Du sollst nicht töten. Oder wie?

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Gelegentlich polemische Anmerkungen zum 5. Gebot

„Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.“ Albert Einstein

„Es ist Morden. Sie töten immer den Sohn einer Mutter.“ Jürgen Todenhöfer

Es ist ein christliches Gebot. Und es schien mir unverhandelbar, als ich begann, darüber nachzudenken: „Du sollst nicht töten.“ Punkt. Es hieß nicht, „Du sollst deinen Freund nicht töten, deine Feinde aber sehr wohl“; auch nicht: „Du sollst nicht töten, solange du dafür keinen guten Grund findest.“ Nein, so hieß es nicht. Und doch hat die versammelte Christenheit, allen voran die christliche deutsche Parteien-Landschaft, beschlossen, hier eine päpstliche Ausnahme zu machen. Sogar „Die christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz“ betet nicht für alle dem Krieg ausgesetzten Menschen, sondern exklusiv für die Menschen in der Ukraine nach dem Motto: „Man kann ja nicht für alle beten.“

Segen für den Waffensegen

Es ist nicht das erste Mal. Den Segen für „unsere Waffengänge“ bis hin zu christlichen Waffensegnungen der Amtskirche durften schon die Nazis für sich in Anspruch nehmen, von den Deutschordensrittern einmal ganz abgesehen, die im 12. Jahrhundert die litauischen Heiden mit dem Schwert zur Taufe trieben. Eine bewährte Tradition also, die auch die mittel- und südamerikanische Bevölkerung lange seitens der Spanier genießen durfte. Und ganz modern: Der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik, bei dessen Anschlag im Jahr 2011 77 Menschen ums Leben kamen, hat sich zur Rechtfertigung seiner Tat aufs Christentum berufen. Wäre er Atheist gewesen, wäre das nicht passiert. Wenn man schon nicht so weit gehen will zu behaupten, Gewalt und Christentum gehörten zusammen, so lässt sich doch feststellen: Gewalt und organisiertes Christentum schlossen sich bis heute so gut wie nie aus. Papst Pius XII. war die politische Einheit des Christentums und die Sicherheit seiner Dienerschar sogar wichtiger als die Bekämpfung der Konzentrationslager.

Und wenn du bedroht wirst?

Aber zurück zu dem scheinbar fundamentalen Gebot „Du sollst nicht töten“. Ich vernehme schon von allen Seiten das beliebte Scheinargument: „Christentum hin oder her, wenn deine Kinder von einem Terroristen angegriffen würden, wärst du dann auch noch radikaler Pazifist?“ Mit diesem Einwand musste ich mich schon mit 18 Jahren beim Thema Kriegsdienstverweigerung herumschlagen. Die Antwort ist sehr einfach, auch wenn sie ein wenig Differenzierungsvermögen verlangt: Es handelt sich in diesem und ähnlich gelagerten Fällen nicht um Töten mit Vorsatz, sondern um ein Schutzverhalten mit eventueller Todesfolge. Wer den Unterschied nicht erkennt, dem ist nicht zu helfen. Das „Du sollst nicht töten“ bezieht sich nämlich auch auf die innere Bereitschaft, oft den Wunsch oder sogar die Lust, seinen Mitmenschen zu vernichten.

Tödliche Lässigkeit

Interessanterweise gehört das „Du sollst nicht töten“ zum Glaubensrepertoire aller Weltreligionen. Und überall wurde diese Forderung korrumpiert, auch im angeblich rein friedlichen Buddhismus. Die – vermutlich – einzige Ausnahme bildet die Bahai-Religion. Das gerne von konservativen Politikern beschworene – und tatsächlich existierende – christliche Fundament unserer Gesellschaft hat also dafür gesorgt, dass so gut wie alle Menschen in Mitteleuropa dem Tötungsverbot zustimmen, aber eben auf die kirchlich lässige Art und Weise, nämlich: „Ja, also irgendwie ist das schon richtig, aber …“ Darüber muss niemand sonderlich nachdenken, auch die vielen Moslems nicht – vielleicht ist das ja ihr größter gemeinsamer Nenner mit den Christen –, denn so lässig denken eben die meisten über Mord und Totschlag, solange sie nicht selbst betroffen sind; folglich ist ein solches Denken richtig.

Flirten mit dem Krieg

Doch auch darüber hinaus bleibt die Frage: Warum ist das so? Warum können wir das „Du sollst nicht töten“ nicht ernst nehmen? (Kleiner Nebenaspekt dieses Umstands: Das staatliche Gewaltmonopol gibt es wahrscheinlich nur deshalb, weil unsere Tötungsbereitschaft offenbar gesetzlich eingedämmt werden muss.) Seit die letzten Weltkrieg-II-Teilnehmer unter der Erde liegen, gibt es in Deutschland nur noch Generationen, die „Krieg“ so wahrnehmen, als sei er ein Thema zur besten Sendezeit. In den öffentlich-rechtlichen Medien sind kriegsabschreckende Filmaufnahmen sogar tabuisiert. Auch die Privatsender folgen dem im Wesentlichen; man möchte nicht, dass jemand angesichts des gezeigten Grauens zu einem anderen Kanal zappt. Ist aber das Grauen des Krieges auf ein kindertaugliches Niveau herunterverharmlost – keine dokumentierten Mordszenen, keine offenen Wunden, abgetrennten Gliedmaßen, auslaufenden Gehirne –, dann verliert der Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung seinen mörderischen Kern; dann können wir sogar ein bisschen damit flirten. Denn ist es nicht letztlich eine befreiende „Entladung“, wenn man all die Aggressionen, die man jahre- oder jahrzehntelang unterdrückt hat, endlich einmal loslassen kann, ja loslassen soll? Da kann es uns nur recht sein, wenn Krieg uns als etwas „Unschönes“, aber letztlich doch Notwendiges gezeigt wird, als ein Übel, das man nicht immer verhindern kann, bei dem man aber wenigstens auf der „richtigen Seite“ von Mord und Totschlag ist. Eine innere Zustimmung zum Totschlagen des Feindes ist in unseren Köpfen als jederzeit verfügbares Kulturmuster quasi vorprogrammiert und jederzeit abrufbar. Das war beim Korea- und Vietnamkrieg so, beim Pakistankrieg und beim Jugoslawienkrieg so, das war und ist beim Ukrainekrieg so und das wird auch beim Chinakrieg so sein, auf den manches bereits hindeutet.

Mörderisches Gewissensfundament

Ein zweiter, ähnlich relevanter Grund lässt sich am Beispiel der Israelis und Palästinenser (oder der Katholiken und Protestanten in Nordirland) verdeutlichen. Grundlage kriegerischen Tötens, von wem auch immer, ist das menschliche Denken, nämlich die Überzeugung: Ich habe Recht, mein Recht ist unantastbar, wer die Richtigkeit meines Rechts bezweifelt, ist mein Gegner; wer es bedroht, ist mein Feind und muss mit Gewalt zurückgeschlagen werden. Tote, und seien es Hunderttausende, sind der oft erwünschte, manchmal auch unvermeidliche Kollateralschaden. Das funktioniert überzeugend im Kleinen bei der Blutrache, das stabilisiert und fundiert das Gewissen jedes ordentlichen Terroristen, das funktioniert bei den Palästinensern und der israelischen Armee und natürlich auch bei Rüstungs- und Waffenlieferungsbeschlüssen, wohin auch immer. „Du sollst nicht töten“ ist eine veraltete Forderung; sie ist nicht industriekompatibel und folglich auch nicht up to date. Folglich ist ein Verbot der Waffen-, also letztlich Mordzulieferungsindustrie aus ethischen Gründen in Deutschland und anderswo undenkbar.

Krieg als Live-Event

Wer sich unsicher ist, ob er den Krieg nicht vielleicht doch für sinnvoll hält (interessanterweise gehört auch eine solche generelle Zustimmung zu den tabuisierten Gedanken), dem sei zum Beispiel das Video Traumatic and Combat Related Amputations zur Fortbildung empfohlen. Krieg findet nämlich nicht abstrakt auf Zeitungspapier, im Internet oder per Nachrichten im Fernsehen statt, Krieg ist das böseste Live-Event in Echtzeit. Deshalb sollte jemand, der das Führen eines Krieges unterstützt, ihn auch „live“ erleben dürfen. Er sollte sich persönlich an die Front begeben und mitkämpfen und ein paar junge Männer, Frauen und Kinder töten dürfen. Und dann, sofern er seinen Einsatz überlebt und der Krieg nicht dummerweise in einen Atomkrieg umgeschlagen ist, sollte der Kriegsunterstützer ein mehrwöchiges Praktikum in einem Lazarett absolvieren. Das wäre doch eine gute Grundlage für einen netten kleinen Erfahrungsbericht an seine Lieben zu Hause.

So seltsam es klingt: Die sauberste moralische Haltung nehmen Auftragskiller ein. Sie sind ehrliche Menschen, die, ohne Moral vorzuschützen, morden – wen auch immer –, solange die Bezahlung stimmt. Im Dienst der Wahrheit, oder weniger pathetisch formuliert: der Aufrichtigkeit zuliebe, sollten wir das fünfte der Zehn Gebote folgendermaßen vervollständigen: „Du sollst nicht töten, solange man es dir nicht anders befielt.“

Und eine Frage zum guten Schluss: Nehmen wir an, Sie hätten drei Söhne – oder Enkel oder Brüder ­–, welchen davon würden Sie an die Front schicken? Oder gleich alle drei? Und anders herum gefragt: Nehmen wir an, eine Mutter des Feindes hätte drei Söhne, welchen davon würden Sie töten? Oder gleich alle drei? Bob Dylan hatte schon 1964 die richtige Ahnung, als er sang:

I’ve learned to hate the Russians*
All through my whole life
If another war comes
It’s them we must fight
To hate them and fear them
To run and to hide
And accept it all bravely
With God on my side

* durch beliebige Nationalität ersetzbar

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