Die Banalität des Guten
Hannah Arendt erschien es ganz einfach. Angesichts der kleinbürgerlichen Mörder des Nationalsozialismus war die „Banalität des Bösen“ deutlich erkennbar. Seither ist ihre Erkenntnis tausendfach wiederholt und auf alle Bösewichte der Geschichte angewendet worden.
Statt dieser Litanei eine weitere Strophe hinzuzufügen, möchte ich mich lieber dem scheinbaren Gegenteil zuwenden, der Banalität des Guten, die ein befreundeter Philosoph kürzlich erwähnte. Sie kommt dann am schnellsten zustande, wenn es zur Identifikation einladende Stellvertreter gibt, Mutter Theresa beispielsweise oder Mahatma Gandhi. Sie wirken wie historische Vergrößerungsgläser auf Ideale, die im Alltag gerne untergehen; Ideale wie Nächstenliebe oder Gewaltfreiheit, die keinem wehtun, gut klingen und die, solange kein Härtetest erforderlich ist, leicht dahingesagt sind.
So wie wir als Jugendliche an die Wände unseres Zimmers Poster unserer Idole hängten – Che Guevara, John Lennon, Papst Johannes XXIII., Karl Marx, Konrad Adenauer, der Kleine Prinz oder Harry Potter –, so haben wir die Wände unserer Seelen mit Idolen des Guten ausgekleidet; dessen, was wir für gut hielten, einst oder immer noch. Diese Heldengalerie der Seele erfüllt nun die gleichen Zwecke wie die Idole der Jugend. Wir können zu ihnen aufschauen und fühlen unsere Ideale aufglühen wie eine vom Wind angefachte Glut. Für ein paar Minuten, manchmal auch nur Sekunden, fühlen wir uns dann als Revolutionäre, edel, hilfreich und gut, bevor wir das nächste Youtube-Video schauen, die Hundertste E-Mail schreiben und am Montag wieder in die Tretmühle steigen. So wird die Banalität des Guten zum Feind des Guten, so versanden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den ausgetrockneten Flussbetten zwischen Herz und Gehirn.
Bis dann etwas Großes in unser Leben tritt, ein Tsunami, ein Vulkanausbruch, eine Seuche, eine Hungersnot und – endlich – ein neuer Krieg, woran wir uns wieder reiben und entzünden und ein bisschen gut sein können, wo wir beten, spenden, Care-Pakete schicken, uns ereifern oder Waffen liefern können. Dann entstehen kraftvolle Augenblicke, in denen das Gute beinahe die Schlangenhaut des Banalen abstreift und vollends gut wird, ehe der Zweifel seine Stimme erhebt: Was ist das nun, was wir tun? Ist es groß oder banal? Ist es nützlich oder schädlich, gerecht oder selbstgerecht, mörderisch oder human? Und weil wir es nur zu wissen meinen, aber nicht zuverlässig wissen, lässt das Gute sein Haupt wieder sinken und wartet auf seine nächste Gelegenheit. Wir aber glühen noch ein wenig nach, anstatt zu fragen: Wo verläuft sie nun, die Grenze zwischen der Banalität des Guten und der Banalität des Bösen?
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