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Von Charles Eisenstein
(viele Übersetzungen seiner Essays auf Charles Eisenstein auf Deutsch)

Eine liebe Freundin hat sich heute an mich gewandt, eine hochgeschätzte Älteste im Way of Council, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich sagte, dass es mir so vorkomme, als beobachte ich einen Zusammenstoß in Zeitlupe, und verspüre dabei dennoch eine eigenartige Heiterkeit, während sich die Katastrophe abspielt. Denn die Zeit, die Fahrer zu beschwören, sie mögen bitte das Lenkrad herumreißen und auf die Bremse treten, ist vorbei. Das haben wir lange Zeit getan, aber sie haben stattdessen beschleunigt, und jetzt ist die schon lang vorausgesehene Kollision unvermeidlich. Tatsächlich passiert sie bereits.

Eines Tages werden alle – Fahrer, Passagiere und Zuschauende – mit einem ernüchterten Blinzeln aus Trümmern und Staub hervorkommen, um die Verletzten zu versorgen und die Toten zu betrauern und zu fragen, was sie nun in ihrer neu gefundenen Freiheit zusammen erschaffen sollen.

Wer weiß, wann dieser Tag kommt. In einer bestimmten Zeitlinie wird es in ungefähr drei Jahren der Fall sein. Diese Zeitlinie hängt davon ab, ob wir als Kollektiv willens sind, eine Information zu akzeptieren und zu integrieren, die alles bisher gemeinsam für wirklich Gehaltene von Grund auf erschüttert. Diese Information wird ein neues Menschheitsdrama unterfüttern, wenn wir uns dafür entscheiden.

Vorhersagen eines beginnenden neuen Kapitels in der Menschheitsgeschichte – wähle ein beliebiges Datum: 2028, oder war das 2012, oder vielleicht die Harmonische Konvergenz 1987 – sind eigentlich keine Vorhersagen, sondern Prophezeiungen. Eine Vorhersage ist objektiv. Sie lässt dem Handeln der Beteiligten keinen Spielraum. Wenn ich den Sieger in einem Fußballspiel vorhersage (das ist mein Nebenjob), setze ich voraus, dass ich keine Möglichkeit habe, das Ergebnis zu beeinflussen. Ich spiele nicht mit. Dagegen wird eine Prophezeiung nur dann wahr, wenn die Leute ihre Entscheidungen an den davon eröffneten Möglichkeiten ausrichten.

Früher habe ich geglaubt, dass der Kollaps uns retten würde. Dass wir damit aufhören würden, die Natur, einander und unsere eigenen Körper zu zerstören, weil wir damit aufhören müssten. Das glaube ich nicht mehr, genauso wenig wie der Aufprall auf einem Tiefpunkt einen Süchtigen retten kann. Der „Tiefpunkt“ ist der Augenblick, wo der Süchtige eine andere Entscheidung trifft. Der Kollaps von zunächst einer, dann immer weiteren Dimensionen seines Lebens – Arbeit, Ehe, Familie, Gesundheit, Freiheit – bietet ihm eine ganze Reihe von Einladungen. Dies sind Augenblicke, wo eine Wahlmöglichkeit zur Verfügung steht, wenn die Dynamik innehält und er vor der Frage steht, ob er bereit ist, einen anderen Weg einzuschlagen. Was für den einen Süchtigen der Tiefpunkt ist, ist für einen anderen vielleicht nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur Hölle.

Unsere Gesellschaft nähert sich genau solch einem Augenblick, solch einem Entscheidungspunkt.

Von unseren vielen kollektiven und individuellen Süchten ist diejenige, von der ich jetzt sprechen werde, die Anhaftung an den Gepflogenheiten des Krieges.

Kriegsmentalität ist nicht Gewaltdurst oder Kampfeslust. Kriegsmentalität ist ein Denkmuster und eine Sehgewohnheit. Sie teilt die Welt ein Wir und Die, Freund und Feind, Held und Schurke. Sie bietet Lösungen im Sinne von Sieg, und Erfolg im Sinne von Gewinn. Sie benutzt Bestrafung und Beschuldigung, Abschreckung und Rechtfertigung, richtig und falsch. Sie macht süchtig, denn wenn sie ein Problem nicht lösen kann, beseht die Lösung in der Erhöhung der Dosis. Sie erweitert sich auf neue Feinde und neue Kämpfe. Wenn kein offensichtlicher Gegner zu finden ist, der an der sich verschlimmernden Lage schuld sein könnte, sucht sie intensiver, um einen zu finden, oder sie erschafft stattdessen selber einen.

Die Lösung, die die Kriegsmentalität für jedes Problem aufzeigt, ist es, das Schlechte zu finden und auszurotten. Diese Lösung lässt sich auf unterschiedliche Gebiete menschlichen Handelns anwenden: Landwirtschaft (töte die Schädlinge), Medizin (finde einen Erreger), Sprache (zensiere böse Begriffe), politische Konflikte (töte die Terroristen), öffentliche Sicherheit (sperre die Kriminellen ein). Komplizierte Probleme, wie die in Amerika weit verbreitete Fentanylsucht oder der Niedergang der Industrie, lassen sich auf einfache, wenn auch vergebliche Lösungen reduzieren, sobald man jemanden findet, dem man die Schuld zuweisen kann. Die Chinesen! Die mexikanischen Kartelle! Diese Vorgehensweise bietet eine gewisse Erleichterung, obgleich sie selten Erfolg hat.

Die desaströse Antwort des Gesundheitswesens auf Corona wurde von Kriegsmentalität gespeist. Nach Jahrzehnten nachlassender Gesundheit und einem Anstieg bei chronischen Erkrankungen, wofür sich kein äußerer Übeltäter ausmachen ließ, hatte man endlich eine Bedrohung, die bestimmt und beherrscht werden konnte. Also wurde die ganze Angst der Bevölkerung auf den neuen schauderhaften, bösen Kerl projiziert. Die Gewohnheit des Finde-den-Feind-Denkens machte die Öffentlichkeit so empfänglich für Strategien, die sich von dumm über absurd bis hin zu tyrannisch erstreckten.

Unsere Führungspersönlichkeiten konstruieren ein Narrativ, das das Böse auf eine bestimmte Person, Nation oder Gruppe festlegt, und das gewohnheitsmäßige Kriegsdenken erledigt den Rest. Schon bald ist die Bevölkerung bereit, Krieg, Zensur, Lockdown, die Aufhebung von bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitzutragen.

Dasselbe grundlegende Denkmuster treibt auch Verschwörungserzählungen an. Wenn wir die Ursache aller Ungerechtigkeiten und Schrecken der Welt auf eine verschwiegene Gruppe von miesen Akteuren, eine psychopathische Clique zurückführen, dann sind unsere Probleme theoretisch leicht lösbar1. Genauso, wie eine Krankheit, die von einem Erreger verursacht wird, durch das Abtöten des Keims geheilt werden soll, könnten wir die Krankheit der Gesellschaft heilen, indem wir die Pathokraten von der Macht fernhielten.

Selbst in Fällen, wo ein Erreger die direkte Ursache ist, müssen wir immer noch fragen, welche Bedingungen den Organismus für diesen Erreger empfänglich machen. Einige in meiner Leserschaft halten mich für naiv, weil ich den Einfluss einer satanischen Clique innerhalb der Machtelite bei der Manipulation des Weltgeschehens unterschätze. Aber für mich ist die wichtigste Frage nicht, ob eine derartige Clique existiert. Es ist das psychosoziale Muster, das es ihr erlaubt, die Oberhand zu behalten – ob sie nun existiert oder nicht.

Dieses Muster ist wiederum die Kriegsmentalität. Es ist die Wir-gegen-Die-Denkweise. Es ist Entmenschlichung und „Othering“, die Aufteilung der Welt in Vollmenschen und Untermenschen. Letztere Kategorie kann die Form von Rassismus, Sexismus, Homophobie und so weiter annehmen, oder schlicht Verachtung für alle, die eine andere Meinung haben.

Sind zwei Seiten erst einmal in die Kriegsmentalität verstrickt, verstärkt sie sich wie eine Sucht, bis alles andere aufgezehrt ist.

Hass und Verachtung sind in der amerikanischen Politik immer mehr außer Kontrolle geraten. Triggerwarnung: Es ist nicht möglich, über dieses Thema zu schreiben und dabei den Narrativen beider Seiten treu zu bleiben. Wenn du vollkommen davon überzeugt bist, dass a) Trump für eine faschistische, oligarchische Vereinnahmung der Demokratie steht, die die übelsten rassistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Elemente der amerikanischen Psyche ausnützt, um alles zu zerstören, was in Amerika gut und menschlich ist, oder b) die MAGA2-Revolution Freiheit und Gesundheit in ein System zurückbringen wird, das von einem Tiefen Staat vereinnahmt worden war, der Umweltschutz und gesellschaftliche Teilhabe als Vorwände für ein totalitäres Kontrollsystem benutzte, oder c) irgendein anderes Narrativ, das die Welt in Team Gut und Team Böse spaltet, ja, dann wirst du verwirrt den Kopf darüber schütteln, dass Eisenstein von allen guten Geistern verlassen ist. Du bist frustriert, sogar wütend, dass ich argumentiere, ohne dabei die Bösen lauthals anzuprangern. Wenn man dem absolut Bösen gegenübersteht, ist doch keine andere Reaktion zulässig, außer es mit allen erforderlichen Mitteln zu bekämpfen.

Wie einfach wäre dann alles. Wie leicht würde man zum Helden der Geschichte.

 

Das höchste Kriegsziel ist es natürlich, den Gegner zu schlagen. Der Unterschied zwischen Krieg und Spielen, Sport, Wettbewerb und – in gewöhnlichen Zeiten – der Politik ist, dass in den letztgenannten Bereichen etwas wichtiger ist als das Gewinnen, nämlich die Spielregeln. Fußballmannschaften versuchen normalerweise nicht, ihre Gegner zu vergiften. Das Spiel selbst ist ihnen heiliger als es zu gewinnen. In einer funktionierenden Demokratie, in der alle Parteien die Verfassung oder einen Kanon von Normen und Werten hochhalten, gibt es bestimmte Tabus, die sie nicht um des Sieges willen verletzen würden. Die Politik in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern steuert immer näher auf einen Krieg zu – unausweichlich, wenn jede Seite die andere als Verkörperung des Bösen betrachtet. Heute sind in meinem Land sowohl die Linke als auch die Rechte ganz sicher, dass die andere Seite „eine Bedrohung für die Demokratie selbst“ darstellt.

In dieser Gewissheit wird jede Seite zu dem, was die andere fürchtet. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die alte politische Elite und die Trump’schen Usurpatoren sind in einem Teufelskreis gefangen. Wenn eine Seite in ihrem absoluten Machtstreben nachlässt und dessen Unbarmherzigkeit aus Respekt vor demokratischen Grundsätzen vermindert, wird die andere Seite dies als Schwäche ausnützen. Sobald eine Seite ihre Skrupel ablegt, müssen das alle Seiten tun. Wenn bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft betrügt, kann die andere nur dann gewinnen, wenn sie auch betrügt.

Im Kampf gegen das Böse ist jedes Mittel gerechtfertigt. Man muss womöglich die Demokratie zerstören, um sie zu retten, die freie Rede unterdrücken, um freie Rede zu bewahren, Wahlen streichen, um das Wählen zu verteidigen. Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Es genügt inzwischen nicht mehr, die Gegner nur bei einer Wahl zu besiegen; sie müssen auch eingekerkert werden. Die Vereinigten Staaten, die Türkei, Frankreich, Brasilien und Rumänien haben jeweils während des vergangenen Jahres oppositionelle Politiker mit fadenscheinigen Anklagen verfolgt, was eine Rückkehr zum historischen Werkzeug signalisiert.

In den Vereinigten Staaten hat der Oppositionspolitiker, Donald Trump, den Klagekrieg überlebt und die Wahl gewonnen. Es fragt sich: Ist das nun ein Sieg für die Demokratie oder einfach ein Sieg für Donald Trump? Wird er die politische Aufrüstung von Bundesbehörden wie dem Justice Department [Justizministerium], IRS [Bundessteuerbehörde], State Department [Außenministerium], CISA [Bundesbehörde für IT-Sicherheit], CIA [Geheimdienst] und FBI [zentrale Sicherheitsbehörde] beenden oder wird er sie lediglich auf neue Zielobjekte ausrichten? Wird er freie Rede und bürgerliche Freiheiten wiederherstellen oder wird er mit den Werkzeugen Zensur und Überwachung neue Feinde ins Visier nehmen?

Wird Donald Trump den Ring der Macht in die „Schicksalsklüfte“ werfen? Oder ist der „Ring“ nur auf andere Hände übergegangen, wobei die Technologie seine Kräfte (Zensur, Propaganda, Überwachung, Konto-Entzug) noch verstärkt?

Tut mir leid, aber es sieht nicht gut aus. Um nur ein Beispiel auszuwählen: „Antisemitismus“ (definiert als jegliche Kritik am Staat Israel) hat „Desinformation“ als Vorwand, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit, den Schutz vor unangemessenen Durchsuchungen und Beschlagnahmungen (Überwachung) und das Recht auf einen ordnungsgemäßen Gerichtsprozess zu missachten, ersetzt. Die Festnahmen von Rumeysa Öztürk und Mahmoud Khalil aufgrund von „Unterstützung der Hamas“ (also Widerstand gegen das Abschlachten, Verhungernlassen und die ethnische Säuberung Gazas durch Israel) sowie der Druck auf Universitäten, die Studentenproteste abzustellen, haben einen eiskalten Präzedenzfall geschaffen.

Trump hat das Land immerhin vom Kriegspfad mit Russland abgewandt, aber er bringt das Land nicht vom Pfad des Krieges ab. Die oberen Ränge seiner Regierung sind von Kriegsmentalität durchdrungen. Statt gegen Russland führt der Kriegspfad nun in Richtung Iran und China.

Die Kriegsmentalität benötigt immer einen Feind. Wenn sich kein Feind anbietet, erschafft sie einen. Die Helden-Nation benötigt einen Schurken. Der Sieger benötigt einen Verlierer. Wenn ich erwarte, dass du auf meine Kosten Profit machen willst, und ich dich dementsprechend behandle, dann wirst du vermutlich meiner Erwartung folgen. Erblicke eine Welt voller Feinde, und es werden Legionen von Feinden auftauchen.

Ich will fair bleiben: Donald Trump ist keineswegs auf Abwegen in seinem Glauben, dass jedermann immer das Beste für sich herausschlagen will. Das ist die Grundannahme der klassischen Wirtschaftswissenschaften, selbst der Evolutionsbiologie, wonach wir von unseren Genen dafür programmiert sind, unsere eigene Fortpflanzung zu maximieren. Diese Paradigmen sind jedoch seit langem überholt. Das eigenständige und vereinzelte Selbst ist ein Prisma, das nur eine Wellenlänge der Regenbogenfarben des Lebens wiedergibt, aber verbirgt, was wir heute dringend erkennen müssen.

Denn die Welt ist so viel mehr als eine Ansammlung von einzeln im Wettbewerb stehenden Wesen; sie besteht aus Vernetzungen und wechselseitigen Abhängigkeiten; Strategien, die sich auf das Wir-gegen-Die-Denken stützen, schaden unweigerlich genauso dem „Wir“ wie dem „Die“. Krieg im Ausland bringt Gewaltherrschaft im Inland. Häusliche Gewalt nimmt zu und spiegelt die auswärtige Gewalt. Umweltzerstörung erzeugt Krankheit bei Menschen. Und jedes Wirtschaftsprogramm, das die Gesamtvernetzung der modernen Ökonomie nicht berücksichtigt, wird auf seinen Urheber zurückfallen.

Gestattet mir eine kurze Abschweifung auf die Ökonomie und Trumps Zölle. Das Konzept hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Vorsichtig geplante Zölle, die schrittweise im Tempo der Anpassung des Gewerbes erhoben werden, könnten zu positiven Zielen beitragen: Wiederbelebung lokaler und regionaler Wirtschaft, Abkehr von der Finanzialisierung der Volkswirtschaft und das Ende vom globalen „Rennen in Richtung Tiefpunkt“, bei dem der Freihandel Arbeiter aus der ganzen Welt gegeneinander in den Ring schickt. Leider sind Trumps abrupte Pauschalzölle weder vorsichtig geplant noch angepasst. Sehr wahrscheinlich werden sie Hunderttausende Geschäfte in den Ruin und Millionen Familien in die Armut treiben, sowohl in den USA als auch im Ausland. Die Zölle werden zunächst sofortige Auslagerungen und langfristig massive Unwirtschaftlichkeit bewirken. Es existieren hier weitere Schwierigkeiten, über die ich noch extra schreiben werde. Was uns momentan interessieren soll, ist, dass der Fehler in der Zollpolitik einem grundlegenden Missverständnis über die gegenseitige Abhängigkeit in der Wirtschaft entstammt, einem Missverständnis, das jedem, der im Wir-gegen-Die-Denken gefangen ist, ganz selbstverständlich passiert.

Aus Beobachtungen meiner Freunde und Bekannten im „inneren Kreis“ schließe ich, dass Trumps Team ernsthaft daran glaubt, dass es selbst die Rechtsstaatlichkeit hochhält, indem es seine politischen Gegner wegen echter Kriminalität verfolgt und korrupten Nichtregierungs-Organisationen (die zufällig auch von seinen politischen Gegnern geleitet werden) die Finanzierung streicht. In der Tat gibt es bei den bestehenden Institutionen jede Menge Kriminalität. Die Behörden, die Trump abbaut, wie USAID, NED [US-amerikanische Denkfabrik für liberale Demokratie] und USIP [US-Friedens-Akademie], haben dabei mitgewirkt, die neoliberale Weltordnung zu festigen und das neokonservative Programm allumfassender Dominanz zum Einsatz zu bringen. Trumps Team sieht sich selbst als Reformatoren, die die Ehre und den Wohlstand der Nation wiederherstellen. „Den Sumpf trockenlegen“ und „Make America Great Again“ sind keine zynischen Schlagworte.

Betäubt von berauschenden Idealen kann das Team Trump nicht sehen, dass sein Programm genauso auf eine andere Beschreibung passt: Machtergreifung.

Wenn sie mit dieser Einschätzung konfrontiert wären, würden einige in Trumps Umfeld ihr wahrscheinlich zustimmen. Sie könnten antworten: „Was haben wir denn für eine Wahl, wo wir doch einem skrupellosen Tiefen Staat gegenüberstehen?“ Ganz ähnlich könnten seine Gegenspieler in einem ehrlichen Augenblick zugeben, dass sie tatsächlich die Gerichte, das FBI usw. gegen Trump und seine Anhänger mobilisiert und alle Arten von Betrug angewandt haben, aber was hatten sie denn für eine Wahl, wo doch eine neofaschistische Bewegung dabei war, das Land zu übernehmen?

Was beide Seiten glauben, ist, dass die andere Seite mehr nach Macht giert als sie die Demokratie wertschätzt. Damit das Spiel jedoch funktioniert und nicht in Krieg abgleitet, muss jede Seite glauben, dass der anderen das Spiel an sich (faire Wahlen, die Verfassung) wichtiger ist als der Sieg im Spiel. Wenn man überzeugt ist, dass die andere Seite betrügt, muss man auch betrügen.

Zweifellos glauben auf beiden Seiten viele, dass das jetzt „vorübergehende Maßnahmen“ sind; dass sie, wenn sie schließlich über die antidemokratischen Kräfte auf der anderen Seite triumphiert haben, dem Volk die Macht wieder überlassen werden. Doch so läuft das nie. Jede Seite glaubt aus gutem Grund, dass ein Sieg der Gegenseite von Dauer sein wird. Deswegen der eskalierende Kampf auf Leben und Tod, der Teufelskreis, der unausweichliche Zusammenstoß.

* * *

Was mich in den letzten zehn Jahren meines Friedensengagements am meisten beunruhigt hat, sind nicht die Aktionen und Einstellungen von Politikern, sondern das Einsickern der Kriegsmentalität in die Gesamtbevölkerung, die anschwellende Flut allgegenwärtigen Hasses. Der ist die Energie, aus der die psychopathischsten Elemente der Oligarchie schöpfen. Er ist ihr Lebensblut. Er ist ihre Kraftquelle. Er ist ihre Herrschaftsgrundlage – indem sie ihre Untertanen gegen einander wendet. (Mit „sie“ meine ich die Oligarchie und nicht die Oligarchen, denn Letztere sind Marionetten der Systemdynamik und damit unabhängig von den Individuen, die ihre Rolle innehaben.) Der Haupttrick in ihrem Werkzeugkasten psychopolitischer Taschenspielerei ist es, die primäre Wut der Enteigneten auf ein falsches Zielobjekt auszurichten, in erster Linie Wut umzuwandeln in Hass. Paradoxerweise gedeiht das System, das die Eliten emporhebt, sogar dann, wenn die Eliten selbst die Hassobjekte sind. Eine Elite kann gegen eine andere ausgetauscht werden, neuer Wein in alten Schläuchen.

Als ich diesen Artikel vorbereitete, habe ich nach persönlichen Geschichten über die Auswirkungen der von der DOGE [neue US-Behörde für effiziente Verwaltung] veranlassten Kürzungen gesucht. Ein Freund stellte mich bei einigen Kleinbauern in einer bestimmten, eher linken Zurück-aufs-Land-Gegend vor. Sie wollten nicht mit mir reden. Eine queere Person dort gab ihrer Furcht Ausdruck, dass sie in Gefahr geraten könnten (ich nehme an, durch meine wutschäumende, transphobische MAGA-Leserschaft). Eine andere, die sich im Autismus-Spektrum verortete, machte sich Sorgen wegen meiner Nähe zu Leuten, die abstruse Theorien über Autismus verursachende Impfstoffe verbreiten. Ich versicherte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten, selbst wenn vielleicht jemand meinen Essay läse, der Furcht und Hass gegenüber queeren Menschen hegt, weil ich ja keinerlei Grund hätte, sie in einem Gespräch über die Auswirkungen der Mittelkürzungen für nachhaltig wirtschaftende Landwirte namentlich zu nennen oder ihre Geschlechtsidentität zu erwähnen. Was das Impfthema angeht, naja, ok, ich glaube in der Tat, dass die Impfungen im Kindesalter zum Teil für den sprunghaften Anstieg von Autismus und chronischen Erkrankungen bei Kindern verantwortlich sind. Aber es gibt keinen Grund, autistische oder sonstwie neurodivergente Menschen an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil: Diese Menschen haben Begabungen, die für den Wandel unserer Gesellschaft unentbehrlich sind.

Aber ich schweife ab. Was hier eigentlich vorging, war, dass mich meine Verbindungen und Meinungen zu bestimmten politisierten Themen als Mitglied der gegnerischen Seite kennzeichneten, der bösen Seite, der unberührbaren Seite. Es ist gewissermaßen „nicht sicher“ sich mir zu nähern. Ich hab‘ nämlich die Krätze, und alle, die mir nahe sind, könnten sie kriegen. Während der McCarthy-Ära konnte es deine Karriere zerstören, wenn du auch nur in Gesellschaft einer Kommunistin gesehen wurdest. Sich unter Hitler mit Juden gemein zu machen, bedeutete auch für dich selbst das Risiko von Inhaftierung oder Schlimmerem. Wenn ein Weißer in der Jim Crow Ära in den Südstaaten nett zu Dunkelhäutigen war, riskierte er, ausgegrenzt oder gar gelyncht zu werden. Es macht Angst, sich mit den gesellschaftlich nicht Salonfähigen zu verbinden, denn ihr Status ist ansteckend. Die Tatsache, dass meine Absicht darin bestand, einige Geschichten vorzustellen, die die Leute aus dem Trump-Beweihräucherungs-Syndrom (Gegenteil des Trump-Gestörtheits-Syndroms) aufwecken könnten, zweifellos ein edles Ziel in den Augen meiner Korrespondentinnen, reichte nicht aus, das Tabu gegen die Verbindung mit einer gesellschaftlich unzulässigen Person zu überwinden.

Dieser immer größer werdende Abgrund in unserer Gesellschaft neigt auch dazu, sich selbst zu verstärken. Hat er genügend Schwung, geht er unaufhaltsam in Richtung Bürgerkrieg oder Völkermord. Ich habe die Chauffeure dieser Fahrzeuge viele Jahre lang angefleht, in eine andere Richtung zu lenken. Jetzt habe ich genug vom Anflehen. Das Drama wird sich von selbst abspielen. Warum habe ich genug davon? Ein Gefühl von Vergeblichkeit und Überdruss. Naja, ich glaube, ich habe noch nicht ganz genug – ich schreibe gerade darüber. Und ich kann mir schon den Hass vorstellen, den ich auslösen werde, indem ich die Narrative beider Seiten verletze: meine „Unfähigkeit, X zu berücksichtigen“, mein „weißes Privileg, das mich gegenüber Y blind macht“, meine „fehlende Bereitschaft, die Realität des Bösen anzuerkennen“, oder dass ich auf Trump hereingefallen bin, oder gekniffen und ihn verraten habe, oder ein feiger Zaungast bin, oder mich dem Luxus des Beidseitismus hingebe … Es geht nicht so weit, dass ich diese Anschuldigungen als persönliche Beleidigung betrachte, aber sie sind ein Alarmsignal dieser Zeit. Wenn ich, ein Friedens-Verkünder, so leicht auf die Stufe des Unberührbaren gestellt werden kann, welche Hoffnung gibt es dann noch für Verständnis oder Versöhnung zwischen den Krieg führenden Blöcken einer Gesellschaft?

Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Letzte Woche habe ich mich von einem weisen Mann beraten lassen, einem meiner spirituellen Führer. Ich verrate seinen Namen nicht, damit ich ihn nicht mit meiner Krätze infiziere. Ich sage nur, dass er aus Afrika stammt und ein hoher Eingeweihter in süd- und westafrikanischen Weisheitsschulen ist, aber auch in der westlichen hermetischen Tradition. Er fixierte mich mit einem durchdringenden, freundlichen Blick und teilte mir mit, dass meine Nebennieren- und Blutzucker-Probleme daher kommen, dass mich meine öffentliche Tätigkeit zu einer Projektionsfigur gemacht hat. Die Angriffe landen auf meinem Körper, sagte er. Ich fragte, was ich tun könne, wenn die Gesellschaft anscheinend verrückt geworden ist. Er antwortete: „Warte ab.“

Diese Anweisung, „Warte ab“, ist kein Aufruf zur Passivität. Es geht darum zu erkennen, wann die Zeit zum Handeln gekommen ist, und wann Handeln vergeblich oder kontraproduktiv wäre. Sie bedeutet ebenso zu erkennen, dass es Kräfte gibt, die weit jenseits unserer eigenen in der Welt wirken. Und sie bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Dramen bis zu ihrem Ende durchgespielt werden müssen, bevor ein neuer Akt beginnen kann. Jetzt ist vielleicht – zumindest für mich – nicht der Zeitpunkt, um Krieg führende Parteien zur Versöhnung zu drängen. Das Drängen trifft auf taube Ohren. Wer Frieden vorschlägt, wird von beiden Seiten als Verräter an der Sache gesehen, denn sobald man die andere Seite als menschlich betrachtet oder anerkennt, dass auch sie eine ehrliche Weltsicht hat, die auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, dämpft dies das Kriegsfieber. Der Hass ist ein notwendiges Werkzeug für Krieg – und ebenso für Politik, wenn die Politik zu Krieg wird.

Was vergeblich ist, wird schnell aufreibend. Vielleicht kann sich erst, wenn die Kriegsparteien sich selbst auch im Wir-gegen-Die-Drama aufgerieben haben, ein neues Drama entfalten – aus Vergebung, Reue und Versöhnung.

Das ist ein herzzerreißender Vorschlag, weil der Preis für die Menschheit ungeheuerlich ist. Die Art von Gewalt, die an Orten wie Palästina, Ruanda, Jugoslawien, Kongo, Irak, Jemen, Uganda, Kambodscha oder Vietnam erlitten wurde und wird, blieb meinem Heimatland lange Zeit erspart, aber wir sind nicht davor gefeit. Etwas Urtümliches und Schreckliches lauert hinter der dünnen Fassade der Zivilisation. Es braucht nicht viel, dass Mord-Impulse aufbrechen. Sie brodeln bereits in den sozialen Medien. Wir unterscheiden uns als Spezies nicht von den Tätern vergangener oder gegenwärtiger Völkermorde. Ich sage damit nicht, dass es in meinem Land sicher geschehen wird, aber es ist bei Weitem nicht sicher, dass es nicht geschehen wird.

In gewissem Sinne geschieht es seit Langem in verdeckter Form. Wie viele Millionen sind gestorben oder haben unendliches Leid erlitten durch Inhaftierung, Gewalt, Missbrauch, Sucht, Depression und chronische Krankheit? Auf langen und gewundenen Pfaden entstammt all dies derselben Grundursache wie offener Krieg und Völkermord. Es kommt von der Reduzierung menschlicher Wesen auf weniger als etwas Heiliges. Doch das alles geschieht unter der Fassade von Normalität. Diese Fassade wird in den nächsten drei Jahren fallen.

Der Zerfall von Normalität ist letztendlich etwas Gutes. Wenn sich der Staub gelegt hat, werden wir inmitten der Ruinen unseres Gefängnisses stehen und voller neuer Fragen sein.

Dann können wir sehen, dass die Spaltung der Welt in Wir und Die sowie die Schulddiagnose, die diese Spaltung begleitet, gescheitert sind. Wir werden sehen, dass Krieg keinen Frieden gebracht hat, Hass keine Gerechtigkeit, Dominanz keine Sicherheit und Herrschaft keine Freiheit. Dieses Scheitern von Zielsetzungen wird der Abglanz eines tieferen Scheiterns sein, des Scheiterns von Verständnis. Die Sichtweisen, mit denen wir bisher die Welt mit Sinn erfüllten, werden keinen Sinn mehr ergeben. Werden wir die Stärke aufbringen, lange genug im Staunen zu verharren, bis uns ein neues Verständnis erwächst? Oder werden wir aus Angst in eine neue Variante der alten Geschichte springen und die alten Schurken durch einen Satz neuer Schurken ersetzen, ein neues Wir und ein neues Die, um dasselbe Drama noch einmal auf die Bühne zu bringen?

Übersetzt und korrekturgelesen von Ingrid Suprayan und Bobby Langer. Die englische Originalfassung dieses Essays vom 06. April 2025 – “When Politics Vecomes War” – findest du hier.

 

Dieser Essay von Fabiana Fondevila ist Teil der Anthologie “Frieden mit der Natur – 19 Annäherungen”, die kürzlich zum 40-jährigen Bestehen des Verlags NEUE ERDE erschien. Alle Texte gehen davon aus, dass es unter den Menschen erst Frieden geben wird, wenn wir als Menschheit Frieden schließen mit der Natur.

Fabiana beschreibt, wie sehr ein Besuch in den Regenwäldern Costa Ricas ihre Naturwahrnehmung verstärkt und vertieft hat: „Um genau zu sein, hatte der Dschungel die Lautstärke eines inneren Dialogs erhöht, den ich schon mein ganzes Leben lang führe.“ Über die Biophilie, die Liebe zum Leben, führen ihre Gedanken zur Biopraxis, …“egal, wo wir leben – in der üppigen Wildnis des Dschungels oder auf einer belebten Straße in der Stadt – wir können uns selbst zu Lebensaktivisten erheben und unsere eigene Agenda festlegen“.

Zum Essay „Von Verwaltern des Lebens zu Lebensaktivisten“.
(Alle bereits online stehenden Essays findest du unter https://www.ökoligenta.de/category/frieden-mit-der-natur.)

Lohnenswert für alle, die erfahren möchten, wie wir gemeinsam die Erde transformieren können, ist der kostenfreie Online-Kongress „Frieden mit der Natur – Gemeinsam für eine Neue Erde“ am 25.10.2024

 

Eine wirkungsvolle Abwendung der Klimakrise und des Artensterbens ist mit den bestehenden juristischen und politischen Möglichkeiten unerreichbar. Wälder, Flüsse, Tierarten sowie ganze Ökosysteme sollten Rechtspersonen sein, die juristisch in eigenem Namen auftreten und Klage führen können.

Jedoch sind der bedrohte Schweinswal in der Ostsee oder die ausbleibenden Wildbienen im Schwarzwald vor Gericht bis heute nur eine Sache, die keine eigenen Rechte hat. Weil nur Menschen Rechte haben können? Wieso ist dann ein Kapitalunternehmen eine Rechtsperson, aber ein Wald mit seiner lebendigen Vielfalt und seiner Bedeutung für uns Menschen oder für denkende Wesen wie Wal, Hund oder Schimpanse jedoch nicht? Eine Tierart oder ein Ökosystem erfüllen nicht nur „Dienstleistungen“ für den Menschen, sie haben einen Wert und sogar eine Würde an sich. Dennoch unterliegen sie regelmäßig einseitigen menschlichen Interessen; ob die Alpentäler, der Vogel des Jahres, der Amazonas, Korallenriffe… es scheint heute absurd, dass sie ihr Recht auf Leben juristisch nicht einfordern können.

Unterstütze die Forderung „Die Rechte der Natur anerkennen und durchsetzen“ des Netzwerkes Rechte der Natur auf ABSTIMMUNG21 [dort zuerst anmelden, dann den Button „Hier kommen Sie zur Themenwahl“ anklicken und im Suchfeld unter „Themenvorschläge“ eingeben: „Rechte der Natur“| Alternativ: Diesen Dateipfad in den Browser eingeben: www.abstimmung21-mitmachen.de/proposals/163-die-rechte-der-natur-anerkennen-und-durchsetzen]

ABSTIMMUNG21 organisiert bundesweite Volksabstimmungen zu brennenden Fragen der Zeit einfach selbst – bis Abstimmungen auf Bundesebene gesetzlich verankert sind.

Weitere Informationen über das Netzwerk Rechte der Natur und der Forderung finden Sie auch unter www.rechte-der-natur.de sowie auf der Seite von Abstimmung21 im obenstehenden Link.

Und in den sozialen Medien:
FACEBOOK: www.facebook.com/netzwerk.rechtedernatur
INSTAGRAM: www.instagram.com/rechtedernatur
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X: www.x.com/DerNatur83338

Als politischer Dissident in der Tschechoslowakei machte sich Václav Havel eine scharfe strategische Erkenntnis zu eigen, die ihm sein Kollege Václav Benda vermittelt hatte. Wie kann man die Menschenwürde und die politische Handlungsfähigkeit für ernsthafte Veränderungen fördern, während man „innerhalb der Lüge“ eines totalisierenden politischen Systems lebt – in seinem Fall des kommunistischen Staates?

Havel beklagte „die irrationale Eigendynamik der anonymen, unpersönlichen und unmenschlichen Macht“ und argumentierte, dass die Menschen eine parallele Polis schaffen müssten. Da Havel das Engagement der Bürger gegenüber dem Staat als vergeblich oder enttäuschend bescheiden ansah, plädierte er für die Schaffung von „informierten, unbürokratischen, dynamischen und offenen Gemeinschaften“.

Diese wurden als Ausweg aus der Sackgasse betrachtet, da sie als eine Art entstehende Parallelwirtschaft und präfigurative Gesellschaftsordnung fungieren könnten. Eine parallele Polis könnte einen Raum bieten, in dem gewöhnliche Menschen, die von einem unterdrückerischen System bedrängt werden, moralisches Handeln und Wahrheit geltend machen können.

Sie könnten ihr Engagement für soziale Solidarität trotz eines äußerst feindseligen Umfelds in die Tat umsetzen. Schon der Prozess des Aufbaus einer parallelen Polis könnte dazu beitragen, Vertrauen, Offenheit, Verantwortung, Solidarität und Liebe im öffentlichen Leben wiederherzustellen.

Ich glaube, dass das Bestreben, ein Commonsverse aufzubauen – ein stückweises, noch im Entstehen begriffenes Unterfangen –, dem Bestreben ähnelt, eine parallele Polis aufzubauen. Es geht darum, gesunde Werte und verschiedene Arten des Seins, des Wissens und des Handelns zu ehren.

Da wir innerhalb der Normen und Institutionen der kapitalistischen politischen Ökonomie auf globaler Ebene leben, bietet das Commoning den Menschen Möglichkeiten, ein gewisses Maß an Selbstbestimmung und Autonomie gegenüber den kapitalistischen Märkten und der staatlichen Macht zu behaupten.

Von Gleichgesinnten betriebene, sozial konviviale Modelle der Versorgung und Verwaltung bieten wichtige „sichere Räume“ für die Entfaltung einer gesünderen kulturellen Ethik jenseits von transaktionalem Individualismus, materiellem Eigeninteresse und Kapitalakkumulation.

Obwohl Commoning nicht direkt politisch ist – es konzentriert sich in der Regel mehr auf die Befriedigung spezifischer existenzieller Bedürfnisse und den Schutz gemeinsamen Reichtums (Land, Wasser, Softwarecode, kreative Werke) -, läuft es häufig auf eine indirekte Form politischen Handelns hinaus.

Die Existenz von Allmendegütern ist oft ein stiller moralischer Vorwurf an das herrschende System. Sie bekräftigt, dass andere, sozial konstruktivere Wege der Bedürfnisbefriedigung möglich sind. Sie macht eine organisierte Gruppe von Menschen mit strukturell ehrgeizigen Zielen sichtbar.

Der Commons-Diskurs, wie er von verschiedenen transnationalen Netzwerken des Commoning propagiert wird, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf neuartige praktische Lösungen.

Der Aufstieg der Open-Source-Software in den späten 1990er Jahren ist trotz ihrer winzigen Größe und des Fehlens konventioneller Finanzmittel ein solches Beispiel. Open Source (oder genauer gesagt sein Vorläufer „freie Software“3) stellte eine ernsthafte moralische und marktwirtschaftliche Herausforderung für die Vorherrschaft von Microsoft dar, die schließlich ein robustes neues Paradigma der offenen und gemeinschaftlichen Softwareentwicklung hervorbrachte.

In ähnlicher Weise provozierte der Aufstieg lokaler ökologischer Lebensmittelsysteme in den 1980er und 1990er Jahren eindringliche Fragen zu den Pathologien des industriellen Lebensmittelsystems, wie z. B. dessen Abhängigkeit von Monokulturen, Pestiziden und gentechnisch verändertem Saatgut sowie von Praktiken, die den fruchtbaren Boden ausbeuten.

Im Laufe der Zeit hat diese einheimische, lokal ausgerichtete Bewegung die Agrarökologie, die Permakultur, die gemeinschaftsgestützte Landwirtschaft und die Slow-Food-Bewegung hervorgebracht.

Diese Bemühungen zielen alle darauf ab, den gemeinsamen Reichtum (Land, Lebensmittel, Code) mit Sorgfalt und ganzheitlicher Aufmerksamkeit zu verwalten. Sie versuchen, dem Reichtum seinen Warencharakter zu nehmen, um seine Unabhängigkeit von der Finanzwirtschaft und den kapitalgesteuerten Märkten zu gewährleisten.

Sie wollen die Menschen in die Lage versetzen, ihre eigenen Versorgungssysteme zu verwalten, wobei sie den Schwerpunkt auf Zugang, Transparenz und Fairness legen.

Heute trägt das Commonsverse diese Agenda in einem breiteren Rahmen in viele weitere Bereiche des Wandels. Die Commons werfen nicht nur tiefgreifende Fragen zur Markt-/Staatsordnung und zum neoliberalen Kapitalismus in verschiedenen Bereichen auf (Landwirtschaft, Städte, Cyberspace, Wälder, Wasser, Ozeane), sondern bieten auch eine Vision und ein Arsenal an Instrumenten für den Aufbau funktionierender Alternativen.

Zeitgenössisches Commoning ist bedeutsam, weil es sich auf einer zellulären Ebene der Kultur, vor Ort, in den Herzen und Köpfen der Menschen entfaltet. Es dient als Raum, in dem die Bestrebungen und die Vorstellungskraft der Menschen angeregt werden und sich ihre Subjektivität und kulturellen Zugehörigkeiten verändern.

Manuela Zechners Bericht über selbstverwaltete Nachbarschaftsräume in Barcelona weist auf „radikalere, kontinuierliche und kollektive Modalitäten der Beteiligung“ hin, als die Stadtverwaltung im Allgemeinen fördert oder zulässt.

Unter der Stadtverwaltung von Barcelona en Comú sind autonome Nachbarschaftsgruppen nun berechtigt, ihre eigenen Projekte (Gebäude, soziale Dienste, Informationsbeschaffung) mit Unterstützung der Stadt und rechtlicher Anerkennung zu verwalten. Aktivistengruppen und Bürgervereinigungen verwalten auch La Borda, eine große Wohnungsbaugenossenschaft, die Konzertsäle, Werkstätten, ein Bibliotheksarchiv, eine Bar und ein Unterstützungszentrum als Gemeingüter verwaltet.

Durch diese Übertragung von Befugnissen und Verantwortung werden nicht nur die materiellen oder politischen Bedürfnisse der Menschen befriedigt, sondern auch ihre kreative Handlungsfähigkeit, ihr Gefühl der Kontrolle, ihre Würde und ihre kulturellen Bereiche in einer Weise gestärkt, die von der herkömmlichen Politik und Bürokratie oft ignoriert wird.

Wie solche Beispiele zeigen, kann Commoning eine wichtige Quelle für soziale Innovation sein. Die engen „politisch-ontologischen Grundlagen“ der neoliberalen Institutionen sind genau das, was sie daran hindert, kreative Energien, soziale Zusammenarbeit und Bürgerinitiative zu mobilisieren.

Staatliche Institutionen neigen dazu, einen strikten Instrumentalismus, quantitative Messgrößen und marktorientierte Interventionen zu bevorzugen, was erklärt, warum sie so viele „Projekte mit leerem Herzen“ hervorbringen … „Präfigurative Initiativen“ wie das Commoning „bleiben unterhalb des Radars der Anerkennung und Unterstützung“.

Gibt es einen konstruktiven Weg, diese Schwierigkeiten zu überwinden? Koen P.R. Bartels plädiert für die Entwicklung von „relationalen Ökosystemen“ der Allmende als einen Weg, der neoliberale Institutionen von ihren eigenen hegemonialen Vorurteilen befreien könnte.

Durch die Förderung von Gemeingütern könnte der Staat damit beginnen, die tatsächlichen Gefühle, Erfahrungen, Talente und Bestrebungen der Menschen zu ihren eigenen Bedingungen anzuerkennen, und auf diese Weise dazu beitragen, konstruktive soziale Innovationen anzuregen.

Die große Herausforderung könnte darin bestehen, die Beziehungsdynamik des Commoning als konstruktive soziale Kraft besser sichtbar zu machen. Catherine Durose und ihre Mitautoren bieten einige ausgezeichnete Vorschläge an, beginnend mit der Notwendigkeit, „die Mikropraktiken des Commoning besser zu verstehen“ und „wie lokale Akteure zur urbanen Transformation beitragen können“.

Wie in den obigen Beispielen sind auch hier die Mikropraktiken und das Gefühlsleben des Commoning für Sozialwissenschaftler, Politiker und Regierungsbeamte oft unergründlich. Sie erkennen in der Regel nicht, dass Praxisgemeinschaften ein sehr nuanciertes, realistisches und sogar tiefgreifendes Verständnis ihrer Probleme und möglichen Lösungen haben können.

Das Problem ist, dass ihr Erfahrungswissen, das nicht theoretisch ist und nicht von Experten stammt, oft als unzureichend fachkundig, zu quantitativ oder nicht mit den Verwaltungssystemen kongruent abgetan wird.

Die tatsächlichen Befugnisse des Commoning werden in der Theorie nicht anerkannt und sind daher eher unsichtbar. Wir täten gut daran, uns an Elinor Ostroms trockene Feststellung zu erinnern, dass „ein Ressourcenarrangement, das in der Praxis funktioniert, auch in der Theorie funktionieren kann“.

Um die Entwicklung geeigneterer „Theorien“ über Gemeingüter zu beschleunigen, machen Durose et al. einen wertvollen Vorschlag, indem sie zu einem „größeren systemischen Vergleich“ von Gemeingüterpraktiken aufrufen, zusammen mit einer besseren fortlaufenden Interpretation der Feldarbeit, die dabei zutage tritt.

Eine neue Sichtbarkeit von Commons-Projekten, von Fall zu Fall, wird mit der Zeit die Theorien und den Diskurs über das Commoning stärken. Der Aufruf von Durose et al. zu einem „Wissensmyzel“ ist zeitgemäß und wichtig. Ein kollaboratives Netzwerk zur Angleichung des Wissens über Commoning in Praxis und Theorie würde das Commonsverse sicherlich sichtbarer machen.

Es würde auch dazu beitragen, die blinden Flecken in der Wahrnehmung neoliberaler Institutionen und Politik aufzudecken und neue Perspektiven für Untersuchungen und Innovationen in der öffentlichen Verwaltung zu eröffnen.

Für den Moment möchte ich nur den grundlegenden Punkt unterstreichen, dass jegliche Veränderungen im demokratischen Gemeinwesen und in der Politik auf der Mikroebene der alltäglichen Praxis und Kultur ansetzen müssen. Dies ist eine der wichtigsten Lehren aus den Occupy-Lagern im Jahr 2011, den Protesten auf öffentlichen Plätzen in Ägypten, Tunesien und der Türkei sowie der wachsenden Klimaschutzbewegung.

Es wird immer wichtiger zu erkennen, dass politischer Wandel nicht ohne persönliche, erfahrungsbasierte Bewusstseinsveränderungen stattfinden wird.

Wie Manuela Zechner darlegt, führen mikropolitische Bestrebungen zu neuen Weltanschauungen, und diese persönlichen Veränderungen verzweigen sich im Laufe der Zeit nach außen und finden ihren Ausdruck auf der Makroebene der Gesellschaft – im Recht, im institutionellen Leben und in der Konfiguration der staatlichen Macht.

Commoning dient bereits als Vehikel für größere gesellschaftliche Veränderungen, wie sie in sozialen Vereinigungen zu beobachten sind, die normalerweise nicht miteinander verbunden sind:

  • Nachbarschaften und Netzwerke gegenseitiger Hilfe, Online-Communities und Open-Source-Design- und Produktionsnetzwerke („kosmolokale Produktion“);
  • agrarökologische Projekte und gemeinschaftliche Landtreuhänderschaften; Komplementärwährungen und gegenseitige Kreditsysteme;
  • digitale autonome Organisationen und Plattform-Kooperativen;
  • das „Engagement-Pooling“ indigener Völker
  • und von Hacker-Gemeinschaften geschaffene Online-Infrastrukturen.

Diese kooperativen Sozialformen, die auf den unterschiedlichsten Schauplätzen agieren, verändern die Alltagssubjektivität der Menschen und damit auch ihre Vorstellungen von sozialem und politischem Wandel.

In diesem Sinne entfalten sich vor unseren Augen bereits neue Formen demokratischer Möglichkeiten…

[Originalartikel: What might a parallel polis feel like? David Bollier’s idea of a “commonsverse” – a world in which commons are viable & valued – could tell us]

Vielen Bürgern ist nicht bewusst, welche enormen Treibhausgas-Einsparungen notwendig wären, um die Erderwärmung zumindest auf ein akzeptables Maß zu begrenzen. In Deutschland liegt der durchschnittliche CO2 Pro-Kopf-Verbrauch bei ca. 10 Tonnen im Jahr. Tatsächlich müsste der Verbrauch weniger als 2 Tonnen betragen, d.h. der Energieverbrauch jedes Einzelnen von uns müsste um ca. 80 Prozent sinken.

Was lässt sich also tun?

Politik, Industrie, Gesellschaft – oder die Diffusion von Verantwortung

 

Die Politik kann es nicht richten, die Industrie will es nicht richten, und wir Bürger sehen uns vor einer unlösbaren Aufgabe aufgrund der Größe des Problems.

 

Warum ist dies so?

Von Seiten der Politik betrachtet:

Wer wiedergewählt werden will, ist auf Massenzustimmung der Bevölkerung angewiesen. Verbote und Zwänge finden deshalb keine gesellschaftliche Mehrheit. Außerdem sind Wirtschaft und Politik eng miteinander verflochten. Eine Regierung ist ferner massiv von einer gut funktionierenden Wirtschaft abhängig, die keine zusätzlichen Aufwände für Klimaschutz will. Politik ist in Sachzwängen verhaftet und unterstützt vornehmlich ihre wirkmächtigste Klientel. Wirklich wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel bedeuten politischen Selbstmord.

Von Seiten der Industrie betrachtet:

Das primäre Ziel der Industrie ist Wachstum und Profit, nicht Klimaschutz. Ein Umbau der Produktion, hin zu klimafreundlichen Prozessen bedeutet zunächst Investitionen, die die Wettbewerbsfähigkeit negativ (z.B. gegenüber den USA und China) beeinflussen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor: Inwieweit sind die Konsumenten gewillt, für echte CO2-freie Produkte einen höheren Preis zu akzeptieren.
Die mit Erdöl und Erdgas arbeitende Industrie wird zurzeit doppelt gefördert:

  • Sie muss für die Folgekosten der verursachten Schäden nicht bezahlen
  • Sie erhält umfangreiche Subventionen

Welche Unternehmen würden freiwillig unwirtschaftliche Entscheidungen treffen und dadurch einen Wettbewerbsnachteil riskieren?

Welche Rolle spielen wir Konsumenten?

Betreffen die erforderlichen Klimaschutz-Maßnahmen die persönliche Komfortzone (oder den eigenen Geldbeutel), nimmt die Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen dramatisch ab. Zudem ist der Einfluss des Einzelnen sehr begrenzt, und führt daher schnell zur Resignation. Auch der Effekt der Abnutzung spielt eine Rolle. Immer wiederkehrenden Katastrophenmeldungen führen zu einer Gewöhnung, und irgendwann hört man nicht mehr zu. Darüber hinaus schmelzen die Gletscher ja nicht in unseren Vorgärten und die untergehenden Inseln in der Karibik sind weit weg. Doch ist die Umwelt- und Klimakrise die zentrale Bedrohung des künftigen Wohlstands. Vom Wegschauen hat sich aber noch selten ein Problem gelöst. Ebenso wenig hilft Wunschdenken weiter à la: Der Markt wird schon die richtigen Technologien zur Lösung der Erderwärmung entwickeln. Neue Techniken tauchen nicht einfach aus dem Nichts auf, um dann zeitgerecht unsere Probleme zu lösen.

Ein möglicher Gamechanger in der Klimapolitik

Unterschiedlichste Zielkonflikte, ökologisches Bewusstsein und ökonomische Zwänge, Eigennutz und Moral sowie die Unschärfe gesellschaftlicher Verantwortung bilden einen Teufelskreis. Klimaschutz darf daher nicht der Freiwilligkeit des Einzelnen, der Industrie oder den Regierungen von Staaten überlassen werden.

Eine Lösung des Problems ist nur denkbar, wenn marktwirtschaftliche Gesetze im Einklang mit ökologischer Nachhaltigkeit funktionieren. Möglich wird dies durch ein System, das nach dem Verursacherprinzip die kleinste Einheit am Markt berücksichtigt, nämlich den Konsumenten. Denn er hat eine enorme Steuerungswirkung auf die Produktionsprozesse der Industrie. Ein solches System könnte mittels eines ökologischen Grundeinkommens die Macht und das Steuerungspotential für Klimaschutz komplett in die Verantwortung aller Bürger legen – mehr dazu am Ende des Artikels.

Wir leben alle innerhalb desselben Systemdesigns, das den gegenwärtigen Zustand unserer Mitwelt ermöglichte. Deshalb müssen wir als Gesellschaft auch wieder gemeinsam aus der Krise herausfinden, und zwar ohne jemanden dabei abzuhängen. Die Frage nach mehr oder weniger Schuld hilft dabei nicht weiter. Wir müssen die generellen Spielregeln ändern. Dazu braucht es einen Paradigmenwechsel – einen systemischen Ansatz, der all die teils sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten, individuellen Konsumpräferenzen und Interessenkonflikte der Menschen berücksichtigt, und nur so weit regulierend eingreift, wie absolut unerlässlich ist.

Zu schaffen ist ein Modell ökologischer Leitplanken, in dem jeder Bürger mittels persönlicher Emissionsbudgets selbst darüber entscheiden kann, wie er Klimaschutz in sein Leben integriert – und nicht ob. Und überdies ein Maximum an persönlicher Konsumentscheidungsfreiheit ermöglicht, allerdings innerhalb ganz klar gesteckter ökologischer Grenzen für alle. Ein solches Konzept entbindet die Politik von der Notwendigkeit, kleinteilige und oft unpopuläre ordnungsrechtliche Maßnahmen erlassen, umsetzen und kontrollieren zu müssen

Emissionsminderung – „too little and too late“

Mit den gängigen Werkzeugen EU-Emissionshandel und CO2-Steuer werden wir das Klimaziel voraussichtlich verfehlen. Die Wunschvorstellung, über Geldpreissignale die erforderlichen Verhaltensänderungen bei den Konsumenten zu bewirken, ist krachend gescheitert. Das was durch die enormen Preissteigerungen an den Tankstellen und beim Heizen tatsächlich an Emissionen eingespart wurde, bewegt sich leider nur im einstelligen Prozentbereich. Wie sollte es auch über Verteuerungen funktionieren können?! Schließlich stehen uns Verbrauchern nicht annähernd in ausreichendem Maße klimaneutrale Konsum- und Mobilitätsalternativen zur Verfügung.
Darüber hinaus ist der Weg, Klimapolitik über Konsumverteuerung zu gestalten, aus verschiedenen weiteren Gründen nicht zielführend. Zum einen unterliegt man der irrigen Annahme, dass ein höherer Preis automatisch auch in gleichem Maße die Nachfrage reduziert. Die Lenkungswirkung eines höheren Geldpreises ist unzureichend, weil es den Effekt der Preiselastizität gibt. Nach den eisernen Gesetzen des Marktes führt normalerweise ein Ansteigen des Preises zu einer verringerten Nachfrage – jedoch bei weitem nicht in gleichem Maße. Die Bürger zahlen die Aufschläge zwar widerwillig, aber sie zahlen sie – notgedrungen. Deshalb trifft es auch beim Klima nicht zu, dass sich durch Verteuerungsmaßnahmen die (Über)Nutzung der Atmosphäre mit klimaschädlichen Gasen in ausreichendem Umfang verringern, geschweige denn limitieren ließe. Denn ein jeder kann grundsätzlich nach wie vor unbegrenzt emittieren, einzig die Kosten dafür erhöhen sich. Es fehlt eine konkrete Verknappung der Emissionen durch Budgetierung!

Warum man die Klimakrise nicht innerhalb des Geldsystems lösen kann

Unser herkömmliches Geld alleine ist ungeeignet, die Belastung der Ökosysteme durch unseren Konsum transparent abzubilden. Denn es gibt viele Produkte in unserer modernen Konsumgesellschaft, die zwar ökonomisch sehr günstig herzustellen sind, und folglich auch billig verkauft werden, deren Herstellung oder Betrieb aber mit hohen Umweltkosten verbunden sind. Solange unsere Konsumgüter nicht generell klimaneutral produziert werden, veranschaulicht die vereinfachte Gleichung „mehr Geld = mehr Emissionen“ die allgegenwärtige Klima- bzw. Emissionsungerechtigkeit zwischen Arm und Reich. Dennoch nutzen Verteuerungen im Kampf gegen den Klimawandel wenig. Denn eingespartes Geld an der einen Stelle wird in der Regel an anderer Stelle wieder ausgegeben – z.B. für einen zusätzlichen Urlaub (Rebound-Effekt). Auch deshalb ist es unerlässlich, wirksamen Klimaschutz bzw. unsere konsumbedingten Emissionen vom Geldsystem abzukoppeln – beispielsweise durch eine komplementäre Klimawährung!

Nationalstaatliche Interessen mit globalen Notwendigkeiten vereinbaren

Die Umweltbelastungen drastisch zu reduzieren um planetare Grenzen einzuhalten, ist keine Wahlmöglichkeit, sondern eine zwingende Notwendigkeit. Es braucht also ein Modell, das nationalstaatliche Interessen mit globalen Notwendigkeiten vereinbaren kann. Eine wirkungsvolle und zugleich sozial-gerechte Alternative könnte ein Vorschlag der NGO SaveClimate.Earth sein. Deren Lösungsvorschlag besteht darin, ein konsequent verursacherbasiertes System auf Konsumentenebe zu etablieren. Persönliche handelbare CO2-Budgets und das daraus resultierende veränderte Kaufverhalten baut den notwendigen Veränderungsdruck auf die Wirtschaft auf, ihre Produktionsprozesse immer nachhaltiger zu gestalten, denn die Industrie produziert das, was wir mit unseren begrenzten Budgets kaufen (können). Ein solches System erlaubt uns, auf ökologische Herausforderungen zügig und angemessen zu reagieren.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel …

  • der Treibhausgase im Zusammenhang mit unserem Konsum zugleich lückenlos erfasst, transparent abbildet, und gerecht abrechnet
  • hin zu einem System, bei dem der Einzelne frei über sein Konsumverhalten entscheiden kann, allerdings innerhalb klar gesteckter Grenzen für alle
  • der ein punktgenaues und flexibles Erreichen des Klimaziels garantiert
    hin zu einem Modell, das administrativ relativ unaufwändig ist, und darüber hinaus zur Verringerung der sozialen Ungleichheit beiträgt
  • weg von Maßnahmen die überwiegend auf Verteuerung bzw. Einschränkung und Verzicht setzen, überwiegend einkommensschwächere Haushalte überproportional betreffen, und die inländische emissionsintensive Industrie ins Ausland vertreiben, wo weniger strenge Umweltauflagen gelten
  • weg von kleinteiligen oft unpopulären Maßnahmen, hin zu persönlichen handelbaren Emissionsbudgets

 

Die politischen Debatten über Regelungen bis ins kleinste Detail könnten entfallen, da die Konsumenten durch ihre Kaufentscheidungen, auf Basis günstigerer ökologischer Preise, die notwendigen Transformationsprozesse in der Wirtschaft auslösen und unterstützen.
Denn durch den marktwirtschaftlichen Ansatz einer vom Geldsystem entkoppelten Klimawährung kommen automatisch die am besten geeigneten Methoden bzw. Techniken zur Anwendung, die mit dem geringsten Aufwand die beste Emissionsreduktion bewirken. Und dies ohne die Notwendigkeit zusätzlicher Verteuerungen bzw. staatlicher oder ordnungsrechtlicher Interventionen.

 

Die NGO SaveClimate.Earth, Organisation für nachhaltige Ökonomie, hat zu handelbaren persönlichen Emissionsbudgets ein Konzept ausgearbeitet, das Initial auf EU-Ebene eingeführt werden könnte.

 

Es gibt Antworten darauf,

  • wieso ein Emissionshandel auf Bürger-Ebene dem Zertifikatehandel der Industrie und der CO2-Steuer überlegen ist.
  • wie persönliche handelbare Emissionsbudgets der effektive und sozial-gerechte Gegenentwurf zu allen aktuellen Maßnahmen sein könnten und wir so ein festgelegtes Emissionsziel garantiert einhalten können.
  • wie die Etablierung einer komplementären Ressourcenwährung ECO (Earth Carbon Obligation) als globales CO2-Äquivalent aussehen könnte.
  • wie die monatliche Auszahlung des ECO als ökologisches Grundeinkommen in Form eines persönlichen handelbaren CO2-Budgets funktioniert.
  • wie ein separates Emissionspreisschild in der Klimawährung ECO dafür sorgt, dass die Klimaschädlichkeit von Produkten miteinander vergleichbar wird.
  • wie wir unseren individuellen CO2-Konsum über ein eigenes Klimakonto bezahlen könnten.

 

 

Das Buch zum Konzept der Klimawährung ECO ist im Oekom Verlag erschienen und kann kostenlos als E-Book heruntergeladen werden.

 

 

 

Manchmal, wenn ich ganz allein bin mit mir in der Natur – und das können Augenblicke sein –, empfinde ich eine so herzliche Verwandtschaft mit dem Leben um mich, dass ich es umarmen möchte, wie man das eben mit Freunden tut. Dann kann ich schon mal meine Brust an einen Baumstamm drücken und mein Anderssein vergessen, aber dann kommt das Schlimme: Eine Scham steigt in mir auf. Wie kann ich als Erwachsener, als Mensch, einen Baum umarmen! Ist das nicht kitschig?

Zwei schwierige Fragen

Nein, ist es nicht, im Gegenteil. Kitsch ist das Nachgemachte, Unechte. Im Gefühl der Verbundenheit mit der Natur flammt die Erkenntnis auf, dass aus ihr die Quelle unserer Existenz entspringt. Letztlich müsste der Aufruf lauten: Nicht zurück zur, sondern zurück in die Natur! Nur: Wie kann man an einen Ort zurückkehren, an dem man sich ohnehin befindet?

Nötig ist die Forderung „Zurück in die Natur“ geworden, weil wir uns schon vor Jahrhunderten von der Natur verabschiedet haben, auf dass wir sie uns nach Belieben unterwerfen können. Aber kann man etwas unterwerfen, das man selbst ist? Ja, offenbar kann man das; es gelingt, indem man sich geistig-seelisch zweiteilt, eine innerpsychische, kulturelle Schizophrenie herstellt, „die Natur“ als das Fremde abspaltet – und modern wird.

Was wäre ein Fluss ohne Mündung?

„Zurück in die Natur“ bedeutet, die Perspektive wechseln: Nicht die Natur ist für mich da, sondern ich bin für die Natur da oder, noch richtiger für mich: Wir sind einander geschenkt. Ob ich es will und begreife oder nicht, ich reihe mich ein in Ebbe und Flut der Nahrungsketten, liefere meine Moleküle ab an der großen Theke des Lebens zur weiteren Verwendung. In die Natur zurückzukehren, wäre gleichsam das Ende der Besserwisserei, das Ende einer westlichen Haltung, die besagt: „Natur, schön und gut, aber wir können es besser.“ „Zurück in die Natur“ wäre der Weg vom homo arrogans zum homo sapiens.

„Zurück in die Natur“ bedeutet auch, den Tod nicht mehr als Ende, als die Verneinung des Lebens zu verstehen, sondern als die Mündung des Flusses, die uns ins Meer entlässt. Es ist zwar richtig, dass es nach der Mündung keinen Fluss mehr gibt, aber was wäre der Sinn eines Flusses ohne Mündung? Und auch: Was wäre ein Meer ohne Flüsse?

Wir brauchen kein Jenseits

Was ist Seele? So unterschiedlich die Definitionen dafür ausfallen, als Trägerin unserer Lebendigkeit scheint sie uns eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Seele aushaucht, der ist nicht mehr, was er zuvor war. Hat denn nicht alles Lebendige Seele, von der Amöbe bis zum Menschen, von der Alge bis zur Rebe? Kann denn ein Lebewesen unbeseelt sein oder umgekehrt: Kann etwas Seelenloses sterben? Niemand käme auf die Idee, von einem gestorbenen Auto zu sprechen oder einer gestorbenen Spülmaschine. Sie sind „kaputt“.

Sind Körper und Seele nicht eins, statt, wie uns weisgemacht wird, gespalten zu sein? Ist nicht die Trennung von Körper und Seele eine Hilfskonstruktion zunächst der monotheistischen Religionen und später des Materialismus, der ohne Seele auszukommen glaubt? Ist ein seelenloses Biotop vorstellbar? Ist das kein Widerspruch in sich? Und sind nicht auch das Wasser dort, die Binsen und Mückenlarven, die Frösche und der Reiher, das Holz und die Steine Teil eines komplexen Ganzen? Nichts davon ist ein beliebig austauschbares „Ding“, sondern Mitgewachsenes und Zugehöriges, aus der Zeit Geborenes. Ist es nicht so, dass es in der Natur nur Ganzes gibt, und wenn wir Teil der Natur sind, dann sind auch wir unteilbar ganz. Wir benötigen kein Jenseits dafür. In einer ungetrennt beseelten Welt können wir uns auch ohne Transzendenz aufgehoben und weitergetragen fühlen.

Essbar sein

Wenn wir also „zurück in die Natur“ wollen – kommst du mit? –, dann verlassen wir die anatomische Perspektive, steigen vom hohen Ross bzw. westlichen Elfenbeinturm und lassen uns überwältigen, öffnen uns für die Schönheit, aber auch für den Tod und das Endliche, die die Grundlage sind für die Vielfalt und überwältigende Fülle des Seins. Dann sind wir bereit, unser nach Sicherheit, Distanz und Dominanz strebendes Ich preiszugeben, um ein neues, integres, weil integrales Ich zu entdecken im Kontakt mit der Welt, die wir sind. Der Hamburger Biologe und Philosoph Andreas Weber geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, „essbar zu sein“. Sich nach Unsterblichkeit zu sehnen, sagt er, sei eine „ökologische Todsünde“. Särge sind unser letzter Trennungsversuch, im Sarg sind wir noch nicht essbar für die Würmerwelt, zögern wir unsere Essbarkeit noch ein wenig hinaus; als Asche in der freien Natur wären wir hingegen essbar in einer quasi vorverdauten Form. In der Erkenntnis unserer Essbarkeit vereinigen sich Mystik und Biologie.

Wo endet die Innenwelt?

In die Natur zurückzukehren, heißt anzuerkennen, dass auch unsere Geschwisterwesen eine Innenwelt besitzen, dass sie die Welt subjektiv wahrnehmen, so wie wir auch. Letztlich weiß jeder um die Innenwelt allen Lebens, und einen Schritt weitergedacht: dass eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenwelt existiert. Alles fühlt, will heil und gesund sein, kann froh sein oder leiden, alles nimmt wahr, nur nicht unbedingt so wie „wir Menschen“. Aber wer ist schon „wir“? Du als Leserin fühlst anders als ich, die Innenwelt jedes Menschen unterscheidet sich von der des anderen; das ist unsere alltägliche Erfahrung. Und falls du einen Hund hast oder eine Katze, dann trifft das auch auf sie zu, nicht wahr? Letztlich gibt es dieses „wir“ gar nicht, diesen statistischen Querschnitt des Innenlebens aller Menschen, sehr wohl jedoch deine und meine Innenwelt und die aller anderen. So erhebt sich die Frage: Bei welchen Lebewesen, bei welcher Art endet die Innenwelt? Haben nur Lebewesen mit einem dem Menschen ähnelnden Nervensystem eine Innenwelt? Welche Innenwelt haben Vögel, Fische, Schlangen, Insekten, Pflanzen? Andreas Weber konnte unter dem Mikroskop beobachten, wie sich Einzeller furchtsam vor dem tödlichen Tropfen Alkohol auf dem Glas unter der Linse zurückzogen. Wollen schon Einzeller leben? Alles spricht dafür. Nicht nur wir blicken auf unsere Mitwelt, sie blickt auch zurück – und vermutlich vom Menschen dauertraumatisiert.

Radikale Wechselseitigkeit statt Romantik

Wenn wir einen Apfel essen, dann wird er zu einem Teil unseres Körpers; mit anderen Worten: Ein Teil eines Apfelbaums verwandelt sich in dich oder mich. Der Gedanke mag zunächst verblüffend erscheinen, und doch handelt es sich bei diesem Vorgang um den Normalzustand in der Natur und gilt sogar für die Steine, auch wenn deren Verwandlungsprozess hin zum Mineral und damit zum Pflanzennährstoff länger dauert als bei anderen Wesen. Nichts ist auf der Erdoberfläche, das nicht in den großen Stoffwechsel einbezogen wäre, und wer weiß: Vielleicht ist unser Planet ja ein Molekül im Stoffwechsel des Universums?

Hier geht es um keine Hirngespinste, romantischen Gefühle oder Rousseauschen Ideale, sondern um eine notwendige Revolution, wenn wir das Niveau unserer Zivilisation halbwegs aufrechterhalten wollen. Was ansteht, ist eine radikale Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die uns von Grund auf erfasst und in der der Mensch auf eine fundamentale Art und Weise Verantwortung übernimmt, wie er sich einer fühlenden, verletzlichen, gleichwürdigen Welt gegenüber verhält. Dann endet die seit Jahrhunderten andauernde Suche nach dem Sinn, weil wir auf eine ganz selbstverständliche Weise in Verbundenheit blühen und weil dieses Blühen nur geschieht, weil jedes Wesen mit dem anderen verschränkt, verknüpft und verwoben ist. Es ist ein Blühen von Geschwistern.

Symbiose statt Kampf

„Zurückkehren in die Natur“ würde bedeuten, respektvoll anzuerkennen, dass die anders-als-menschliche Welt eben nicht aus Dingen besteht, mit denen wir verfahren können, wie es uns beliebt oder gefällt; dass wir auch dann in die Welt eingreifen, wenn wir dort kein Leben erkennen können. Denn jeder Eingriff bleibt ein Eingriff in die Lebensströme und Zusammenhänge der Welt, und nur selten – wenn überhaupt – wissen wir genau um die Folgen unseres Tuns. Schon morgen kann unser Eingriff etwas anderes bedeuten als heute. „Zurück in die Natur“ erkennt: Leben ist Synergie und Symbiose, nicht Kampf. Noch wehren wir uns gegen die Umarmung der Bäume. Deshalb, so Andreas Weber, brauchen wir „eine Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen“. Nur dann haben wir eine Chance auf eine lebenswerte, der bisherigen Gegenwart ähnliche Zukunft.

Zur Vertiefung: Andreas Weber, Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik, Verlag thinkOya, ISBN 978-3-947296-09-5, 26,80 Euro

 

Von Bobby Langer

Philip aus Sachsen-Anhalt betreibt mit seiner englischen Geschäftspartnerin Becky eine Kombination aus Bäckerei und Café im Zentrum von San Marcos La Laguna am Lago Atitlan, dem zweitgrößten See Guatemalas. Philip ist seit sechs Jahren dauerhaft im Land und kann über die Lebenssituation in diesem mittelamerikanischen Land gut Auskunft geben.

300 statt 1200 Euro

„Die meisten Leute in Mitteleuropa“, sagt er, „stellen sich Guatemala viel unterentwickelter vor, als es tatsächlich ist. Dabei kann man in diesem Land wunderbar Fuß fassen und leben. Und die meisten Menschen hier, überwiegend Indigene, sind freundlich und entgegenkommend. Natürlich sollte man bereit sein, Spanisch zu lernen.“

„Erst vor zwei Tagen“, berichtet er, „hatte ich Kontakt mit einer Wienerin, die sich mit dem Gedanken trägt auszuwandern. Allein für ihre Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der österreichischen Hauptstadt zahlt sie 1200 Euro kalt. Hier in Guatemala würde sie Probleme haben, eine Wohnung für 600 Euro zu finden, denn solche Luxusapartments gibt’s nicht viele. Dafür könnte sie direkt am See leben und unter Umständen, die es in Europa so kaum gibt. Natürlich bekommst du auch für 300 Euro schon was Passables.“ Und, ergänzt er, wer bereit sei, unter indigenen-nahen Umständen zu leben, komme auch mit 200 Euro klar. Umgekehrt könne man hier, „entsprechende Kohle vorausgesetzt“, besser leben als zu Hause. Als Extrembeispiel nennt Philip die Casa Floresta. Die könne sich jeder selbst im Internet anschauen.

Alles hat zwei Seiten

Da ist also diese paradiesische Seite von Guatemala. „Wenn du allerdings krank bist“, ergänzt er nüchtern, „solltest du dir die Umstände klarmachen, mit denen du hier rechnen musst.“ Hier im Ort gebe es die Maya-Klinik, in der naturheilkundlich alles behandelt wird, was „normale“ Krankheiten angeht. „Alle Arzneien dort bauen sie in eigenen Gärten an. Außerdem gibt es ein paar Chiropraktiker aus den USA.“

Wer ein Krankenhaus, zum Beispiel für chirurgische Eingriffe, benötigt, der muss nach Panajachel über den See (mit dem Boot ca. 30 Minuten; zwar kämen die Boote oft, aber nach keinem Fahrplan und bei zu hohem Wellengang auch mal gar nicht), nach Xela (78 km/2 h) oder Antigua (135 km/3,5 h). Oder natürlich nach Guatemala City, noch ein kleines Stück weiter, wo es dann alles gebe, was ein europäisches Herz begehrt. „Aber schon in Xela“, erzählt Philip, „haben sie eine gute Ultraschallausrüstung. Das weiß ich, weil wir sie kürzlich selbst genutzt haben, weil meine Freundin schwanger ist.“ Hier könne man allerdings nicht bis zur letzten Minute warten wie in Deutschland, wo in 15 Minuten ein Krankenwagen zur Stelle ist. „Definitiv“, findet Philip, „brauchst du hier ein Stück mehr gesunden Menschenverstand, aber dann hat man keine großen Probleme.“

Für Arbeitnehmer wie für Unternehmer gebe es eine kostenlose staatliche Krankenversicherung, die IGGS, die empfiehlt er allerdings nur für die Erstversorgung. Wer auch immer sich hier ansiedelt, von dem wünscht sich der Staat den Abschluss einer solchen Versicherung. In Krankenhäuser dieser Versicherungsstufe will man allerdings nur zur Not. Man kann sich hier auch privat versichern und hat dann einen 24-Stunden-Service. Voraussetzung dafür ist ein eigenes Bankkonto. Die Kosten beginnen bei ca. 63 € im Monat.

Krass connected

Offiziell gibt es in Guatemala einen Mindestlohn von 3200 Quetzales. Er kenne aber, von ihm selbst abgesehen, niemanden, der das bezahlt – kontrolliert werde das in aller Regel nämlich nicht. Er selbst bezahle das als Einstiegsgehalt; Mitarbeiter, die länger bleiben, erhalten deutlich mehr. EuropäerInnen könnten, findet er, in Guatemala locker einen Job finden – und würden in der Regel, wegen ihrer anderen Fähigkeiten und ihrer höheren Verlässlichkeit, besser bezahlt. „Ein Arbeitsamt oder etwas Vergleichbares gibt es hier aber nicht. Man muss einfach losgehen und quatschen. Außerdem gibt es zu praktisch jedem Ort eine Facebook Community. Darüber sind die Leute krass connected.“ Seine Freundin sei da zum Beispiel in einer Mütter-Gruppe. Einer unterstützt den anderen. „So viel Zusammenhalt hast du in Berlin nicht. Für Mütter ein paar Wochen vor der Geburt und ein paar Monate danach gibt es zum Beispiel den ‚Food Train‘. Da kochen andere abwechselnd in der Nachbarschaft für dich mit und bringen dir das Essen vorbei – alles umsonst, ohne Erwartung auf eine Gegenleistung. Ich bin ja nicht unbedingt der Freund der Hippies hier, aber so was haben sie drauf, das ist guter alter Hippiespirit.“

 

Eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen

„Eine Aufenthaltsgenehmigung bekommst du erst einmal für drei Monate. Danach musst du aus- und dann wieder einreisen. Das ist zwar nicht schwierig, aber nervig ist es trotzdem. Falls du die drei Monate überziehst – in meinem Fall waren es gleich neun Monate, brauchst du gute Gründe. Als ich damals an der Grenze nach Mexiko meinen Pass vorgewiesen habe, gab das erst einmal heftiges Stirnrunzeln. Aber ich konnte eine Steuernummer und eine Wirtschaftssteuernummer – als Unternehmer – vorweisen. Als ich dann noch 1500 Quetzales ‚einstecken‘ hatte, bekam ich drei Stempel und das Problem war gegessen. Mein Anwalt meinte, wegen so was kommt hier keiner in den Knast. Einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung kann du stellen, wenn du innerhalb von zwei Jahren wenigstens sechs Monate nachweislich im Land warst.“ Um an eine Staatsbürgerschaft ranzukommen, braucht man mehr Geduld, muss warten können, und Vitamin B hilft auf jeden Fall weiter.“

Arbeitsgenehmigung inklusive

„Praktisch ist, dass du hier keine Arbeitsgenehmigung brauchst“, betont Philip. Die sei mit der Einreise nach Guatemala automatisch erteilt – was auch bedeutet, dass man hier sein eigenes Business gründen kann. „Du gehst dann zur Steuerbehörde und beantragst eine Steuernummer bzw. zusätzlich eine Wirtschaftssteuernummer. Dann kann es schon losgehen.“ Um von der weitverbreiteten Korruption wegzukommen, hat der Staat vor Kurzem noch eine Regelung eingeführt: „Sobald du etwas kaufst, was teurer als 2500 Quetzales ist, musst du beim Kauf deine Steuernummer angeben oder, wenn du keine hast, deine Passnummer. So konsequent ist man nicht einmal in Deutschland.“

Ein Aspekt des guten Lebens hier, den er ein paar Mal erwähnt, sind die ausgesprochen angenehmen Temperaturen. Nachts gehen die, rund ums Jahr, selten unter 15 Grad und tagsüber selten über 25 Grad. Nicht umsonst nenne sich Guatemala „Das Land des ewigen Frühlings“. Auch die Regenzeit lasse sich gut aushalten. „Meistens schüttet es dann zwei Stunden täglich, dann ist es aber auch wieder schön.“

In diesen jeweils ca. 15 Minuten dauernden Gesprächen unterhalten sich Thomas Hann und Bobby Langer über die Möglichkeiten unserer Zeit, zum Beispiel darüber, ob es so etwas wie deutsche Tugenden gibt, ob es im Gegensatz zum zwölfjährigen „1000jährigen Reich“ ein tatsächliches „1000-jähriges Reich der Menschheit“ geben könnte oder über eine resiliente Gesellschaft und die entsprechenden Perspektiven daraus. Hier beginnt die Playlist:

Die Himmel sind weit
und weniger fern, als wir dachten.
Es gibt ein Über-den-Wolken
in uns auch,
nicht nur die Dunkelheit und die Blendgranaten,
sondern tausend Lichter am Ende der Tunnel;
die Hoffnung, die uns, und sei sie noch so klein,
für einander am Leben hält und
uns in einem Lächeln verbindet,
in einem heimlichen, verstohlenen,
revolutionären Lächeln.

Nun lasst uns also die Hände ergreifen,
die dargebotenen, die ausgestreckten,
die hilfesuchenden auch.
Nun seht, dass die Tage länger werden
und nicht von Dauer sind Krieg und Verderben.
Die Bleikammern der Herzen sind überwindbar
und die Birken vor Birkenau grünen
wider alles Erwarten.

Bobby Langer