Rezension von „Das Gottesmädchen“

Um es gleich vorweg zu sagen: Männer spielen in dem Roman von Ismael Wetzky keine herausragende Rolle. In den Hauptrollen sind Gisele, eine Philosophiestudentin, und ihre ultrasexy Freundin Chloë, beide definitiv U30. Noch jünger ist nur noch Gott bzw. ihre Erscheinungsform. Gott tritt nämlich in Gestalt eines jungen Mädchens von elf, zwölf Jahren auf.

Damit nicht genug der Überraschungen in diesem Roman. Die Sprache auf den rund 400 Seiten ist so jung – und gekonnt jung – wie die Protagonistinnen. Man begrüßt sich lässig mit „Hi!“, findet Dinge „abgefahren“, „ultraspannend“ oder „echt mega“, und dass Modeschimpfwörter wie „Fuck“ etc. fallen, stört nicht, sondern passt. Tatsächlich gelingt es Ismael Wetzky, seine Mädels in einer Jugend-Kunstsprache reden zu lassen, die überzeugend ist, in keiner Weise aufgesetzt wirkt und auch für ältere Semester wie den Rezensenten gut und amüsant lesbar ist. Fiktion und Realität mischen sich, etwa, wenn echt funktionierende Links in den Text eingefügt sind.

Zur realistischen Szene-Wirkung passt, dass der Roman in Berlin spielt und das Gottesmädchen Gisele erstmals im Berliner Dom erscheint. Giseles Gotteserscheinungen schaffen die Gratwanderung zwischen Drogentrip sowie glaubwürdiger äußerer wie innerer Erfahrung. Äußere Erfahrung auch insofern, als Gisele, ganz Vertreterin ihrer Generation, ihr Erlebnis mit dem Handy filmt. So verschwommen und verwischt die Aufnahmen sind, sie sind ungewöhnlich genug, um in kürzester Zeit weltweit viral zu gehen. Gleichzeitig ist Gisele ab diesem Tag der einzige Mensch, der noch ein Gotteshaus gleich welcher Glaubensrichtung betreten kann. Alle anderen, die dies versuchen – Militär inklusive –, werden augenblicklich ohnmächtig. Dass dies alles für erhebliche gesellschaftliche Turbulenzen sorgt, liegt nahe. Auch, dass Gisele damit in eine schwierige öffentliche Rolle gerät, die sie sich gar nicht ausgesucht hat. Sie sitzt buchstäblich zwischen allen linken und rechten Stühlen.

Gott bzw. das Gottesmädchen hat Gisele auserwählt, weil sie sie für fähig hält, in 108 Tagen eine zweite Arche Noah und eine Neue Stadt Jerusalem zu bauen. Dass das ziemlich hoch angesetzt ist und Gisele ratlos zurücklässt, versteht sich von selbst und macht den Plot umso überzeugender. Stress entsteht, weil das Gottesmädchen Gisele zeigt, was geschehen wird, falls sie an ihrer Aufgabe scheitert. Dann nämlich wird die Welt in Schutt und Asche versinken. Das Gottesmädchen ist also alles nur kein „liebes“ Mädchen, sondern ein Wesen, dass von den Menschen so ziemlich die Schnauze voll hat und ihnen eine letzte Chance einräumt. Sodom und Gomorrha 2.0 dürfen also eventuell überleben.

Wie nötig eine Umkehr der Menschheit ist, erfährt die Leserin aus der menschlichen wie der göttlichen Perspektive. Das Gottesmädchen nimmt die unfreiwillige Heldin mit zu einem Flug über Berlin, über den Potsdamer Platz, den Alexanderplatz, den Tiergarten: „Unter mir eilten Menschen durch die Straßen. Zu Tausenden und Abertausenden hetzten und schritten sie durch die Stadt. Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Die Menschen wirkten hohl und fremdgesteuert. Wie Roboter wankten sie, marschierten sie, ohne sich umzuschauen, nach vorne, immer ihrer Nasenspitze nach.“ Der Blickwinkel ist neu für Gisele. Befremdet fragt sie das Gottesmädchen: „Was ist mit ihnen?“ „Sie sind, wie sie immer sind, Gy. Glaubenslose, leere Hüllen, die sich in ihren fiebrigen Träumen verloren haben.“

Besonders eindrucksvoll gelingt Ismael Wetzky die Schilderung der nächtlichen Berliner Unterwelt und Clubszene: Eine von Kick zu Kick mäandernde, dystopische Welt, in der verlorene junge Menschen Sinn durch kurzfristigen Lustgewinn ersetzen: „Ich sah in die Augen der Boys und ich sah maschinelles Abreagieren, zwanghaftes Ejakulieren, raue Lustbefriedigung – alles entblößt, alles entwürdigt, alles erniedrigt … Überall zogen die Menschen die Köpfe ein und starrten auf ihre Smartphones. Wischten sich durch das digitale Labyrinth, nuckelten an ihrem digitalen Schnuller, der das Erlöschen ihres Seelenlichtes kaschieren sollte … Wie Halbwesen trieben wir durch eine Welt, die wir ungeschickt nach unserem Angesicht deformierten.“

„Amerika stirbt. Und wir sehen, dass auch alle anderen Staaten sterben, die nicht von ihrer liberalen Untergangspolitik lassen wollen. China. Europa. Australien. Alles brennt.“ Während eben diese Welt mit wachsender Uneinsichtigkeit und Aggressivität auf Gisele ein- und ihrem eigenen Ende entgegenstürmt, unternimmt die „Anti-Heldin“ immer fruchtlosere Anläufe, den Auftrag des Gottesmädchens auszuführen. Nichts will gelingen, denn es will Gisele bei aller Mühe nicht gelingen, aus ihrer alten Rolle auszubrechen: „Bin ich einfach nur weak?,  jammerte ich stumm. Bin ich fake? Muss ich erst endlose Qualen erleiden, um zu einem wahren Glauben zu finden?“ Hinzu kommt eine irritierende Lovestory, die ihr die Konzentration raubt, und zuletzt verwandelt sich die Geschichte, ohne es beim Lesen recht zu merken, auch noch in einen Krimi.

Alles in allem ein – manchmal erschreckendes und erschreckend realistisches – Lesevergnügen mit einem Ausgang, den man der Menschheit nur wünschen kann. Denn die derbe Ironie, die Bob Dylan 1964 mit seinem Song „With God on Our Side“ noch formulieren konnte, steht Ismael Wetzky nicht mehr zur Verfügung:

Through many a dark hour
I’ve been thinkin’ about this
That Jesus Christ was
Betrayed by a kiss
But I can’t think for you
You’ll have to decide
Whether Judas Iscariot
Had God on his side.

Zu seinem Roman-Erstling, einem „spirituellen Thriller“, kann ich dem Autor nur gratulieren. Man darf auf weitere Arbeiten hoffen.

Ismael Wetzky, Das Gottesmädchen, 427 S., 12,90 €, ISBN 978-3-200-07977-9.
Erhältlich auf Amazon und direkt beim Autor: www.ismaelwetzky.de

Bobby Langer

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