewebe, das ihn unsichtbar in seiner Wachzeit umgibt und beinahe jede (!) seiner Handlungen reguliert, steuert oder überhaupt erst auslöst. Nun gehört es zur Pathologie der Normopathen, dass er seine Normen für wahr und wirklich nimmt, für selbstverständlich, oft sogar für „natürlich“. Das Norm-Thema „Heterosexualität“ war eine solche Norm, die der Durchschnitts-Hetero jahrhundertelang für „natürlich“ hielt. Die Nachricht, dass auch im Tierreich Homosexualität keine Seltenheit ist, musste ihn bestürzen. Oder: Wenn die Person A einen Krieg für unmoralisch hält und deshalb bereitwillig in den Krieg zieht, um ihrer Norm konform in den kriegerischen Konflikt einzugreifen, muss sie zwangsläufig mit ihrer eigenen Norm ein Problem haben und ist deshalb zu Scheinlösungen und Heuchelei gezwungen.

Warum „zwangsläufig“? Weil sich die Wirklichkeit von A, auch wenn es sich bei ihm um ein sehr einfach gestricktes Gemüt handeln sollte, mit ihren unübersehbar vielen Variablen nur sehr eingeschränkt normieren lässt. Die Wirklichkeit ist nicht normierbar (schon die relativ einfache Ökologie eines Naturtümpels lässt sich in keinem Labor der Welt 1:1 nachbauen); jeder Normversuch muss also von der Vielfalt der Wirklichkeit und ihren täglich wechselnden Dimensionen – interessengesteuert – abweichen, was A dann aber leugnen muss. So muss A in unserem Beispiel zwangsläufig all die vergessenen (oder wohlweislich übersehenen) Kriege, momentan etwa die im Sudan oder in Mosambik, Myanmar oder West-Papua wütenden Kriege, ebenso ausblenden wie das normunabhängige Leiden jeder Kriegspartei, jedes einzelnen vom Krieg betroffenen Menschen sowie den Lustgewinn der Kriegsprofiteure. Ganz ähnlich, nur in einem global größeren Maßstab, verhält es sich mit den jährlich Millionen von Hungertoten, die wir geflissentlich übersehen, damit wir auf die Normen unseres Wohlstands pochen können. Aber das ist eben ganz – normal.

Zur Selbstüberprüfung

Den grassierenden Zustand der Normopathie habe übrigens nicht ich erfunden. Er gehört zu den psychiatrischen Analysewerkzeugen und ist festgelegt in den ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, einer medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation. Normopathie wird, wie viele andere pathologische Geisteszustände, von den Befallenen in der Regel nicht wahrgenommen, sondern tendiert vielmehr dazu, auch die Menschen des persönlichen Umfeldes vereinnahmend zu affizieren. Daher hier die offizielle Definition:

Unter Normopathie wird eine Persönlichkeitsstörung des Menschen verstanden, die sich in einer zwanghaften Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende und normgerechte Verhaltensweisen und Regelwerke innerhalb von sozialen Beziehungen und Lebensräumen ausdrückt. Ein treibendes Moment hierbei ist das unter Aufgabe der eigenen Individualität übersteigerte Streben nach Konformität, das letztlich zu unterschiedlichen Beschwerdebildern und Symptomatiken führt und sich zu einem pathologischen Geschehen ausweiten kann; das heißt, gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden als solche nicht mehr hinterfragt oder gar erkannt. Die unbedingte Überanpassung an sozio-kulturelle Normen wird damit zur Krankheit. Da im Prinzip der Wunsch nach Normalität nicht als krankhaft, sondern eher als eine gesunde Einstellung gilt, wird die Pathologie des Geschehens mit ihrer häufig somatoformen Symptomatik oft nicht als solche wahrgenommen. (Wikipedia)

*** Bei den Worten „Alt-Achtundsechziger“, „Putin-Versteher“ und „Krieg“ handelt es sich um Begriffe, die sehr stark normabhängig, meist feindselig und kommunikationsstörend verwendet werden.

Von der Existenzangst zur Selbstversorgung – eine Einladung

Selbstversorgung – davon träumen viele, schrecken dann letzten Endes doch meistens davor zurück. Evelin Rosenfeld hat sich sehr konkret damit auseinandergesetzt. Der Name des ausgedehnten Landes, auf dem sie ihren Weg der Kreislaufwirtschaft praktiziert bezieht sich auf Aditi, die vedische Schöpfungsgöttin. Um bei so einem Projekt vorwärtszukommen und nicht einzuknicken, braucht es „Wild Natural Spirit“ (so heißt die Kräutermanufaktur, mit der Evelin das Projekt finanziert)***. „Spirit“ hat die Pionierin, dennoch meint sie, dass einerseits die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Mitteleuropa echte Autarkie verhindern, andererseits, dass die Idee von Autarkie dem Gedanken der Verbundenheit widerspricht.

Ökoligenta: Vielleicht schilderst du erst einmal, wie weit du mit deinem Projekt gekommen bist.

Nun, das Wichtigste ist wohl, dass ich es geschafft habe, 55.000 Quadratmeter Brach- und Ackerland in einen riesigen Permakulturgarten zu verwandeln, in dem nicht nur seltene Arten aus Fauna und Flora in Fülle leben, sondern der auch wertvolle Lebensmittel für viel mehr Menschen hervorbringt, als derzeit von dem Projekt wissen. Damit ist es gelungen, eine Vollerwerbs-Landwirtschaft untrennbar mit Naturschutz zu verbinden. Auch zeige ich ein Wirtschaften auf, das eben nicht ausbeutet und Lateralschäden vergesellschaftet, sondern im Gegenteil: ein Wirtschaften, das maßgeblich und nachhaltig zum Gemeinwohl beiträgt, während es gleichzeitig einen Lebensunterhalt eigenständig erwirtschaftet.
Zudem konnte ich das Projekt (einigermaßen) harmonisch in das herrschende Behördensystem integrieren. Mit insgesamt 11 Aufsichtsbehörden ist das eine echte Nervensache und Geduldsfrage. Auch die Beteiligten in den Behörden mussten an einigen Stellen das auf landwirtschaftliche Großbetriebe ausgelegte Regelwerk irgendwie in Einklang bringen mit dem, was ich hier mache. Wirklich erkennen, welche Chancen in diesem Projekt für die drängenden Fragen für uns alle liegen, tun aber wenige.

Ökoligenta: Momentan schaffst du das alles mit 1 Woman-Power, eigentlich unglaublich. Aus welchen Quellen sprudelt deine Energie?

Ich bin mit 33 Jahren, zwei akademischen Abschlüssen und einer bereits beachtlichen Karriere in der Wirtschaft „ausgestiegen“, weil ich die Rücksichtslosigkeit und Kurzsichtigkeit, die in Konzernen und auf Verwaltungsebene herrschen, nicht ertragen konnte. Dieser Ausstieg brachte mich in eine Lebenskrise, in der ich mich fragte, wie ich mein Leben, meine Gaben so einbringen kann, dass nicht nur noch mehr Schaden entsteht, sondern dass vor allem das Gefüge aus Angst und Gier durchbrochen werden kann; dass Wege sichtbar werden, wie wir in Frieden und in Fülle mit unserer Mitwelt leben können. Dazu braucht es ein tiefes Hinterfragen der Grundannahmen unserer Gesellschaft: von Familiengründung bis abhängiger Erwerbsarbeit, von Ressourcenkreisläufen bis hin zu spirituellen Zusammenhängen. All dem habe ich mich gestellt und Schritt für Schritt Antworten und Resonanz gefunden.
Mein unerschütterlicher Glaube an die Liebe in jedem Menschen und an eine göttliche Führung sind der Quell meiner Kraft – zudem meine besondere Beziehung zu diesem außergewöhnlich kraftvollen Ort hier.

Ökoligenta: In den Städten mieten sich Menschen bei SoLaWis am Stadtrand ein. Könnte dieses Modell auch für Aditi funktionieen ?

Nein, eher nicht. Die SoLaWis – für die es mittlerweile sogar eigene landwirtschaftliche und steuerrechtliche Regeln gibt, funktionieren normalerweise so, dass ein Landwirt die Flächen mit Maschinen vorbereitet und kleine Parzellen an Städter vermietet, die dann ihren Salat oder Rosenkohl oder was sie eben wollen, am Wochenende anbauen. Aditi in Parzellen aufzuteilen widerspricht meinem Anliegen, sie als Ganzheit zu fördern. Zudem nutze ich ja keine Maschinen und arbeite in Permakultur. Wenn, dann würde sich eine Gruppe von Menschen um die ganze Aditi kümmern, mit ihrem Wald, ihrem Beeren- und Saatgutgarten, mit den Kräutergärten, Obstbäumen und dem großen Gemüsegarten. Die Intention von Aditi geht über das „ich mach mein eigenes Gemüse“ hinaus.

Ökoligenta: Gibt es diese Gruppe schon? Wie können Menschen sich in das Projekt einbringen?

In 2022 waren wir ein starkes Team von sechs Menschen, die sich regelmäßig und aus verschiedenen Konstellationen auf Aditi eingebracht haben. Das Ergebnis war phänomenal: Für die überbordende Gemüseernte brauchten wir sogar einen Erdkeller über den Winter, das in 2022 geerntete Saatgut hat auch in diesem Jahr, 2025, gereicht, um ohne Zukäufe die Gärten zu bestücken. Das waren alles Leute hier aus der Gegend, die einfach Freude daran hatten, auf Aditi zu sein, zusammen zu arbeiten und die Abende gemeinsam am Feuer zu verbringen.
Einige waren bei mir „zwischengelandet“ wegen der Corona-Restriktionen und sind nun zurückgekehrt in ihre Ursprungsberufe. Aber so könnte es gehen.
Zudem habe ich immer mal wieder Lehrlinge für eine begrenzte Zeit, die sich mit der Anbau- und Lebensweise vertraut machen wollen.
Doch mittelfristig wünsche ich mir schon zwei bis vier Menschen, die hier oder in der Nähe wohnen und sich dauerhaft und hauptberuflich in das Projekt einbringen.
Dazu braucht es nicht nur etwas Kapital, sondern vor allem die Bereitschaft, eine körperlich doch recht anspruchsvolle Arbeit zu machen für ein sehr überschaubares Einkommen. Doch der „Lohn“ besteht ja letztlich darin, vollkommen selbstbestimmt inmitten überbordender Natur zu sein, Lebensmittel von höchster Qualität für sich und andere zu gewinnen und seine Lebensenergie in etwas fließen zu lassen, das Lebendigkeit schafft.

Die Zeit ist gut, denn mehr und mehr Menschen merken auf: Statt ein Online-Coaching, um eine Depression, eine Lebenskrise, einen Burn-Out zu „besprechen“, beginnen sie, neu Kontakt mit den wirklich heilenden Kräften der Natur aufzunehmen, lauschen den Bäumen, beobachten die Insekten. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Hacke in die Hand zu nehmen und nährende oder heilsame Pflanzen zu pflanzen, zu pflegen … und sich dabei ganz von allein mit kostbarer Lebensenergie aufzuladen.
Ich lade jedes Jahr zur Blütenernte ein. Das ist eine kleine Chance zu erleben, wovon ich hier spreche.

Ökoligenta: Was ist deiner Erfahrung nach das Haupthindernis für die Umsetzung einer echten Selbstversorgung?

Zuerst: Aufgrund der zahlreichen Systemzwänge – von Pflicht-Versicherungen bis Strom, Wasser, Müllentsorgung, von denen wir uns in Deutschland nicht abmelden können, ist es derzeit gar nicht möglich, wirklich autark zu leben und zu wirtschaften. Wir sind nicht nur gezwungen, System-Leistungen zu kaufen (und damit Geld beschaffen zu müssen) – Autarkie widerspricht auch der Einsicht, dass alles mit allem verbunden ist. Dieser Gedanke – der Gedanke von dynamischen Kreisläufen durch alle Ebenen des Erdenlebens hindurch – ist die Basis der Permakultur. Und er ist auch Tatsache in allen natürlichen Vorgängen.

Von daher bescheide ich mich auf den Anspruch, meinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, das meiner Liebe zur Erde Ausdruck verleiht und den aus meiner Sicht schädlichen Systemwirkungen nicht weiter zuträgt. Dass dabei durch eine einzelne Person 55.000 Quadratmeter Land renaturiert wurden, dass eine Fülle an Heilkräutern, Saatgut und Lebensmitteln bereitgestellt wurde für viele, viele andere Menschen, das macht mich glücklich und stolz.
Ich bin weit entfernt davon, mich „selbstzuversorgen“ – allerdings brauche ich keine moderne Medizin, habe Zugriff auf unbelastetes Gemüse, Obst und Kräuter, lebe in meinem eigenen natürlichen Rhythmus und brauche vergleichsweise wenig Geld – da ich nichts zu kompensieren habe. Ich bin satt und gesund aus dem, was mein täglich Werk ist.

Wenn ich nun auch einige andere Menschen begeistern kann von dieser Arbeit und vielleicht begleite zu ihren eigenen Projekten oder sie integriere in dieses Projekt hier bei mir – und da gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Aufgaben und Ausblicke – dann wirke ich MIT dem bestehenden System, dessen Teil ich ja auch bin.

Ökoligenta: Die Konsumwelt, in der wir aufwachsen und unsere Persönlichkeit ausbilden, ist vielfältig und spricht uns auf den verschiedensten Ebenen an. In den Worten von Günther Anders wird der Mensch schlaraffisiert und zu einem passiven Wesen modelliert. Dein Projekt erwartet ja eher eine Emanzipation von dieser Grundhaltung.

Ja, das ist mein Herzensanliegen an die Menschheit: „Dienst“, „Arbeit“, „Verantwortung“ sind bei vielen Menschen sehr negativ belegt. Weil sie immer in Abhängigkeiten denken, weil sie Arbeit als etwas sehen, was sie ZWANGsläufig tun müssen, weil sie Dienst als Unterwerfung kennen und weil sie „Verantwortung“ mit „Strafe/Konsequenzen“ verbinden.
Damit sind sie zu passiven Sklaven des Ausbeutungssystems geworden und verschanzen sich hinter Ansprüchen, Bequemlichkeit und Konsum.
Es ist so viel lebendiger und befriedigender – und möglich ! –, aus eigener Kraft ein eigenes Feld zu schaffen, in dem wir unsere Lebensenergie freiwillig in etwas geben, das uns am Herzen liegt. Und wem liegt die Natur nicht am Herzen? Welcher Mensch atmet nicht auf, wenn er unter Bäumen steht, welcher Mensch beginnt nicht  zu singen, wenn er frische Beeren erntet und gleich in den Mund steckt? Viele kommen gar nicht bis zu dem Erlebnis, ein im eigenen Schweiß bebautes Feld zu betrachten und dabei Stolz und Freude zu empfinden. Und so können sie auch nicht die Früchte ihrer eigenen Arbeit, ihrer freien Entscheidung ernten.

Um diesen Schritt in die Freiheit und in ein sinnstiftendes Leben zu tun, steht noch vor der harten körperlichen Arbeit vor der wirtschaftlichen Ungewissheit ein Schritt im Inneren an: Die Angst, zu wenig abzubekommen, die sich in Gier und Egoismus ausdrückt, muss überwunden werden zugunsten der Einsicht, dass Fülle aus Großzügigkeit und Begeisterung entstehen. Wer (sich) gibt, bekommt alles, was es braucht, um ein friedvolles und lebendiges Leben zu führen.

Doch wie viele Menschen leben das schon ?

Ich bin offen für eine Gruppe von Menschen, die sich gemeinschaftlich um Aditi kümmert und an ihr erfreut. Das wäre eine Erweiterung für alle Beteiligten. Mehr Hände – mehr Ernte – mehr Austausch – mehr Fülle.
Aber brauchen tun wir’s nicht …

Ökoligenta: Du hast angedeutet, mit den Potenzialen von Aditi könnte es in Richtung Binnenwirtschaft weitergehen. Kannst du uns dazu Näheres erzählen?

Es gibt einen Weg, den ich sehe, auf dem eine Gruppe von Menschen, die auf Aditi lebt, sich sehr, sehr weit lösen kann aus den Systemzwängen. Hier gibt es Antworten auf die klassischen Fragen von Gemeinschaftsleben, Arbeitsteilung, die Rolle von Kapital und die führende Kraft einer täglich praktizierten Spiritualität.
Ich schöpfe hier aus 25 Jahren Organisationsberatung und Coaching (siehe insbesondere meine beiden Bücher „Wertebasiertes Management“ und „Was Dir wirklich wichtig ist“) – vor allem aber aus der Beobachtung der Vorgänge in der Natur, der Erfahrungen mit dynamischen Gleichgewichten in der Ökologie.
Wenn die passenden Menschen hier angekommen sind, können wir darüber sprechen.

Für jetzt lade ich jeden, der das liest, herzlich ein, mal für eine Blütenernte oder eines der anderen Seminare nach Aditi zu kommen und sinnlich zu erfahren, wovon ich hier spreche. Eigentlich können wir dann erst sehen, ob eine Resonanz da ist, die das Sein berührt und zum Tun führt.

*** Evelin Rosenfelds Projekt liegt im nordbayerischen Landkreis Coburg.

„Frieden mit der Natur“ ist eine Serie von Essays aus dem gleichnamigen Band, der anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Verlags Neue Erde zusammengestellt und uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.

Im nachfolgenden Essay erlebt die argentinische Autorin und Aktivistin Fabiana Fondevila, wie der Costaricanische Dschungel ihren inneren Dialog verstärkt, der in uns allen unter der Fassade der zivilisierten Höflichkeit stattfindet, eine Begegnung mit den wilden Kräften der Natur.

Von Verwaltern des Lebens zu Lebensaktivisten

Ich dachte, ich kenne Moos. Ich dachte, ich wüsste, wie eine Kletterpflanze aussieht. Ich dachte, ich könnte genügend Schattierungen der Farbe Grün benennen. Ich lernte, dass mein Wissen beschränkt war, als ich in Costa Rica landete; dem Land der aktiven Vulkane, der Brüllaffen und der Möglichkeit, die Sonne in der Karibik zu begrüßen und sie am Pazifik zu verabschieden, alles an einem einzigen Tag.

Ich war bereit, mich überraschen zu lassen. Ich wusste, dass dieses mittelamerikanische Land fünf Prozent der weltweiten Artenvielfalt beherbergt, und dass das, was ich dort finden würde, meine Naturerfahrung bereichern würde.

Aber nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was ich vorfand: Im Dschungel wächst Moos auf Moos, Lianen hängen an Lianen, und wo ein Tropfen Wasser auf einen Zentimeter Erde trifft, explodiert das Leben.

Jeden Morgen wurde ich von lebhaften Gesprächen zwischen unzähligen Vögeln, Fröschen und Insekten begrüßt, eine Geräuschkulisse, die so dicht war, dass man sie beinahe sehen konnte. Aus allen Richtungen ertönte ein ständiger Austausch von Glocken, Sirenen, Windspielen, Gurrgeräuschen und einer Spule, die in regelmäßigen Abständen zusammengedrückt und wieder losgelassen wird.

Wenn man die unbefestigten Straßen von Guanacaste entlangging, dauerte es nicht lange, bis man dem Baum begegnete, der der Stadt Von Verwaltern des Lebens zu Lebensaktivisten 35 ihren Namen verleiht: Dieser sanfte Baumriese mit Blättern, die wie das Haar eines Mädchens aussahen, schien sich von dem Treiben ringsum nicht stören zu lassen. In seinen Ästen wimmelte es fast immer vor Affen in Aufruhr.

Als ich zwischen den Farnen und den tropfenden Blättern stand, begriff ich, warum ich mich immer nach dieser besonderen Landschaft gesehnt hatte: Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt.

Natürlich hatte ich Lebendigkeit in milderen Formen der Natur bereits widerspiegelt erlebt. Ich habe gesehen, wie Bäume monatelang schliefen wie Bären im Winterschlaf, um dann beim ersten Anflug von Wärme wieder zum Leben zu erwachen.

Ich habe in meinem bescheidenen Vorstadthinterhof gestaunt, als die ersten Frühlingsknospen die noch kahlen Äste krönten und langen Nächten und eisigen Morgengrauen trotzten, um ihre Gaben zur Entfaltung zu bringen.

Ich war Zeuge, wie ein robustes Beet mit Brennnesseln Jahr für Jahr meine angebauten Pflanzen überwältigte (bis sie meine bevorzugte Nutzpflanze wurden).

Wenn ich die Tür zum Garten öffnete, spürte ich, wie die kühle Morgenluft meine Lunge mit Lebensformen füllt, die zu klein sind, um sie zu sehen.

Häufig habe ich gespürt, wie meine Angst in den Boden gesickert ist, als ich mit von mir gestreckten Beinen im Gras lag, meine Augen in den Wolken versunken.

Um genau zu sein, hatte der Dschungel die Lautstärke eines inneren Dialogs erhöht, den ich schon mein ganzes Leben lang führe.

Worum ging es in diesem Dialog?

Es ist eine Begegnung mit den wilden Kräften, die in uns leben, unter der Fassade der zivilisierten Höflichkeit: unser unerschütterlicher Wunsch zu sprießen, auch gegen übermächtige Herausforderungen, feindliche Umgebungen, schlechte Chancen. Unsere Fähigkeit, auszuharren und sogar unter der Erde zu wachsen, bis die richtige Person, die erste ehrliche Einladung, kommt, um uns zu helfen, unsere 36 Frieden mit der Natur Blütenblätter zu öffnen und der Sonne entgegenzustrahlen. Unsere undomestizierte Nesselschönheit mit ihrem smaragdgrünen Schimmer und ihrem Stachel.

Unsere Vorfahren nahmen direkt an diesem Dialog teil, indem sie zu den Berggeistern beteten, den Flüssen Opfergaben darbrachten und zu Füßen der heiligen Bäume beteten.

Wie kommt es, dass wir den Kontakt zu dieser uralten Quelle der Nahrung verloren haben?

Im Laufe der Geschichte wurde unsere Verbundenheit mit der Natur immer wieder auf die Probe gestellt: Das Zeitalter der Aufklärung (mit seiner Inthronisierung der Vernunft), das Aufkommen monotheistischer Religionen, die Industrialisierung und unsere wachsende Faszination für die Technik führten uns weit von unseren Wurzeln weg und überzeugten uns erst davon, dass wir getrennt, autonom und überlegen sind, und schließlich davon, dass wir die einzige bewusste, empfindungsfähige, voll lebendige Spezies auf diesem Planeten sind.

Der nicht-menschlichen Welt wurde das Leben nur auf die primitivste, unbedeutendste und unterwürfigste Weise zugestanden. Pflanzen und Tiere wurden zu bloßen Ressourcen, die nach Belieben angebaut, geerntet, domestiziert und ausgebeutet werden konnten.

Wir beginnen erst jetzt, den Preis zu entdecken, den wir für den Verlust unserer engen Verbindung zur Natur zahlen mussten. Unser einziges Zuhause und all seine Lebewesen sind dadurch in großer Gefahr, und wir sind von der Quelle unserer Lebenskraft und Zugehörigkeit abgeschnitten. Infolgedessen erleben wir ein pandemisches Ausmaß an Angst, Einsamkeit und Abgesondertheit.

Zum Glück wendet sich das Blatt.

Kosmologen, Biologen, Psychologen und Philosophen beginnen, eine andere Geschichte zu erzählen, eine, die indigene Kulturen und Weisheitstraditionen seit Jahrtausenden teilen: Das Universum ist in seiner Gesamtheit lebendig und bewusst, und wir können nur in Beziehung zu der nicht-menschlichen Welt, von der wir ein Teil sind, voll am Leben sein.

Und nicht nur das: Wir leben in einem sich ständig weiterentwickelnden Makrokosmos, der sich in unserem inneren Mikrokosmos widerspiegelt. Jeden Augenblick sind wir aufgerufen, sterben zu lassen, was vorher war, um zu entdecken, was in uns geboren werden will, und zwar im Einklang mit dem Leben, das uns umgibt und das gleiche tut.

Es liegt Magie und Zauber in der Wiederaufnahme dieses alten Dialogs.

Vor einem halben Jahrhundert prägte der deutsche Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm das Wort »Biophilie«, um unsere angeborene Liebe zu allen Lebewesen zu bezeichnen. In jüngerer Zeit lud uns die Disziplin der Biomimikry* dazu ein, die Wege der Natur zu imitieren, um menschliche Probleme zu lösen und lebensfreundliche Bedingungen zu schaffen.

Vielleicht könnten wir das nächste Kapitel in unserer sich entwickelnden Geschichte »Biopraxis« nennen – von »bio« (Leben) und »praxis« (Aktion) – als Einladung zum Übergang von Verwaltern des Lebens und der Natur zu vollwertigen Lebensaktivisten, die nach Möglichkeiten suchen, das Leben in all seinen Ausdrucksformen zu nähren und zu stärken, wo immer wir es finden. Natürlich auch in uns selbst!

Hier sind einige Fragen, die uns den Weg weisen könnten:

  • Was ist hier lebendig, und wie kann ich es am besten unterstützen?
  • Welches Handeln ist in dieser Situation belebend, für mich selbst oder für andere?
  • Was verlangt das Leben in dieser Zeit von mir, um in Ordnung, Komplexität und Harmonie zu wachsen?
  • Was möchte in meinen Beziehungen und in jedem Bereich meines Lebens zum Vorschein kommen?
  • Was möchte durch unsere gemeinsamen Bemühungen entstehen, um eine neue Art von Gemeinschaft zu schaffen?
  • Wie können wir unsere Geschichten der Hoffnungslosigkeit in Geschichten der Möglichkeit verwandeln, so wie ein Fluss Steine aus seinem Weg räumt?

Auf solche Fragen gibt es vielleicht keine sofortigen Antworten, aber sie werden uns in Richtung Wachstum lenken und lebenswichtige Emotionen wie Freude, Staunen, Mut und Inspiration auslösen.

Der Weg nach vorn ist kein Weg zurück. Wir werden vielleicht nie wieder mit den Berggeistern kommunizieren oder Opfergaben in heiligen Hainen hinterlassen (obwohl unser Geist durch solche Praktiken der Schönheit nur wachsen kann). Aber egal, wo wir leben – in der üppigen Wildnis des Dschungels oder auf einer belebten Straße in der Stadt – wir können uns selbst zu Lebensaktivisten erheben und unsere eigene Agenda festlegen: die Brennnessel in unseren Gärten wuchern lassen, die Vögel füttern, die an unser Fenster kommen, uns mit dem Obdachlosen in unserem Viertel anfreunden, unsere wilden Stimmen hören lassen.

»Es gibt eine Kraft in dir, die dir Leben gibt«, sagte Rumi. »Suche sie.«

Lasst sie uns suchen, lasst sie uns nähren, lasst sie uns sein.

* Der Begriff »Biomimikry« setzt sich aus »Bio« (Leben) und »Mimikry« (Nachahmung) zusammen und beschreibt den Prozess des Lernens von der Natur.

Die Autorin

Fabiana Fondevila ist Autorin, Journalistin, Geschichtenerzählerin, Ritualgestalterin, Aktivistin und Lehrerin aus Buenos Aires, Argentinien. Ihre Seminare verweben Naturerforschung, Traumarbeit, mythisches Bewusstsein, archetypische Psychologie, Sozialarbeit und Arbeit mit Emotionen um Ehrfurcht, Dankbarkeit und Verzauberung zu wecken. Ihr neuestes Buch ist Wo das Wunderbare wohnt.

www.fabianafondevila.com

Von Charles Eisenstein
(viele Übersetzungen seiner Essays auf Charles Eisenstein auf Deutsch)

Eine liebe Freundin hat sich heute an mich gewandt, eine hochgeschätzte Älteste im Way of Council, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich sagte, dass es mir so vorkomme, als beobachte ich einen Zusammenstoß in Zeitlupe, und verspüre dabei dennoch eine eigenartige Heiterkeit, während sich die Katastrophe abspielt. Denn die Zeit, die Fahrer zu beschwören, sie mögen bitte das Lenkrad herumreißen und auf die Bremse treten, ist vorbei. Das haben wir lange Zeit getan, aber sie haben stattdessen beschleunigt, und jetzt ist die schon lang vorausgesehene Kollision unvermeidlich. Tatsächlich passiert sie bereits.

Eines Tages werden alle – Fahrer, Passagiere und Zuschauende – mit einem ernüchterten Blinzeln aus Trümmern und Staub hervorkommen, um die Verletzten zu versorgen und die Toten zu betrauern und zu fragen, was sie nun in ihrer neu gefundenen Freiheit zusammen erschaffen sollen.

Wer weiß, wann dieser Tag kommt. In einer bestimmten Zeitlinie wird es in ungefähr drei Jahren der Fall sein. Diese Zeitlinie hängt davon ab, ob wir als Kollektiv willens sind, eine Information zu akzeptieren und zu integrieren, die alles bisher gemeinsam für wirklich Gehaltene von Grund auf erschüttert. Diese Information wird ein neues Menschheitsdrama unterfüttern, wenn wir uns dafür entscheiden.

Vorhersagen eines beginnenden neuen Kapitels in der Menschheitsgeschichte – wähle ein beliebiges Datum: 2028, oder war das 2012, oder vielleicht die Harmonische Konvergenz 1987 – sind eigentlich keine Vorhersagen, sondern Prophezeiungen. Eine Vorhersage ist objektiv. Sie lässt dem Handeln der Beteiligten keinen Spielraum. Wenn ich den Sieger in einem Fußballspiel vorhersage (das ist mein Nebenjob), setze ich voraus, dass ich keine Möglichkeit habe, das Ergebnis zu beeinflussen. Ich spiele nicht mit. Dagegen wird eine Prophezeiung nur dann wahr, wenn die Leute ihre Entscheidungen an den davon eröffneten Möglichkeiten ausrichten.

Früher habe ich geglaubt, dass der Kollaps uns retten würde. Dass wir damit aufhören würden, die Natur, einander und unsere eigenen Körper zu zerstören, weil wir damit aufhören müssten. Das glaube ich nicht mehr, genauso wenig wie der Aufprall auf einem Tiefpunkt einen Süchtigen retten kann. Der „Tiefpunkt“ ist der Augenblick, wo der Süchtige eine andere Entscheidung trifft. Der Kollaps von zunächst einer, dann immer weiteren Dimensionen seines Lebens – Arbeit, Ehe, Familie, Gesundheit, Freiheit – bietet ihm eine ganze Reihe von Einladungen. Dies sind Augenblicke, wo eine Wahlmöglichkeit zur Verfügung steht, wenn die Dynamik innehält und er vor der Frage steht, ob er bereit ist, einen anderen Weg einzuschlagen. Was für den einen Süchtigen der Tiefpunkt ist, ist für einen anderen vielleicht nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur Hölle.

Unsere Gesellschaft nähert sich genau solch einem Augenblick, solch einem Entscheidungspunkt.

Von unseren vielen kollektiven und individuellen Süchten ist diejenige, von der ich jetzt sprechen werde, die Anhaftung an den Gepflogenheiten des Krieges.

Kriegsmentalität ist nicht Gewaltdurst oder Kampfeslust. Kriegsmentalität ist ein Denkmuster und eine Sehgewohnheit. Sie teilt die Welt ein Wir und Die, Freund und Feind, Held und Schurke. Sie bietet Lösungen im Sinne von Sieg, und Erfolg im Sinne von Gewinn. Sie benutzt Bestrafung und Beschuldigung, Abschreckung und Rechtfertigung, richtig und falsch. Sie macht süchtig, denn wenn sie ein Problem nicht lösen kann, beseht die Lösung in der Erhöhung der Dosis. Sie erweitert sich auf neue Feinde und neue Kämpfe. Wenn kein offensichtlicher Gegner zu finden ist, der an der sich verschlimmernden Lage schuld sein könnte, sucht sie intensiver, um einen zu finden, oder sie erschafft stattdessen selber einen.

Die Lösung, die die Kriegsmentalität für jedes Problem aufzeigt, ist es, das Schlechte zu finden und auszurotten. Diese Lösung lässt sich auf unterschiedliche Gebiete menschlichen Handelns anwenden: Landwirtschaft (töte die Schädlinge), Medizin (finde einen Erreger), Sprache (zensiere böse Begriffe), politische Konflikte (töte die Terroristen), öffentliche Sicherheit (sperre die Kriminellen ein). Komplizierte Probleme, wie die in Amerika weit verbreitete Fentanylsucht oder der Niedergang der Industrie, lassen sich auf einfache, wenn auch vergebliche Lösungen reduzieren, sobald man jemanden findet, dem man die Schuld zuweisen kann. Die Chinesen! Die mexikanischen Kartelle! Diese Vorgehensweise bietet eine gewisse Erleichterung, obgleich sie selten Erfolg hat.

Die desaströse Antwort des Gesundheitswesens auf Corona wurde von Kriegsmentalität gespeist. Nach Jahrzehnten nachlassender Gesundheit und einem Anstieg bei chronischen Erkrankungen, wofür sich kein äußerer Übeltäter ausmachen ließ, hatte man endlich eine Bedrohung, die bestimmt und beherrscht werden konnte. Also wurde die ganze Angst der Bevölkerung auf den neuen schauderhaften, bösen Kerl projiziert. Die Gewohnheit des Finde-den-Feind-Denkens machte die Öffentlichkeit so empfänglich für Strategien, die sich von dumm über absurd bis hin zu tyrannisch erstreckten.

Unsere Führungspersönlichkeiten konstruieren ein Narrativ, das das Böse auf eine bestimmte Person, Nation oder Gruppe festlegt, und das gewohnheitsmäßige Kriegsdenken erledigt den Rest. Schon bald ist die Bevölkerung bereit, Krieg, Zensur, Lockdown, die Aufhebung von bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitzutragen.

Dasselbe grundlegende Denkmuster treibt auch Verschwörungserzählungen an. Wenn wir die Ursache aller Ungerechtigkeiten und Schrecken der Welt auf eine verschwiegene Gruppe von miesen Akteuren, eine psychopathische Clique zurückführen, dann sind unsere Probleme theoretisch leicht lösbar1. Genauso, wie eine Krankheit, die von einem Erreger verursacht wird, durch das Abtöten des Keims geheilt werden soll, könnten wir die Krankheit der Gesellschaft heilen, indem wir die Pathokraten von der Macht fernhielten.

Selbst in Fällen, wo ein Erreger die direkte Ursache ist, müssen wir immer noch fragen, welche Bedingungen den Organismus für diesen Erreger empfänglich machen. Einige in meiner Leserschaft halten mich für naiv, weil ich den Einfluss einer satanischen Clique innerhalb der Machtelite bei der Manipulation des Weltgeschehens unterschätze. Aber für mich ist die wichtigste Frage nicht, ob eine derartige Clique existiert. Es ist das psychosoziale Muster, das es ihr erlaubt, die Oberhand zu behalten – ob sie nun existiert oder nicht.

Dieses Muster ist wiederum die Kriegsmentalität. Es ist die Wir-gegen-Die-Denkweise. Es ist Entmenschlichung und „Othering“, die Aufteilung der Welt in Vollmenschen und Untermenschen. Letztere Kategorie kann die Form von Rassismus, Sexismus, Homophobie und so weiter annehmen, oder schlicht Verachtung für alle, die eine andere Meinung haben.

Sind zwei Seiten erst einmal in die Kriegsmentalität verstrickt, verstärkt sie sich wie eine Sucht, bis alles andere aufgezehrt ist.

Hass und Verachtung sind in der amerikanischen Politik immer mehr außer Kontrolle geraten. Triggerwarnung: Es ist nicht möglich, über dieses Thema zu schreiben und dabei den Narrativen beider Seiten treu zu bleiben. Wenn du vollkommen davon überzeugt bist, dass a) Trump für eine faschistische, oligarchische Vereinnahmung der Demokratie steht, die die übelsten rassistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Elemente der amerikanischen Psyche ausnützt, um alles zu zerstören, was in Amerika gut und menschlich ist, oder b) die MAGA2-Revolution Freiheit und Gesundheit in ein System zurückbringen wird, das von einem Tiefen Staat vereinnahmt worden war, der Umweltschutz und gesellschaftliche Teilhabe als Vorwände für ein totalitäres Kontrollsystem benutzte, oder c) irgendein anderes Narrativ, das die Welt in Team Gut und Team Böse spaltet, ja, dann wirst du verwirrt den Kopf darüber schütteln, dass Eisenstein von allen guten Geistern verlassen ist. Du bist frustriert, sogar wütend, dass ich argumentiere, ohne dabei die Bösen lauthals anzuprangern. Wenn man dem absolut Bösen gegenübersteht, ist doch keine andere Reaktion zulässig, außer es mit allen erforderlichen Mitteln zu bekämpfen.

Wie einfach wäre dann alles. Wie leicht würde man zum Helden der Geschichte.

 

Das höchste Kriegsziel ist es natürlich, den Gegner zu schlagen. Der Unterschied zwischen Krieg und Spielen, Sport, Wettbewerb und – in gewöhnlichen Zeiten – der Politik ist, dass in den letztgenannten Bereichen etwas wichtiger ist als das Gewinnen, nämlich die Spielregeln. Fußballmannschaften versuchen normalerweise nicht, ihre Gegner zu vergiften. Das Spiel selbst ist ihnen heiliger als es zu gewinnen. In einer funktionierenden Demokratie, in der alle Parteien die Verfassung oder einen Kanon von Normen und Werten hochhalten, gibt es bestimmte Tabus, die sie nicht um des Sieges willen verletzen würden. Die Politik in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern steuert immer näher auf einen Krieg zu – unausweichlich, wenn jede Seite die andere als Verkörperung des Bösen betrachtet. Heute sind in meinem Land sowohl die Linke als auch die Rechte ganz sicher, dass die andere Seite „eine Bedrohung für die Demokratie selbst“ darstellt.

In dieser Gewissheit wird jede Seite zu dem, was die andere fürchtet. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die alte politische Elite und die Trump’schen Usurpatoren sind in einem Teufelskreis gefangen. Wenn eine Seite in ihrem absoluten Machtstreben nachlässt und dessen Unbarmherzigkeit aus Respekt vor demokratischen Grundsätzen vermindert, wird die andere Seite dies als Schwäche ausnützen. Sobald eine Seite ihre Skrupel ablegt, müssen das alle Seiten tun. Wenn bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft betrügt, kann die andere nur dann gewinnen, wenn sie auch betrügt.

Im Kampf gegen das Böse ist jedes Mittel gerechtfertigt. Man muss womöglich die Demokratie zerstören, um sie zu retten, die freie Rede unterdrücken, um freie Rede zu bewahren, Wahlen streichen, um das Wählen zu verteidigen. Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Es genügt inzwischen nicht mehr, die Gegner nur bei einer Wahl zu besiegen; sie müssen auch eingekerkert werden. Die Vereinigten Staaten, die Türkei, Frankreich, Brasilien und Rumänien haben jeweils während des vergangenen Jahres oppositionelle Politiker mit fadenscheinigen Anklagen verfolgt, was eine Rückkehr zum historischen Werkzeug signalisiert.

In den Vereinigten Staaten hat der Oppositionspolitiker, Donald Trump, den Klagekrieg überlebt und die Wahl gewonnen. Es fragt sich: Ist das nun ein Sieg für die Demokratie oder einfach ein Sieg für Donald Trump? Wird er die politische Aufrüstung von Bundesbehörden wie dem Justice Department [Justizministerium], IRS [Bundessteuerbehörde], State Department [Außenministerium], CISA [Bundesbehörde für IT-Sicherheit], CIA [Geheimdienst] und FBI [zentrale Sicherheitsbehörde] beenden oder wird er sie lediglich auf neue Zielobjekte ausrichten? Wird er freie Rede und bürgerliche Freiheiten wiederherstellen oder wird er mit den Werkzeugen Zensur und Überwachung neue Feinde ins Visier nehmen?

Wird Donald Trump den Ring der Macht in die „Schicksalsklüfte“ werfen? Oder ist der „Ring“ nur auf andere Hände übergegangen, wobei die Technologie seine Kräfte (Zensur, Propaganda, Überwachung, Konto-Entzug) noch verstärkt?

Tut mir leid, aber es sieht nicht gut aus. Um nur ein Beispiel auszuwählen: „Antisemitismus“ (definiert als jegliche Kritik am Staat Israel) hat „Desinformation“ als Vorwand, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit, den Schutz vor unangemessenen Durchsuchungen und Beschlagnahmungen (Überwachung) und das Recht auf einen ordnungsgemäßen Gerichtsprozess zu missachten, ersetzt. Die Festnahmen von Rumeysa Öztürk und Mahmoud Khalil aufgrund von „Unterstützung der Hamas“ (also Widerstand gegen das Abschlachten, Verhungernlassen und die ethnische Säuberung Gazas durch Israel) sowie der Druck auf Universitäten, die Studentenproteste abzustellen, haben einen eiskalten Präzedenzfall geschaffen.

Trump hat das Land immerhin vom Kriegspfad mit Russland abgewandt, aber er bringt das Land nicht vom Pfad des Krieges ab. Die oberen Ränge seiner Regierung sind von Kriegsmentalität durchdrungen. Statt gegen Russland führt der Kriegspfad nun in Richtung Iran und China.

Die Kriegsmentalität benötigt immer einen Feind. Wenn sich kein Feind anbietet, erschafft sie einen. Die Helden-Nation benötigt einen Schurken. Der Sieger benötigt einen Verlierer. Wenn ich erwarte, dass du auf meine Kosten Profit machen willst, und ich dich dementsprechend behandle, dann wirst du vermutlich meiner Erwartung folgen. Erblicke eine Welt voller Feinde, und es werden Legionen von Feinden auftauchen.

Ich will fair bleiben: Donald Trump ist keineswegs auf Abwegen in seinem Glauben, dass jedermann immer das Beste für sich herausschlagen will. Das ist die Grundannahme der klassischen Wirtschaftswissenschaften, selbst der Evolutionsbiologie, wonach wir von unseren Genen dafür programmiert sind, unsere eigene Fortpflanzung zu maximieren. Diese Paradigmen sind jedoch seit langem überholt. Das eigenständige und vereinzelte Selbst ist ein Prisma, das nur eine Wellenlänge der Regenbogenfarben des Lebens wiedergibt, aber verbirgt, was wir heute dringend erkennen müssen.

Denn die Welt ist so viel mehr als eine Ansammlung von einzeln im Wettbewerb stehenden Wesen; sie besteht aus Vernetzungen und wechselseitigen Abhängigkeiten; Strategien, die sich auf das Wir-gegen-Die-Denken stützen, schaden unweigerlich genauso dem „Wir“ wie dem „Die“. Krieg im Ausland bringt Gewaltherrschaft im Inland. Häusliche Gewalt nimmt zu und spiegelt die auswärtige Gewalt. Umweltzerstörung erzeugt Krankheit bei Menschen. Und jedes Wirtschaftsprogramm, das die Gesamtvernetzung der modernen Ökonomie nicht berücksichtigt, wird auf seinen Urheber zurückfallen.

Gestattet mir eine kurze Abschweifung auf die Ökonomie und Trumps Zölle. Das Konzept hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Vorsichtig geplante Zölle, die schrittweise im Tempo der Anpassung des Gewerbes erhoben werden, könnten zu positiven Zielen beitragen: Wiederbelebung lokaler und regionaler Wirtschaft, Abkehr von der Finanzialisierung der Volkswirtschaft und das Ende vom globalen „Rennen in Richtung Tiefpunkt“, bei dem der Freihandel Arbeiter aus der ganzen Welt gegeneinander in den Ring schickt. Leider sind Trumps abrupte Pauschalzölle weder vorsichtig geplant noch angepasst. Sehr wahrscheinlich werden sie Hunderttausende Geschäfte in den Ruin und Millionen Familien in die Armut treiben, sowohl in den USA als auch im Ausland. Die Zölle werden zunächst sofortige Auslagerungen und langfristig massive Unwirtschaftlichkeit bewirken. Es existieren hier weitere Schwierigkeiten, über die ich noch extra schreiben werde. Was uns momentan interessieren soll, ist, dass der Fehler in der Zollpolitik einem grundlegenden Missverständnis über die gegenseitige Abhängigkeit in der Wirtschaft entstammt, einem Missverständnis, das jedem, der im Wir-gegen-Die-Denken gefangen ist, ganz selbstverständlich passiert.

Aus Beobachtungen meiner Freunde und Bekannten im „inneren Kreis“ schließe ich, dass Trumps Team ernsthaft daran glaubt, dass es selbst die Rechtsstaatlichkeit hochhält, indem es seine politischen Gegner wegen echter Kriminalität verfolgt und korrupten Nichtregierungs-Organisationen (die zufällig auch von seinen politischen Gegnern geleitet werden) die Finanzierung streicht. In der Tat gibt es bei den bestehenden Institutionen jede Menge Kriminalität. Die Behörden, die Trump abbaut, wie USAID, NED [US-amerikanische Denkfabrik für liberale Demokratie] und USIP [US-Friedens-Akademie], haben dabei mitgewirkt, die neoliberale Weltordnung zu festigen und das neokonservative Programm allumfassender Dominanz zum Einsatz zu bringen. Trumps Team sieht sich selbst als Reformatoren, die die Ehre und den Wohlstand der Nation wiederherstellen. „Den Sumpf trockenlegen“ und „Make America Great Again“ sind keine zynischen Schlagworte.

Betäubt von berauschenden Idealen kann das Team Trump nicht sehen, dass sein Programm genauso auf eine andere Beschreibung passt: Machtergreifung.

Wenn sie mit dieser Einschätzung konfrontiert wären, würden einige in Trumps Umfeld ihr wahrscheinlich zustimmen. Sie könnten antworten: „Was haben wir denn für eine Wahl, wo wir doch einem skrupellosen Tiefen Staat gegenüberstehen?“ Ganz ähnlich könnten seine Gegenspieler in einem ehrlichen Augenblick zugeben, dass sie tatsächlich die Gerichte, das FBI usw. gegen Trump und seine Anhänger mobilisiert und alle Arten von Betrug angewandt haben, aber was hatten sie denn für eine Wahl, wo doch eine neofaschistische Bewegung dabei war, das Land zu übernehmen?

Was beide Seiten glauben, ist, dass die andere Seite mehr nach Macht giert als sie die Demokratie wertschätzt. Damit das Spiel jedoch funktioniert und nicht in Krieg abgleitet, muss jede Seite glauben, dass der anderen das Spiel an sich (faire Wahlen, die Verfassung) wichtiger ist als der Sieg im Spiel. Wenn man überzeugt ist, dass die andere Seite betrügt, muss man auch betrügen.

Zweifellos glauben auf beiden Seiten viele, dass das jetzt „vorübergehende Maßnahmen“ sind; dass sie, wenn sie schließlich über die antidemokratischen Kräfte auf der anderen Seite triumphiert haben, dem Volk die Macht wieder überlassen werden. Doch so läuft das nie. Jede Seite glaubt aus gutem Grund, dass ein Sieg der Gegenseite von Dauer sein wird. Deswegen der eskalierende Kampf auf Leben und Tod, der Teufelskreis, der unausweichliche Zusammenstoß.

* * *

Was mich in den letzten zehn Jahren meines Friedensengagements am meisten beunruhigt hat, sind nicht die Aktionen und Einstellungen von Politikern, sondern das Einsickern der Kriegsmentalität in die Gesamtbevölkerung, die anschwellende Flut allgegenwärtigen Hasses. Der ist die Energie, aus der die psychopathischsten Elemente der Oligarchie schöpfen. Er ist ihr Lebensblut. Er ist ihre Kraftquelle. Er ist ihre Herrschaftsgrundlage – indem sie ihre Untertanen gegen einander wendet. (Mit „sie“ meine ich die Oligarchie und nicht die Oligarchen, denn Letztere sind Marionetten der Systemdynamik und damit unabhängig von den Individuen, die ihre Rolle innehaben.) Der Haupttrick in ihrem Werkzeugkasten psychopolitischer Taschenspielerei ist es, die primäre Wut der Enteigneten auf ein falsches Zielobjekt auszurichten, in erster Linie Wut umzuwandeln in Hass. Paradoxerweise gedeiht das System, das die Eliten emporhebt, sogar dann, wenn die Eliten selbst die Hassobjekte sind. Eine Elite kann gegen eine andere ausgetauscht werden, neuer Wein in alten Schläuchen.

Als ich diesen Artikel vorbereitete, habe ich nach persönlichen Geschichten über die Auswirkungen der von der DOGE [neue US-Behörde für effiziente Verwaltung] veranlassten Kürzungen gesucht. Ein Freund stellte mich bei einigen Kleinbauern in einer bestimmten, eher linken Zurück-aufs-Land-Gegend vor. Sie wollten nicht mit mir reden. Eine queere Person dort gab ihrer Furcht Ausdruck, dass sie in Gefahr geraten könnten (ich nehme an, durch meine wutschäumende, transphobische MAGA-Leserschaft). Eine andere, die sich im Autismus-Spektrum verortete, machte sich Sorgen wegen meiner Nähe zu Leuten, die abstruse Theorien über Autismus verursachende Impfstoffe verbreiten. Ich versicherte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten, selbst wenn vielleicht jemand meinen Essay läse, der Furcht und Hass gegenüber queeren Menschen hegt, weil ich ja keinerlei Grund hätte, sie in einem Gespräch über die Auswirkungen der Mittelkürzungen für nachhaltig wirtschaftende Landwirte namentlich zu nennen oder ihre Geschlechtsidentität zu erwähnen. Was das Impfthema angeht, naja, ok, ich glaube in der Tat, dass die Impfungen im Kindesalter zum Teil für den sprunghaften Anstieg von Autismus und chronischen Erkrankungen bei Kindern verantwortlich sind. Aber es gibt keinen Grund, autistische oder sonstwie neurodivergente Menschen an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil: Diese Menschen haben Begabungen, die für den Wandel unserer Gesellschaft unentbehrlich sind.

Aber ich schweife ab. Was hier eigentlich vorging, war, dass mich meine Verbindungen und Meinungen zu bestimmten politisierten Themen als Mitglied der gegnerischen Seite kennzeichneten, der bösen Seite, der unberührbaren Seite. Es ist gewissermaßen „nicht sicher“ sich mir zu nähern. Ich hab‘ nämlich die Krätze, und alle, die mir nahe sind, könnten sie kriegen. Während der McCarthy-Ära konnte es deine Karriere zerstören, wenn du auch nur in Gesellschaft einer Kommunistin gesehen wurdest. Sich unter Hitler mit Juden gemein zu machen, bedeutete auch für dich selbst das Risiko von Inhaftierung oder Schlimmerem. Wenn ein Weißer in der Jim Crow Ära in den Südstaaten nett zu Dunkelhäutigen war, riskierte er, ausgegrenzt oder gar gelyncht zu werden. Es macht Angst, sich mit den gesellschaftlich nicht Salonfähigen zu verbinden, denn ihr Status ist ansteckend. Die Tatsache, dass meine Absicht darin bestand, einige Geschichten vorzustellen, die die Leute aus dem Trump-Beweihräucherungs-Syndrom (Gegenteil des Trump-Gestörtheits-Syndroms) aufwecken könnten, zweifellos ein edles Ziel in den Augen meiner Korrespondentinnen, reichte nicht aus, das Tabu gegen die Verbindung mit einer gesellschaftlich unzulässigen Person zu überwinden.

Dieser immer größer werdende Abgrund in unserer Gesellschaft neigt auch dazu, sich selbst zu verstärken. Hat er genügend Schwung, geht er unaufhaltsam in Richtung Bürgerkrieg oder Völkermord. Ich habe die Chauffeure dieser Fahrzeuge viele Jahre lang angefleht, in eine andere Richtung zu lenken. Jetzt habe ich genug vom Anflehen. Das Drama wird sich von selbst abspielen. Warum habe ich genug davon? Ein Gefühl von Vergeblichkeit und Überdruss. Naja, ich glaube, ich habe noch nicht ganz genug – ich schreibe gerade darüber. Und ich kann mir schon den Hass vorstellen, den ich auslösen werde, indem ich die Narrative beider Seiten verletze: meine „Unfähigkeit, X zu berücksichtigen“, mein „weißes Privileg, das mich gegenüber Y blind macht“, meine „fehlende Bereitschaft, die Realität des Bösen anzuerkennen“, oder dass ich auf Trump hereingefallen bin, oder gekniffen und ihn verraten habe, oder ein feiger Zaungast bin, oder mich dem Luxus des Beidseitismus hingebe … Es geht nicht so weit, dass ich diese Anschuldigungen als persönliche Beleidigung betrachte, aber sie sind ein Alarmsignal dieser Zeit. Wenn ich, ein Friedens-Verkünder, so leicht auf die Stufe des Unberührbaren gestellt werden kann, welche Hoffnung gibt es dann noch für Verständnis oder Versöhnung zwischen den Krieg führenden Blöcken einer Gesellschaft?

Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Letzte Woche habe ich mich von einem weisen Mann beraten lassen, einem meiner spirituellen Führer. Ich verrate seinen Namen nicht, damit ich ihn nicht mit meiner Krätze infiziere. Ich sage nur, dass er aus Afrika stammt und ein hoher Eingeweihter in süd- und westafrikanischen Weisheitsschulen ist, aber auch in der westlichen hermetischen Tradition. Er fixierte mich mit einem durchdringenden, freundlichen Blick und teilte mir mit, dass meine Nebennieren- und Blutzucker-Probleme daher kommen, dass mich meine öffentliche Tätigkeit zu einer Projektionsfigur gemacht hat. Die Angriffe landen auf meinem Körper, sagte er. Ich fragte, was ich tun könne, wenn die Gesellschaft anscheinend verrückt geworden ist. Er antwortete: „Warte ab.“

Diese Anweisung, „Warte ab“, ist kein Aufruf zur Passivität. Es geht darum zu erkennen, wann die Zeit zum Handeln gekommen ist, und wann Handeln vergeblich oder kontraproduktiv wäre. Sie bedeutet ebenso zu erkennen, dass es Kräfte gibt, die weit jenseits unserer eigenen in der Welt wirken. Und sie bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Dramen bis zu ihrem Ende durchgespielt werden müssen, bevor ein neuer Akt beginnen kann. Jetzt ist vielleicht – zumindest für mich – nicht der Zeitpunkt, um Krieg führende Parteien zur Versöhnung zu drängen. Das Drängen trifft auf taube Ohren. Wer Frieden vorschlägt, wird von beiden Seiten als Verräter an der Sache gesehen, denn sobald man die andere Seite als menschlich betrachtet oder anerkennt, dass auch sie eine ehrliche Weltsicht hat, die auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, dämpft dies das Kriegsfieber. Der Hass ist ein notwendiges Werkzeug für Krieg – und ebenso für Politik, wenn die Politik zu Krieg wird.

Was vergeblich ist, wird schnell aufreibend. Vielleicht kann sich erst, wenn die Kriegsparteien sich selbst auch im Wir-gegen-Die-Drama aufgerieben haben, ein neues Drama entfalten – aus Vergebung, Reue und Versöhnung.

Das ist ein herzzerreißender Vorschlag, weil der Preis für die Menschheit ungeheuerlich ist. Die Art von Gewalt, die an Orten wie Palästina, Ruanda, Jugoslawien, Kongo, Irak, Jemen, Uganda, Kambodscha oder Vietnam erlitten wurde und wird, blieb meinem Heimatland lange Zeit erspart, aber wir sind nicht davor gefeit. Etwas Urtümliches und Schreckliches lauert hinter der dünnen Fassade der Zivilisation. Es braucht nicht viel, dass Mord-Impulse aufbrechen. Sie brodeln bereits in den sozialen Medien. Wir unterscheiden uns als Spezies nicht von den Tätern vergangener oder gegenwärtiger Völkermorde. Ich sage damit nicht, dass es in meinem Land sicher geschehen wird, aber es ist bei Weitem nicht sicher, dass es nicht geschehen wird.

In gewissem Sinne geschieht es seit Langem in verdeckter Form. Wie viele Millionen sind gestorben oder haben unendliches Leid erlitten durch Inhaftierung, Gewalt, Missbrauch, Sucht, Depression und chronische Krankheit? Auf langen und gewundenen Pfaden entstammt all dies derselben Grundursache wie offener Krieg und Völkermord. Es kommt von der Reduzierung menschlicher Wesen auf weniger als etwas Heiliges. Doch das alles geschieht unter der Fassade von Normalität. Diese Fassade wird in den nächsten drei Jahren fallen.

Der Zerfall von Normalität ist letztendlich etwas Gutes. Wenn sich der Staub gelegt hat, werden wir inmitten der Ruinen unseres Gefängnisses stehen und voller neuer Fragen sein.

Dann können wir sehen, dass die Spaltung der Welt in Wir und Die sowie die Schulddiagnose, die diese Spaltung begleitet, gescheitert sind. Wir werden sehen, dass Krieg keinen Frieden gebracht hat, Hass keine Gerechtigkeit, Dominanz keine Sicherheit und Herrschaft keine Freiheit. Dieses Scheitern von Zielsetzungen wird der Abglanz eines tieferen Scheiterns sein, des Scheiterns von Verständnis. Die Sichtweisen, mit denen wir bisher die Welt mit Sinn erfüllten, werden keinen Sinn mehr ergeben. Werden wir die Stärke aufbringen, lange genug im Staunen zu verharren, bis uns ein neues Verständnis erwächst? Oder werden wir aus Angst in eine neue Variante der alten Geschichte springen und die alten Schurken durch einen Satz neuer Schurken ersetzen, ein neues Wir und ein neues Die, um dasselbe Drama noch einmal auf die Bühne zu bringen?

Übersetzt und korrekturgelesen von Ingrid Suprayan und Bobby Langer. Die englische Originalfassung dieses Essays vom 06. April 2025 – “When Politics Vecomes War” – findest du hier.

 

Von Bobby Langer

„Buenos dias, madre. que tal? Wie geht’s, Mutter Erde? Du siehst ein wenig kränklich aus.“

„Es geht so, die meisten meiner Kinder haben mich im Stich gelassen – wer kümmert sich schon um seine alte Mutter – aber wenigstens ein paar von ihnen sorgen sich noch um mich. Immerhin.“

„Am 22. April ist dein Feiertag, so wie jedes Jahr seit 1970. Hast du einen Wunsch?“

„Ja, den habe ich tatsächlich. Damals kam nur ein kleines Häuflein zu meinem Feiertag. Alle dachten: ‚Nichts kann der Alten etwas anhaben.‘ Auch ich hielt mich Jahrmilliarden lang für unverletzlich, aber ich habe euch unterschätzt. Ihr Menschen seid wie Ameisen, die mir bis ins Gehirn, bis in meine Adern und Lungenbläschen vordringen und mir Energie und Atem nehmen. Doch immer mehr von euch beginnen zu verstehen: Werde ich krank, ist es auch um euch geschehen. Ohne mich seid ihr nicht mehr. Heute sind es schon Hunderttausende in 175 Ländern, die mich feiern. Das tut gut und macht mir Hoffnung; deshalb mein Wunsch: Verwandelt die Hunderttausend in Hundertmillionen!“

„Bescheiden bist du nicht gerade, oder?“

„Stimmt, dieser menschliche Begriff ist mir als Planetin fremd. Ich habe schon immer groß gedacht.“

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Gaia, so heißt Mutter Erde – nur wenige Namen haben sich international so durchgesetzt. Seit die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock Mitte der 1970er-Jahre die Gaia-Hypothese entwickelten, ging der Name Gaia viral. Und dabei gab es noch gar kein Internet. Sogar das Teleskop der Europäischen Weltraumorganisation wurde nach ihr benannt.

Das world-wide Gaia-Web

Natürlich gab es den Namen Gaia lange vor unserer Zeit. Schon in der altgriechischen Mythologie hieß die personifizierte Erde Gaia [Γαῖα]. Aus ihr stammte alles Leben, und alles Leben sank zurück in ihren Schoß. Gaia stand in direkter Verbindung mit der Göttin Kybele, die im westlichen Teil der heutigen Türkei [Kleinasien] verehrt wurde als Herrin der Tiere, als Berg- und Naturgöttin und Erdenmutter. Kybele erhielt in manchen Traditionen auch den Namen „magna mater“, Große Mutter; im Hinduismus hieß sie Parvati, Tochter der Himalaya-Berge; in Lateinamerika trug sie den Ehrennamen Pacha Mama und wurde zum Grundprinzip der aktuellen Verfassung von Ecuador. Nur vor diesem Hintergrund ist die immense Verehrung der „Mutter Gottes“ im Christentum erklärlich.

Doch mit Pacha Mama schließt sich der Kreis zum Heute. Die in indigenen Mysterien Amerikas verbreitete Erdmutter-Verehrung konnte durch das Christentum nie vollkommen unterdrückt und ausgemerzt werden und feiert seit Jahren unter dem spanischen Ruf „Buen Vivir“ – gut leben! – eine globale Wiederkehr. Pacha Mama ist die Rebe, die ihr Wasser aus großen Tiefen holt, sie ist der durchs Pflaster wachsende Löwenzahn. Die widerständigen mexikanischen Zapatistas fordern Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Unabhängigkeit, Land, Arbeit, Gesundheit, Bildung und Frieden – und berufen sich auf Pacha Mama. Pacha Mama ist der Ursprung ihrer Identität und Kern eines Bewusstseins, dass alles, was Leben hat, untrennbar miteinander verbunden ist: Tiere, Pflanzen, Insekten, aber auch Berge und Flüsse, Felsen und Himmel. Es ist gut vorstellbar, dass Pacha Mama zum Inbegriff einer Bewegung wird, die gegen alles aufbegehrt, was Gaia Gewalt antut. Die Energie für einen solchen Aufstand für das Leben ist längst – global in uns allen – vorhanden wie die Lava unter einem schlummernden Vulkan.

Gaia – wer oder was ist das?

Doch was ist dran an der Gaia-Hypothese? Durchsetzungsfähig war sie, weil sich in ihr intuitives, archaisches Wissen mit modernem Wissenschaftsverständnis verknüpfte – in der Frage nämlich nach dem Urgrund des Lebens. Leben äußert sich in Form von Lebewesen, die sich in selbstorganisierenden biologischen Rückkopplungsprozessen erhalten, so der wissenschaftliche Blickwinkel. Auch der Planet Erde, Gaia, so Lovelock, lasse sich derart beschreiben. Ganz Naturwissenschaftler, untermauerte er seine Hypothese mit phänomenalen Argumenten. Deren bekanntestes ist der seit ewigen Zeiten gleichbleibende Salzgehalt der Meere, der sich logisch nur erklären lasse, wenn es etwas – nämlich das Wesen Gaia – gebe, das ihn aufrechterhalte: „Obwohl vom Land weiterhin beträchtliche Mengen an Mineralien gelöst und ins Meer verfrachtet werden, ist der Salzgehalt seit Jahrmillionen nicht mehr gestiegen. Nimmt man an, dass die Mineralfracht in früheren Zeiten ähnlich hoch war wie heute, müsste inzwischen so viel Salz in den Meeren sein, dass höhere Lebensformen nicht mehr existieren könnten. Tatsächlich gibt es Prozesse, die Salz auch wieder aus dem Ozean entfernen.“ (Wikipedia)

Obwohl Lovelock selbst sich einer Romantisierung der Gaia-Hypothese widersetzte, hatte er doch viel Verständnis für deren Anhängerinnen:

„Wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend. Ich achte die Haltung derer, die Trost in der Kirche finden und ihre Gebete sprechen, zugleich aber einräumen, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für den Glauben an Gott liefert. In gleicher Weise achte ich die Haltung jener, die Trost in der Natur finden und ihre Gebete vielleicht zu Gaia sprechen möchten.“

There’s something that calls for you

Obschon sich die Gaia-Hypothese auf naturwissenschaftliche Aspekte berief, hatte sie doch stark spirituelle Auswirkungen, etwa hinein in die Hippie- und New-Age-Bewegung. Doch das ist lange her und hat sich gewissermaßen „überlebt“.  „It’s all over now, baby blue. | Leave your stepping stones behind | There’s something that calls for you“, sang Bob Dylan, der seine mystische Sicht der Welt stets sorgfältig hinter seiner schnarrenden Stimme versteckte.

Der vielleicht wichtigste Aspekt des zunehmenden Gaia-Booms ist seine nicht nur völkerverbindende, sondern menschheitsverbindende Kraft: Wenn wir spüren, dass wir alle Bewohner und Geschöpfe von Gaia sind, dann sind wir ein Volk von Feuerland bis Alaska, von Spitzbergen bis Andalusien, von Cabo da Roca bis Tschuktschen; dann verstehen wir, dass eine Hierarchie innerhalb des Lebens eine absurde Annahme ist; dass wir alle gleichwürdig sind. Gaia wirkt in unseren Kindern, sie ist die große Hebamme aller Menschen und Lebewesen aller Länder.

Aber Gaia macht uns nicht alle gleich; im Gegenteil. Was wäre eine Alpenwiese ohne ihre 5000 Pilzarten, 2500 Flechtenarten, 4500 Gefäßpflanzen und 800 verschiedenen Laubmoose? Sie wäre eine Monokultur, eine menschliche Wahnidee und nicht das Wunderwerk einer durch Jahrmillionen sich steigernden Vielfalt. Gaia, das verstehen immer mehr von uns, ist das Gegenteil industrieller Standardisierungen, Gaia ist Leben pur, das sich in unerreichbarer Individualität ausdrückt, in uns, in dir und in mir.

Gaia lädt uns ein

Und vor allem: Gaia gibt es wirklich. Sie ist keine „Idee“, es sei denn, wir selbst wären Ideen und nicht, von ihr und aus ihr gemacht, aus Fleisch und Blut. Gaia ist der Apfel, in den wir beißen, und der seinen süßen Saft auf unsere Zunge sprüht; Gaia ist die Frühlingswiese, in die wir uns legen und die in uns aufblüht, sobald die Sonne uns strahlend berührt. Gaia ist aber auch der Rost, der am alten, vergessenen Traktor frisst – drüben am Ackerrand. Gaia ist Kraft und Versprechen und Zukunft.

Gaia ist das Ende des gefährlichen Glaubens, hier sei der Mensch und dort die Natur. Gaia ist wir und wir sind Gaia, aber eben nicht exklusiv, sondern im Sinne einer Einladung, einer Ineinsnahme: Der Tag der Erde ist eine Festtagseinladung, bei der uns die Erde zum Feiern ruft, zum Feiern der Geschwister aus Tiefsee und Himmel, zum Feiern unserer Geschwister in und über der Erde, zum Feiern unserer Schwestern und Brüder in Nord und Süd, Ost und West. Denn wir sind ein Volk, Geschwister und Kinder der Erde. Gaia ist Frieden, jeden Tag.

Entnommen aus „(Wandel-) Reiseführer in eine zukunftsfreundliche Lebensweise“ (mit diesem Link copyrightfrei verfügbar)

Evelin Rosenfeld beweist, dass auch eine optimal naturnahe Wirtschaftsweise funktionieren kann

Es gehört zu den beliebten Argumenten der konventionellen Landwirtschaft, man könne nur mit dem Einsatz von Großmaschinen und massiver Schädigung von Mitwelt und Bodenleben wirtschaftlich überleben. Evelin Rosenfeld  beweist das Gegenteil. Im Interview ist Ökoligenta ihrem Ansatz nachgegangen.

Ökoligenta: Du betonst auf deiner Homepage die Kreislaufwirtschaft, und zwar nicht nur irgendeine, sondern eine konsequente. Wenn wir die „Kreislaufwirtschaft“ mal als den einen Pol möglichen Wirtschaftens ansehen, wie würdest du denn den anderen Pol beschreiben?

Evelin Rosenfeld: Der andere Pol ist, mit möglichst wenig Eigenleistung möglichst billig irgendwelche Rohstoffe und Vorleistungen zusammenzukaufen und teuer weiterzuverkaufen. Die Bedingungen der Gewinnung, die nicht eingerechneten Verbräuche auf dem Weg zum „Händler“ und die Entsorgung des verbrauchten Produkts spielen dann ebenso wenig eine Rolle wie der immaterielle Aspekt des „Produkts“. Das Produkt ist dann seelenlos.

Ö: Um jetzt mal konkret von deiner Branche zu sprechen: Wie funktioniert die konventionelle Pflanzen- und Kräuterproduktion üblicherweise?

E.R.: So viel Land wie möglich pachten um so viel Nutztiere wie möglich unter Leben verachtenden Bedingungen möglichst schnell zu vermehren und die Exkremente auf den Flächen auszubringen (man braucht je Vieheinheit eine bestimmte Fläche). Auf diesen Flächen fahren dann Maschinen von mehreren zig Tonnen und reißen mehrmals zwischen Herbst und Frühjahr den Boden auf.

Das Bodenleben stirbt, der Boden verdichtet und verarmt. Dann wird giftig gebeiztes, oft genmanipuliertes Saatgut ausgebracht, das unter Einsatz von mehreren „Gängen“ Mineraldünger (Wasser und Bodenleben werden geschädigt), den Exkrementen aus dem Stall (s.o.) und Pflanzenschutz (einheimische Pflanzenarten, Insekten, Eidechsen etc. werden mitvernichtet) hochgezogen wird. Wieder mehrfach schwere Maschinen auf dem Boden – und Abgase und Lärm.

Wenn der Bestand erntereif ist, kommt eine noch größere, noch schwerere Maschine, rasiert die „Ware“ ab, die vom Schneidwerk mit Hochdruck in den Tank geschleudert wird. Das so misshandelte Pflanzgut wird zum Hof geschafft und mit Fließbändern, Rüttelsieben und Trockengebläsen erneut so massiv verletzt, dass unweigerlich Oxidation und damit Vergiftung und Zerfall der Pflanzen einsetzt.

Was dann noch übrig und trocken ist, wird maschinell kleingehackt, in Säcke geblasen und auf zum Teil langen Wegen – Abgase – zum Händler geschafft, teils mehrere Handelsetappen, bis zuletzt das mausetote Material wieder maschinell in Verkaufspackungen untergebracht wird und erneut auf den Transport zu Einzelhändlern geht.

Ö: Gibt’s da denn keinerlei Unterschiede zwischen konventionellen und Biobetrieben?

E.R.: Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Biobetriebe bestimmte Dünge- und Spritzmittel nicht verwenden dürfen, dafür nur Biosaatgut verwenden dürfen und sich einmal jährlich kontrollieren lassen müssen. Wenn man einmal davon absieht, dass Demeter-Betriebe immerhin das Futter für ihre Tiere selbst anbauen müssen, ist der Unterschied marginal.

Ö: Kreislaufwirtschaft und Cradle to Cradle – sind das verschiedene Ansätze?

E.R.: Kreislaufwirtschaft ist eine Überkategorie. Cradle to cradle fokussiert speziell auf Recycling, soweit ich weiß.

Ö: Gibt’s bei dir gar keine nicht wiederverwertbaren Abfälle?

E.R.: Doch: Die Glasflaschen, die Kartons und die Flyer. Die Flaschen zurückzunehmen, zu reinigen und wiederzuverwenden würde mehr Ressourcen verbrauchen, als sie dem großen Recycling vor Ort bei meinen Kunden zuzuführen. Da meine Kunden ja auch sehr bewusst sind und handeln, finden sie ganz sicher eine Wiederverwendung.
Meine Kunden sind übrigens ein paar eigene Zeilen wert. Denn wer mich findet und Gefallen an den Produkten hat, bleibt und bestellt immer wieder. Es ist wirklich so, dass ein paar tausend Namen mir vertraut sind, wenn eine neue Bestellung kommt. Oft mit ein paar lieben, wertschätzenden Zeilen. Manchmal bekomme ich sogar Post von meinen Kunden: schöne Karten, Bücher – einfach: ganz viel Liebe und Verbundenheit, die da schwingt.

Ö: Die Rohstoffe für deine Produkte entnimmst du dem Boden? Wie kommen die entnommenen Nährstoffe wieder in den Boden zurück? Düngst du, und wenn ja, wie?

E.R.: Es muss viel gejätet werden. Hieraus entsteht Kompost, den ich wieder auf die Flächen bringe. Bei Kulturen, die es vertragen, mulche ich zudem. Dem Boden werden durch Photosynthese und Witterung eine Reihe von Elementen aus der Luft und aus dem Sonnenlicht zugeführt. Zudem führt die unbeschadete Fauna (Kleintiere und Insekten) sowie das Mykorhizza [Red.: das in ungeschädigten Böden vorhandene Pilzgewebe] dem Boden alles zu, was vor Ort gebraucht wird. Zusätzlicher Dünger ist da nicht nötig.

Ö: Verschwendung findet ja üblicherweise im Bereich des Energieeinsatzes und im Ressourcenverbrauch statt. Mit welchen Methoden minimierst du diese beiden Faktoren?

E.R.: Ich mähe drei Hektar von Hand, trockne das Pflanzgut in selbst konstruierten Solardarren (komplett frei von Elektrizität) und destilliere auf offenem Feuer.

Ö: Du brauchst ja auch Verpackungen für deine Produkte, wenn du sie verschicken willst. Die sind vermutlich vom Kreislauf ausgenommen? Oder nicht?

E.R.: Ich hole einen Teil der Versandkartons, die ich brauche, vom Einzelhandel aus Rodach: Da fällt so viel an – das kann ich gut wiederverwenden. Allerdings kaufe ich auch Kartons in Recylingqualität zu.

Ö: Du hast dich ja auf Kräuteranbau spezialisiert. Ich habe den Eindruck, dass sich diese Art von Produktion besonders gut für Kreislaufwirtschaft eignet. Ist denn auch eine Landwirtschaft, die Grundnahrungsmittel wie Getreide, Kartoffeln herstellt, als Kreislaufwirtschaft vorstellbar?

E.R.: Ich habe auch einen 5.000 qm großen Gemüsegarten. Das Gemüse erfreut Menschen und Restaurants im unmittelbaren Umfeld. Also: Ja
Zu beachten ist, dass nachhaltiger Landbau > 60% mit mehrjährigen Lebensmittelpflanzen arbeitet. Also heißt das auch für die Nutznießer der Gärten: Weg von einjährigem und oft auch ökosystemfremdem Gemüse – und zurück zu leckeren Dauerkohlen, Spargel, zahlreichen Beeren und vieljährigen Knollen und Wurzelgemüsen.

Ö: Kann man denn ein auch nur halbwegs modernes Leben führen, wenn man arbeitet und denkt wie du?

E.R.: Klar !

Ö: Warum ist dir das alles so wichtig?

E.R.: Weil ich die Erde liebe. Und weil ich dazu beitragen möchte, dass die Menschen endlich Hass, Gier und Verblendung loslassen, um das Leben im Garten Eden zu feiern, statt immer neues Leid zu erzeugen.

Evelin Rosenfeld betreibt die Homepage Wild Natural Spirit mit so naturnah wie möglich naturreinen Pflanzenpräparaten, die sie in Permakultur auf 55.000 qm Land maschinenfrei anbaut. Darüber hinaus bietet sie Seminare zu Permakultur & Heilkräutern an.
Evelin Rosenfeld studierte Biochemie und Betriebswirtschaft, und verabschiedete sich als Konzernstrategin mit 32 Jahren von einem linearen, mitweltfeindlichen Wirtschaften.
Heute sucht sie nach einem/r Geschäftspartner/in, der/die sich den Spagat zwischen ökonomischen Sachzwängen und naturnahem Wirtschaften zutraut.

Die vielleicht zentralste Herausforderung für jeden von uns, der hofft, Bürger des Planeten A zu werden, besteht darin, für die Zukunft bereit zu sein. Wie können wir unsere innere Stärke so weit entwickeln, dass wir uns auf die entstehende regenerative Zukunft konzentrieren können?

Dazu gehört auch, dass wir lernen, wie wir konkurrierende Wahrheiten in der Öffentlichkeit verhandeln und wie wir unser Wohlbefinden angesichts einer sich verschlechternden Umwelt fördern können.

Andererseits gibt es Zuversicht, wenn man mit anderen zusammen ist, die die grünen Triebe einer besseren Zukunft sehen können, wo vorher keine war. Neue Formen von Intelligenz und Handlungsfähigkeit zu gewinnen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, belebt jeden Raum. Unsere Erfahrung, auf diesem Planeten zu leben, wird in Echtzeit verändert.

Emotionale Bedürfnisse und Ressourcen

Nach den Human Givens-Prinzipien ist der Mensch so konzipiert, dass er neun wesentliche emotionale Bedürfnisse hat, die ihm helfen, zu überleben, indem er sozial wird. Dies sind die Bedürfnisse nach Status, Zugehörigkeit, Autonomie, Verbundenheit, Privatsphäre, Sinn und Zweck, Leistung und Intimität.

Wir sind auch so konzipiert, dass wir diese Bedürfnisse selbst befriedigen können, indem wir unsere gegebenen Ressourcen nutzen: die Fähigkeit, uns zu erinnern, uns etwas vorzustellen, in Beziehung zu treten, uns einzufühlen und uns selbst zu beobachten. Wenn unsere Gemeinschaften und Arbeitsbereiche so gestaltet sind, dass sie uns helfen, unsere Bedürfnisse im Gleichgewicht zu befriedigen, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass jeder von uns ansprechbar wird.

Integrales Wachstum

Jeder von uns durchläuft einen Entwicklungsbogen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter (heute geht man davon aus, dass wir mit 24 Jahren voll entwickelt sind). In gewissem, aber nicht ausschließlichem Zusammenhang damit stehen Fortschritte in der psychosozialen Handlungsfähigkeit – wir bewegen uns wie auf einer Leiter durch verschiedene Reaktionen auf unsere Umwelt und entwickeln langsam neue Handlungsmöglichkeiten.

Als Kinder reagieren wir emotional und stellen unsere eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Als junge Erwachsene sind wir oft durch Sicherheit und eine wachsende Fähigkeit zur Strukturierung unseres Lebens motiviert. Später können wir in unseren Beziehungen zu anderen strategischer vorgehen. Um ins volle Erwachsenenalter zu gelangen, werden wir irgendwann auch ein Erwachen für die Rechte aller Menschen erleben, das unsere eigenen Handlungsweisen verändern wird.

Nach der integralen Lehre bedeutet Reife, wenn die Bedingungen es zulassen, dass wir uns dieser verschiedenen Handlungsweisen in uns bewusst werden und lernen, sie zu integrieren. Gleichzeitig können wir die Gesellschaft als eine Gesellschaft sehen, die aus der gleichen Vielfalt von Verhaltensweisen besteht, und neue Arbeitsweisen entwickeln, um dieser Vielfalt gerecht zu werden.

Praxis

Immer mehr Menschen üben sich darin, ihre Aufmerksamkeit zu schulen, die Fähigkeit zu entwickeln, einander zuzuhören und Visionen zu entwickeln. Einige dieser Praktiken werden individuell, andere kollektiv durchgeführt. Die Achtsamkeitspraxis hat in den letzten 20 Jahren auf allen Ebenen der Gesellschaft – von der Schule über die Wirtschaft bis zur Regierung – exponentiell zugenommen.

Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass mehr Achtsamkeit in einer Kultur, die selbst unreflektiert ist – die ihre eigenen grundlegenden Prinzipien nie in Frage stellt und denselben Weg weitergeht -, den Unterschied ausmachen wird, den wir in dieser Zeit der Dringlichkeit brauchen.

Planet A bietet einen Kontext für die Praxis der persönlichen Entwicklung – er hilft jedem, seine Reaktionsfähigkeit zu entwickeln, um gemeinsam mit anderen, die dasselbe tun, handeln zu können.

Aktionspunkte

  • Studieren Sie die Wissenschaft der emotionalen Bedürfnisse und Ressourcen (das Human Givens Modell ist eines davon, Damasio und Panksepp sind andere)
  • Studieren Sie die integrale Theorie und schließen Sie sich bei Emerge Praktizierenden aller Art an.
  • Finden Sie eine Praxis , die Ihnen hilft, in diesem Zeitalter des Chaos und der konkurrierenden Theorien über die Zukunft Ihre eigenen Gedanken zu besitzen und sich zu zentrieren.

Momentan, also im Frühjahr 2025, wird die Zahl der Buddhisten in Europa auf drei Millionen geschätzt; davon leben ca. 125.000 in Deutschland, wenn man die eingewanderten Buddhisten nicht mitrechnet. Angesichts der Bevölkerungszahlen ist das ein Klacks, angesichts der Tatsache, dass noch vor 50 Jahren der Buddhismus den meisten – von Hessejüngern abgesehen – als etwas Fremdes, fernöstlich Unzugängliches erschien, eine erstaunliche Menge. Vermutlich ist dieser Erfolg darauf zurückzuführen, dass es sich um eine religionslose Religion handelt. Erstaunlich nur, dass es noch keinen schwunghaften Tourismus nach Kalmückien gibt, der einzigen mehrheitlich buddhistischen Region Europas.

Mithin taucht die Frage auf: Was ist eine religionslose Religion? Bevor ich darüber nachdenke, möchte ich ergänzen, dass es das Phänomen Buddhismus, von dem ich spreche, im eigentlichen Sinn gar nicht gibt; eher handelt es sich dabei um ein Mem als um ein Phänomen. Denken wir bei dem Wort „Religion“ nämlich an Kirchen, Tempel, Schreine, Amulette, Weihrauch, Statuen, Prozessionen, Glaubenskämpfe und sonstige Erniedrigungen des Heiligen, dann kann der traditionelle Buddhismus damit locker mithalten. Bevor allerdings der Buddhismus in die Hütten und Paläste Europas einziehen konnte, mussten die christlichen Gespenster erst einmal daraus vertrieben werden.

Das Verschwinden der Götter

Seit Bonifatius die Donar-Eiche um 700 n. Chr., vermutlich sogar von eigener Hand, wohl in der Nähe des hessischen Geismar fällte, ohne dass ihn der Donnergott niederstreckte, hat sich unser religiöses Empfinden sprunghaft geändert. Der Gott, mit dessen Namen unser Donnerstag zusammenhängt, war der Gewitter- und Wettergott der Germanen, also eine Kraft, welche die Fruchtbarkeit der Erde aufrechterhielt. Diese Verbindung von Himmel und Erde, so bewies Bonifatius, brauchen wir nicht mehr; mit Bonifatius’ Untat wurde die spirituelle Verbindung des Menschen mit den Naturgewalten Geschichte. Bis es endgültig so weit war, dauerte es aber noch ein paar hundert Jahre. Zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert war die Christianisierung Europas vom Atlantik bis zum Ural weitgehend abgeschlossen, wenn man einmal von den tapferen Litauern absieht, die erst Ende des 14. Jahrhunderts ans Christenkreuz geschlagen wurden.

Die Einkerkerung Gottes

Wo die Germanen noch das Göttliche in der Natur erkannt hatten, waren seitdem die biblischen Buchstaben zum Gefäß des Heiligen geworden, über das die Mönche wachten und das keinem Profanen mehr zugänglich sein sollte. Man hatte es deshalb nicht nur in die Buchstaben eingekerkert, sondern zusätzlich in die lateinische Sprache, die kaum jemand beherrschte. Damit war das Göttliche außen vor, und die ganz normale Demut des Menschen vor etwas Größerem, Mehr-als-Menschlichem hatte sich in Unterwerfung gewandelt. Bis Luther auftrumpfte und ein bisschen mehr Freiheit schaffte (wie z. B. eigene Auslegung der nunmehr ins Deutsche übersetzten Bibel, Abschaffung der Ablassbriefe und der päpstlichen Autorität, Wahl der Bischöfe von unten). Doch mit den protestantischen Liberalisierungen ging eine Vergötzung der Bibel einher, deren Worte (obwohl von Luther bei seiner Schnellübersetzung des Neuen Testaments innerhalb eines Jahres Flüchtigkeiten zwangsläufig waren) Heiligen-Status erreichten; und dies, obwohl spätestens seit dem 16. Jahrhundert und dem Wissen um den Codex Vaticanus klar war, dass die Bibel keine Niederschrift des Wortes Gottes war, sondern das Ergebnis eines historischen Prozesses.

Nichts wie weg!

Der Protestantismus war aber nicht nur mit einer religiösen Liberalisierung verbunden, er „reinigte“ das Christentum auch von seinem mystischen Beiwerk. Zwar akzeptierte Luther noch die Jungfrauengeburt Mariens, doch schon die Reformatoren Zwingli und Calvin lehnten sie ab. Heidnisch anmutende Praktiken im Katholizismus wie das Räuchern (die Gebete steigen mit dem Rauch zu Gott), die Taufe als Sakrament (geweihtes Wasser reinigt ein Baby von allen Sünden des Menschseins) oder die magische Verwandlung einer Hostie in den Leib Christi während einer katholische Messe wurden aufgegeben. Mystik als innere Gotteserfahrung jenseits des biblischen Worts löste sich in Luft auf. Übrig blieb – von den zahlenmäßig unerheblichen Pietisten, Quäkern und Herrnhutern einmal abgesehen – eine rationale Religion, aber immer noch eine mit eiferndem Wahrheitsanspruch.

Um dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen, verkündete der Vatikan 1870 – Trara! – das Dogma der (theologischen) Unfehlbarkeit des Papstes. Damit war nicht nur festgelegt, dass alle anderen Religionen fehlbar waren, es bedeutete auch, dass eine eigene Meinung in Glaubensfragen dem Katholiken offiziell nicht mehr gestattet war – und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der sich die bürgerliche Gesellschaft etablierte und wissenschaftliches Denken religiöse Wahrheitsansprüche längst in ihre Schranken wies. Schon in der Französischen Revolution war die Trennung von Kirche und Staat gefordert worden (konsequent umgesetzt wurde die Laizität in Frankreich allerdings erst 1905). Waren die Kirchenaustritte im 19. Jahrhundert noch ein Rinnsal, so wurden sie im 21. Jahrhundert ein kirchengefährdender Strom: Im Jahr 2019 traten über 500.000 Menschen aus der katholischen und evangelischen Kirche aus – nichts wie weg. Und ungezählt sind die Millionen, die sich zu einem registrierbaren Kirchenaustritt noch nicht entschlossen, aber mit ihren Konfessionen nichts mehr am Hut haben.

Raum für Neues

Mit anderen Worten: Die Menschen hatten und haben die Nase voll von der spirituellen Bevormundung. Der so geöffnete Raum religiöser Erfahrung lud regelrecht zur Neubesetzung ein. Von Jean Paul Sartre stammt in diesem Zusammenhang der Satz: „Ist einmal die Freiheit in einer Menschenseele erwacht, dann vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.“

Als Erster sprang der persische Adlige Bahá’u’lláh in die Bresche und gründete die Bahai-Religion. Trotz schwerer Verfolgungen im Iran konnten die Bahais weltweit viele Anhänger gewinnen (bis heute ca. 200 Millionen; Deutschland ca. 6.000, Österreich ca. 1.300, Schweiz ca. 1.100). Der Erfolg war kein Wunder, denn die fundamentalen Grundsätze der Bahais hoben (und heben) sich von allen anderen Religionen spektakulär ab:

– alle großen Religionen sind Teil einer fortschreitenden Offenbarung
– alle Menschen sind gleich und sollen friedlich zusammenleben
– Männer und Frauen sollen gleichberechtigt sein
– Wissenschaft und Religion sind vereinbar
– eine vereinte und gerechte Weltordnung ist anzustreben

Eine noch breitere spirituelle Basis bietet der Buddhismus westlicher Prägung (bereinigt von den Riten der asiatischen Volksreligion). Anders als alle anderen Religionen legt er den Menschen nicht neue Formen der äußeren oder inneren Unterdrückung bzw. neues Leid auf, sondern verbreitet in seinen Lehren die mögliche Befreiung von allem Leid. Doch nicht nur dies: Zwar gibt es auch im (östlichen) Buddhismus Götter, aber keinen zentralen Schöpfergott mehr wie im Judentum, Christentum oder Islam. Die buddhistischen Devas (Götter) unterliegen wie alle Wesen dem Kreislauf der Wiedergeburt, können sich irren und sind nicht zwangsläufig erleuchtet.

Das ideale Ziel der spirituellen Entwicklung, die Erleuchtung, erreicht der Buddhist nicht, indem er von oben verordnete Regeln und Rituale befolgt, sondern indem er einen eigenen, inneren Weg geht. Damit bietet sich der Buddhismus als eine religiöse Orientierung für all jene an, die auch in anderen Religionen darauf beharrt hatten (und deshalb höchst unbeliebt waren), dass man mit Gott nur durch einen Weg nach innen in Kontakt kommen könne: so die christlichen Wüstenväter und Wüstenmütter Ägyptens im 3. und 4. Jahrhundert oder berühmte christliche MystikerInnen wie Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Theresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme oder die „modernen“ Simone Weil, Thomas Merton, Pierre Teilhard de Chardin und Willis Jäger, Benediktiner und 87. Nachfolger von Buddha Shakyamuni. Auch die moslemischen Sufisten strebten (und streben) nach einer direkten, inneren Gotteserfahrung jenseits formaler Rituale. Die bei uns berühmtesten Sufi-Dichter sind Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī (bei uns meist nur „Rumi“ genannt) und Hafis, von dem schon Goethe schwärmte.

Millionen machen sich auf einen inneren Weg

Ein bedeutender Wegbereiter des Buddhismus im Westen war der 1898 geborene Ernst Lothar Hoffmann, der spätere Lama Anagarika Govinda, von dem Indira Gandhi Französisch lernte. Er gründete 1933 den international agierenden Orden Arya Maitreya Mandala, dessen Schirmherrschaft der König von Sikkim übernahm, ab 1935 war er Generalsekretär der „International Buddhist University Association“. Govinda führte auf zahlreichen Vortragsreisen in den Buddhismus ein, nicht nur in Deutschland, sondern auch u. a. in den USA, Kanada, Mexiko oder auf den Philippinen. Er starb 1985 in Kalifornien.

Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die zweimonatige Reise der Beatles 1968 nach Rishikesh in Indien, um die Transzendentale Meditation zu erlernen. Die dabei entstandenen Songs wie „Magical Mystery Tour“, „The Fool On The Hill“ oder „Hello, Goodbye“ wurden ebenso Hits wie der Fernsehfilm Magical Mystery Tour. Der gleichnamige Song war mehrere Wochen in den USA und England in den Top-Charts.

Welche aufregenden Wege die neue spirituelle Öffnung gehen kann, dafür ist der Rupert Lay ein gutes Beispiel, der sich unmittelbar nach dem Abitur dem Jesuiten-Orden anschloss und 1960 zum Priester geweiht wurde. Nachdem er sich mit theoretischer Physik, Philosophie und Psychologie beschäftigt hatte, promovierte er über die sogenannten Transzententalien, also Begriffen wie „das Sein“, „die Einheit“, „die Wahrheit“ oder „die Gutheit“. Damit war die geistige Öffnung erreicht, die ihm schlussendlich ein Schreibverbot des Vatikans eintrug – an das er sich nicht hielt. Lay sprach nicht mehr von Gott, sondern vom Göttlichen und von einer „gotthaltigen“ Welt.

Ein anderes beredtes Beispiel ist die Jüdin Ilse Ledermann, die als buddhistische Nonne Ayya Khema bekannt wurde. Nach einer Fluchtgeschichte von Berlin über Glasgow, Shanghai und San Diego und einer vorübergehenden Tätigkeit als Buchhalterin lebte sie mit ihrem Mann in einer spirituellen Gemeinschaft in Mexiko. Nach intensiven Meditationserfahrungen und Umwegen über Australien wurde sie Novizin des buddhistischen Theravada-Ordens in Sri Lanka. 1989 kehrte sie nach Deutschland zurück. Auf ihre Initiative hin entstand schließlich 1997 Metta Vihara, der „Aufenthaltsort der Liebenden Güte“. Er wurde zum Sitz des von ihr  im gleichen Jahr gegründeten Ordens der westlichen Waldklostertradition.

Welchen Sog die fernöstliche Spiritualität entwickelte, zeigte die Bhagwan-Bewegung in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, als Hundertausende sich auf den Weg nach Indien machten, um die Lehren des spirituellen, buddhismusnahen Philosophen Bhagwan Shree Rajneesh, später bekannt als Osho, zu hören. Weniger skandalträchtig als Bhagwan, der von der BILD-Zeitung wegen seiner freimütigen Haltung zum Sex-Guru ernannt wurde, war der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh [sprich: Tik Natan]. Im gelang nicht nur eine für den Westen verständliche Formulierung buddhistischen Lebens; ihm gelang es auch, den neu im Westen aufkeimenden Ökologiegedanken spirituell einzuweben.

Thich Nhat Hanh

Sein entscheidender und inzwischen weithin anerkannter Begriff dafür ist „Interbeing“, die Verwobenheit allen Seins, die ökologische, soziale und spirituelle Verbundenheit aller Wesen und Dinge. Ein typisches Beispiel seines Denkens ist die Meditation über Papier, das weit mehr sei als ein flaches, dünnes, beschreibbares Ding, sondern etwas, das den Regen, die Sonne, den Baum, den Holzfäller und viele andere Elemente, die zu seiner Entstehung beigetragen haben, in sich trägt. Thich Nhat Hanh verstarb 2022 im Alter von 96 Jahren. Zuvor hatte er über 100 Bücher geschrieben, die weltweit in über 40 Sprachen übersetzt wurden und Millionen von Menschen erreichten. Er war Gründer des spirituellen Zentrums Plum Village Frankreich, das jährlich viele tausend Besucher anzieht. Vergleichbare Zentren wurden in über 50 Ländern gegründet, so in Deutschland das Intersein-Zentrum im Bayerischen Wald.