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Ihr findet hier ein Interview mit Barbara Salaam Wegmüller (Bern) und Cornelius Collande (Würzburg). Thema ist das zum wiederholten Mal durchgeführte, einwöchige Auschwitz-Retreat im November 2024 und die Verstrickungen im Nahen Osten.

Eine entscheidende Frage an uns alle:

Kann man sagen: Ohne die historisch einzigartige Dimension von Auschwitz anzuzweifeln, ist dennoch das Grundmuster, das auch hinter der Unmenschlichkeit auf dieser Welt steht, ständig präsent?

Das wichtige Interview erschien in verkürzter Form in Buddhismus Aktuell 4/2024 und ist jetzt in voller Länge auf Raben-Sangha.de zu lesen.

Anmeldungen zu dem Retreat sind noch möglich unter https://zenpeacemakers.org/programs/auschwitz-birkenau-bearing-witness

Ich kenne ein paar Leute, die lehnen Krieg grundsätzlich ab. Ich gehöre dazu. Aber die meisten, die ich kenne, selbst Freunde von mir, schließen sich – ganz pragmatisch – dem Satz von General Clausewitz an: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Clausewitz starb 1831, also vor beinahe 200 Jahren. So veraltet ist dieses Denken – und noch immer nicht aus der Welt, noch immer lebendig. „Ach so, Krieg“, sagen meine Bekannten leidenschaftslos, zucken ihre wohlproportionierten Achseln und gehen ohne jedes Zittern in der Stimme zum Tagesgeschäft über.

Die PR der Kriegsleute

So zu denken und so etwas nachzuplappern, ist seit jeher deutsche Tradition. Auch Clausewitz war, Gott bewahre, kein Freund des Krieges – „nur wenn er sein musste“! Von dem General stammt das wunderschöne Zitat: „Ich glaube und bekenne, dass ein Volk nichts höher zu achten hat als die Würde und Freiheit des Daseins.“ Natürlich galt dieser Satz nicht für Untermenschen wie Franzosen, Russen und ähnliches Packzeug.

Nun denn, hehre Sätze von höherer Stelle dienen vorwiegend den Public Relations. Von den Ukrainern sagte Putin: „Das sind unsere Kameraden, unsere Nächsten.“ Bundeskanzler Scholz verkündete: „Wir alle sehnen uns nach einer friedlicheren Welt“ und: „Wir stehen ein für den Frieden in Europa.“ Und wir wissen: Mit solchen geistigen Ruhekissen werden die nächsten Waffengänge bzw. Waffenlieferungen vorbereitet.

Werden wir noch auffindbar sein?

Und uns alle, die im Grundsatz den Krieg ablehnen, und jene, die unter Umständen den Krieg akzeptieren, „wenn er denn sein muss“, verbindet ein gemeinsamer Nenner: Wir fühlen uns hilflos. Nun, ganz so hilflos sind wir doch nicht, wie die letzten Wahlen belegen. Solche  Scharmützel mögen der bedrängten Seele eine kurzfristige Erleichterung verschaffen, können aber eben auch nach hinten losgehen.

Wir, die wir den Krieg grundsätzlich ablehnen, schließen uns Tucholskys Forderung an: „Du sollst nicht töten! hat einer gesagt. Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt. Will das niemals anders werden? Krieg dem Kriege!“ Brecht hat es uns hinter die Ohren geschrieben: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ Werden wir noch auffindbar sein nach dem dritten?

Das formidabel formbare Gewissen

Das glaubt eigentlich niemand, der ernstlich darüber nachdenkt. Denken also die Kriegsbefürworter nicht darüber nach? Wohl schon, aber eben nur ein bisschen. Ihr Bedürfnis, den Herrschenden nach dem Wort zu reden, und ihr formidabel formbares Gewissen, das sich geschickt auch um den einen oder anderen Völkermord herumwindet, verhindern, der Gefahr wirklich ins Auge zu schauen.

Im Grund genommen wäre angesichts einer drohenden Gefahr eine Risiko-Abschätzung notwendig. Nehmen wir einmal an, unser Kind hätte sich durch die Gitterstäbe eines Tigerkäfigs gezwängt. Hier stehen wir vor dem Käfig, drinnen hinter den Stäben ist das Kind und im Hintergrund des Käfigs hebt der Tiger aufmerksam seinen mächtigen Schädel. Wir blicken auf die Käfigklappe und schätzen ab: Wie schnell könnte der Tiger reagieren, wenn wir sie öffnen, das Kind packen, herausziehen und die Klappe wieder schließen? Vermutlich würden wir das Risiko eingehen. Wie aber, wenn der Tiger vor der Klappe läge und das Kind neben ihm stünde?

Was wir wissen

Wenn irgendwo Krieg herrscht, wissen wir immer zweierlei: 1. Es ist Krieg. 2. Beide Seiten behaupten mit den jeweils besten Argumenten, sie hätten Recht, müssten sich verteidigen und legen dafür ihrer Bevölkerung glaubwürdige Beweise vor. Das war beim Zweiten Weltkrieg so, das war beim Vietnamkrieg so, das war beim Irakkrieg so und das ist bei den jetzigen Kriegen nicht anders. Genaueres weiß man meist erst Jahrzehnte später. Bis dahin sind Hundertausende bzw. Millionen Menschen gestorben und das Leid der betroffenen Bevölkerungen übersteigt alles uns Vorstellbare, während wir Würstchen grillen und ein Eis essen gehen. Was wir in so gut wie jedem Kriegsfall ebenfalls wissen: Das Kriegsergebnis war dieses unbeschreibliche Leid nicht wert. So war es „eigentlich nicht gemeint“. Die Risiko-Abschätzungsfrage lautet also: Wie viel Leid möchte ich zulassen, um Recht zu haben? Und im Falle eines möglichen Atomkriegs: Wie wichtig ist mir mein Rechthaben, dass ich dafür nicht nur millionenfachen Tod und milliardenfaches Leid in Kauf nehme, sondern auch die eventuelle Zerstörung der Welt? Wie viel Prozent Risiko sind für mich noch „ganz okay“? Meine Antwort: Angesichts dieser Gefahr null Prozent. Ich bitte deshalb alle den Krieg-in-Kauf-Nehmenden, diese Frage für sich selbst mit dem gebotenen Ernst zu stellen und zu beantworten. Ganz im Stillen. Eure Antwort muss ja niemand wissen am Stammtisch.

Krieg dem Kriege, aber wie?

Um auf Tucholskis Forderung „Krieg dem Kriege“ zurückzukommen – wie kann so ein Krieg gegen den Krieg aussehen? Nun, vom Faktischen her sollten wir unserem Umfeld klarmachen, was auf dem Spiel steht. Vielleicht auch noch: Gibt es mehr oder weniger wertvolle Menschen; gibt es also Menschen, die so wertlos sind, dass der Mord gestattet ist, wenn ihn mir jemand nahelegt oder befiehlt? Oder dass ich ihn doch zumindest unterstützen mag?

Wenn ich aber mir selbst die Frage stelle: Wie gehe ICH um mit dem Krieg? Und dann ganz aufrichtig weiterforsche, dann werde ich schnell feststellen, wie sehr auch in mir noch eine gewisse Kriegsbereitschaft herrscht; vielleicht keine im eigentlich mörderischen Sinn, sehr wohl aber in dem Sinn, dass mir mein Rechthaben unendlich viel wichtiger ist als der Wunsch, mein Gegenüber zu verstehen. Und erst letzteres wäre die tiefere Voraussetzung für meine Friedensfähigkeit. Diese in mir und in meinen Kindern, Freunden und Nachbarn zu wecken, das wäre die Essenz von „Krieg dem Kriege“. Ich weiß, das klingt in den meisten Ohren radikal, aber sollten wir unsere Kriegsbereitschaft nicht wirklich mit Stumpf und Stiel auslöschen, leidenschaftlich und ein für alle Mal?

Kürzlich unterhielt ich mich mit dem Vater von zwei kleinen Kindern, zwei und vier Jahre alt. Sie hatten zusammen auf einem Campingplatz am Meer Urlaub gemacht. Seine beiden Kleinen hatten 14 Tage lang mit kroatischen Kindern gespielt, ohne von der anderen Sprache auch nur ein Wort zu verstehen. Viele Eltern machen diese erstaunliche Erfahrung. Kinder können harmonieren, ohne sich zu verstehen; Erwachsene können sich verstehen, ohne miteinander zu harmonieren.

Wenn wir der kindlichen Spielweise schon so fern sind, so können wir doch zuschauen, dem Spiel der Kids beiwohnen, manchmal vielleicht sogar selbst zu Spielenden werden und für zehn Minuten oder sogar länger auf die Zeit vergessen und Glücksmomente erleben.

Ein Milliarden-Geschäft

Muss ich hier wirklich auf das kindliche Spiel hinweisen? Ist nicht unsere westliche Lebensweise Freude, Friede, Eierkuchen? Spielen wir nicht von klein auf immer mehr und immer öfter? Apple und Google verdienen allein mit den zur Verfügung gestellten Spiele-Apps jedes Jahr Milliarden. Den Playstation-Store gibt es nicht nur in Deutschland oder den USA, sondern auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien und China. Die Sony Interactive Entertainment LLC machte im Betriebsjahr 2021/22 einen Umsatz von 16 Milliarden Euro bzw. 2,74 Billionen Yen. Spiele also, wohin man blickt. Wer sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Café oder Bistro umschaut, der wird sich von Spielerinnen umgeben sehen.

Der Markt boomt. Boomt er für uns? Oder verhält es sich umgekehrt? Nehmen wir mal an, ich wäre Marketingmanager für Computerspiele bei Sony; und nehmen wir an, ich wollte Eltern davon überzeugen, ihre Kinder möglichst viel und möglichst lang spielen zu lassen – wäre da nicht Friedrich Schiller mein überzeugendster Gewährsmann? Einst schrieb der poetische Revoluzzer diesen Satz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Könnte dieser Satz nicht jede Playstation zieren?

Spielen: für ein Leben in Würde

Es lohnt sich, darüber nachzudenken und auch darüber, warum dem nicht so ist. Schiller sah das Spielen – nicht das einzelne Spiel – als die vielleicht einzige Möglichkeit des Menschen, seine besten Möglichkeiten zu entfalten, spielerisch Grenzen auszutesten, zu überschreiten oder neu zu definieren, sich auf den Weg zum ganzen Menschen zu machen. Kürzlich stupste ich meine dreijährige Enkelin Rosa auf einer Spielplatzschaukel an und sie schwang sich mit großem Vergnügen in den Sonnenschein hinein und zurück. Ein dominanter, älterer Kindergartenfreund rief ihr von der Rutsche aus zu: „Komm rüber zu mir, Rosa, hier regnet’s, im Spiel!“ Aber Rosa hatte noch viel zu viel Spaß am Schaukeln und rief zurück: „Jetzt nicht, bei mir regnet’s aaauch!“ Flugs war sie auf die Spielebene übergewechselt und hatte eine für sie passende Antwort gefunden. Schillers Idee des Spielens erlaubt, mit Parallel- und Gegenwirklichkeiten zu experimentieren. Der spielende Mensch, der homo ludens, sprengt die Ketten der ihn fesselnden Welt. Spielen wird zur Voraussetzung der Selbstbefreiung und eines Lebens in Würde.

Vergessen, was wir brauchen

Moderne Computerspiele wirken suchterzeugend, indem sie die Spieler zu immer neuen „Levels“ verlocken – zugegeben, es gibt Ausnahmen; die Spielerin soll immer besser werden, soll immer routinierter ihre Figuren bedienen, immer schwierigere Aufgaben lösen. Und ein zweiter Komparativ kommt hinzu: Nicht nur besser im Vergleich zu früheren eigenen Leistungen sollen wir (und wollen wir schließlich) werden, sondern auch im Vergleich zu den Mitspielerinnen.

Moderne Computerspiele sind Entertainment 2.0. Sie erlauben innerhalb ihres Regelwerks allen Spielenden, bestimmte Rollen und Eigenschaften zu übernehmen oder sogar selbst zu erfinden; das fühlt sich an, als könnten wir mit dem Spiel selbst kommunizieren. Das ist etwa so, als dürften wir die Zutaten zu unserer Lieblingsschokolade selbst zusammenstellen, ein bisschen mehr Vanille, ein bisschen weniger Kakao und vielleicht mehr Mandelsplitter und eine doppelte Prise Chili. Kaufen müssten wir nur noch die Mischmaschine und die Zutaten. Also fühlen wir uns als Schokoladenesser frei. Je mehr wir unseren Spaß beim Mischen der Schokolade haben, desto weniger kommen wir auf die Idee, dass wir die Schokolade gar nicht brauchen.

Nur kein Loser sein

Halten wir also fest: Meist spornen Computerspiele zu immer mehr Leistung an. Und sie fesseln die Spielenden an eine Fantasywelt, die mit ihrer eigenen Fantasiewelt wenig bis nichts zu tun hat. Kindlichem Spiel sind solche Vorgaben fremd.

Moderne Computerspiele befreien den Spielenden nicht von den Zwängen der Welt, indem sie ihn in die eigene Fantasie entführen; sie verlocken ihn in eine Welt knallharter Regeln, denen sich beugen muss, wer mitspielen will. Andernfalls kommt keiner über Level 1 hinaus, wird zum „Loser“ und schlimmstenfalls aus der Community ausgeschlossen.

Warum gibt es keine spielsüchtigen Kinder, obwohl Kinder doch nichts lieber tun als zu spielen und dies tatsächlich auch tun, sobald ihre sonstigen Grundbedürfnisse inklusive Kuscheln gestillt sind? Im Juni 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Computerspielsucht offiziell als psychische Erkrankung anerkannt. Rund zweieinhalb Stunden täglich verbringen deutsche Jugendliche laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen und der Krankenkasse DAK mit Computerspielen. Dass Mädchen dies deutlich seltener tun, spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle.

Was die Grauen Herren schon immer wollten

Eine Rolle spielt vielmehr, was Jugendliche in dieser Zeit nicht tun: Sie üben kein Sozialverhalten ein, sie lesen nicht, denken nicht frei nach über sich und ihre Position in der Welt, sie sind nicht künstlerisch tätig, entwickeln keine eigenständige Persönlichkeit und erweitern nicht ihren Horizont, sie kommunizieren nicht kreativ, müssen nicht empathisch sein, erfahren keine Stille und die darin emporsteigenden Gedanken. Und je länger sie das alles nicht tun und sich mit Ersatzverhalten auf der Games-Ebene beschäftigen, desto weniger werden sie all das auch können, und zwar in exponentiellem Maß. Sie laufen Gefahr, zu Wunschprodukten der Grauen Herren zu werden, zu unreifen, kaum reflektierenden, unkritischen Funktionsträgern, denn sie haben auf eine subtile Art und Weise gelernt, die Spielregeln der Games mit ihren eigenen zu verwechseln; aber vielleicht ja nicht nur diese, sondern auch die Spielregeln der Ingroup, der Schule, der Firma, der Partei, der Gesellschaft, des Wirtschaftssystems.

Nicht zum homo ludens, dem frei spielenden, ganz werdenden Menschen entwickeln sie sich, vielmehr geraten sie zum homo faber, zum fabrizierenden, technischen, gehorsamen Menschen, dessen Entwicklungsrichtung hauptsächlich darin besteht, als Rädchen und Gleitmittel der Mega-Maschine immer besser zu funktionieren – und dies auch noch als Freiheit zu empfinden.

Bobby Langer

Gelegentlich polemische Anmerkungen zum 5. Gebot

„Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.“ Albert Einstein

„Es ist Morden. Sie töten immer den Sohn einer Mutter.“ Jürgen Todenhöfer

Es ist ein christliches Gebot. Und es schien mir unverhandelbar, als ich begann, darüber nachzudenken: „Du sollst nicht töten.“ Punkt. Es hieß nicht, „Du sollst deinen Freund nicht töten, deine Feinde aber sehr wohl“; auch nicht: „Du sollst nicht töten, solange du dafür keinen guten Grund findest.“ Nein, so hieß es nicht. Und doch hat die versammelte Christenheit, allen voran die christliche deutsche Parteien-Landschaft, beschlossen, hier eine päpstliche Ausnahme zu machen. Sogar „Die christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz“ betet nicht für alle dem Krieg ausgesetzten Menschen, sondern exklusiv für die Menschen in der Ukraine nach dem Motto: „Man kann ja nicht für alle beten.“

Segen für den Waffensegen

Es ist nicht das erste Mal. Den Segen für „unsere Waffengänge“ bis hin zu christlichen Waffensegnungen der Amtskirche durften schon die Nazis für sich in Anspruch nehmen, von den Deutschordensrittern einmal ganz abgesehen, die im 12. Jahrhundert die litauischen Heiden mit dem Schwert zur Taufe trieben. Eine bewährte Tradition also, die auch die mittel- und südamerikanische Bevölkerung lange seitens der Spanier genießen durfte. Und ganz modern: Der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik, bei dessen Anschlag im Jahr 2011 77 Menschen ums Leben kamen, hat sich zur Rechtfertigung seiner Tat aufs Christentum berufen. Wäre er Atheist gewesen, wäre das nicht passiert. Wenn man schon nicht so weit gehen will zu behaupten, Gewalt und Christentum gehörten zusammen, so lässt sich doch feststellen: Gewalt und organisiertes Christentum schlossen sich bis heute so gut wie nie aus. Papst Pius XII. war die politische Einheit des Christentums und die Sicherheit seiner Dienerschar sogar wichtiger als die Bekämpfung der Konzentrationslager.

Und wenn du bedroht wirst?

Aber zurück zu dem scheinbar fundamentalen Gebot „Du sollst nicht töten“. Ich vernehme schon von allen Seiten das beliebte Scheinargument: „Christentum hin oder her, wenn deine Kinder von einem Terroristen angegriffen würden, wärst du dann auch noch radikaler Pazifist?“ Mit diesem Einwand musste ich mich schon mit 18 Jahren beim Thema Kriegsdienstverweigerung herumschlagen. Die Antwort ist sehr einfach, auch wenn sie ein wenig Differenzierungsvermögen verlangt: Es handelt sich in diesem und ähnlich gelagerten Fällen nicht um Töten mit Vorsatz, sondern um ein Schutzverhalten mit eventueller Todesfolge. Wer den Unterschied nicht erkennt, dem ist nicht zu helfen. Das „Du sollst nicht töten“ bezieht sich nämlich auch auf die innere Bereitschaft, oft den Wunsch oder sogar die Lust, seinen Mitmenschen zu vernichten.

Tödliche Lässigkeit

Interessanterweise gehört das „Du sollst nicht töten“ zum Glaubensrepertoire aller Weltreligionen. Und überall wurde diese Forderung korrumpiert, auch im angeblich rein friedlichen Buddhismus. Die – vermutlich – einzige Ausnahme bildet die Bahai-Religion. Das gerne von konservativen Politikern beschworene – und tatsächlich existierende – christliche Fundament unserer Gesellschaft hat also dafür gesorgt, dass so gut wie alle Menschen in Mitteleuropa dem Tötungsverbot zustimmen, aber eben auf die kirchlich lässige Art und Weise, nämlich: „Ja, also irgendwie ist das schon richtig, aber …“ Darüber muss niemand sonderlich nachdenken, auch die vielen Moslems nicht – vielleicht ist das ja ihr größter gemeinsamer Nenner mit den Christen –, denn so lässig denken eben die meisten über Mord und Totschlag, solange sie nicht selbst betroffen sind; folglich ist ein solches Denken richtig.

Flirten mit dem Krieg

Doch auch darüber hinaus bleibt die Frage: Warum ist das so? Warum können wir das „Du sollst nicht töten“ nicht ernst nehmen? (Kleiner Nebenaspekt dieses Umstands: Das staatliche Gewaltmonopol gibt es wahrscheinlich nur deshalb, weil unsere Tötungsbereitschaft offenbar gesetzlich eingedämmt werden muss.) Seit die letzten Weltkrieg-II-Teilnehmer unter der Erde liegen, gibt es in Deutschland nur noch Generationen, die „Krieg“ so wahrnehmen, als sei er ein Thema zur besten Sendezeit. In den öffentlich-rechtlichen Medien sind kriegsabschreckende Filmaufnahmen sogar tabuisiert. Auch die Privatsender folgen dem im Wesentlichen; man möchte nicht, dass jemand angesichts des gezeigten Grauens zu einem anderen Kanal zappt. Ist aber das Grauen des Krieges auf ein kindertaugliches Niveau herunterverharmlost – keine dokumentierten Mordszenen, keine offenen Wunden, abgetrennten Gliedmaßen, auslaufenden Gehirne –, dann verliert der Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung seinen mörderischen Kern; dann können wir sogar ein bisschen damit flirten. Denn ist es nicht letztlich eine befreiende „Entladung“, wenn man all die Aggressionen, die man jahre- oder jahrzehntelang unterdrückt hat, endlich einmal loslassen kann, ja loslassen soll? Da kann es uns nur recht sein, wenn Krieg uns als etwas „Unschönes“, aber letztlich doch Notwendiges gezeigt wird, als ein Übel, das man nicht immer verhindern kann, bei dem man aber wenigstens auf der „richtigen Seite“ von Mord und Totschlag ist. Eine innere Zustimmung zum Totschlagen des Feindes ist in unseren Köpfen als jederzeit verfügbares Kulturmuster quasi vorprogrammiert und jederzeit abrufbar. Das war beim Korea- und Vietnamkrieg so, beim Pakistankrieg und beim Jugoslawienkrieg so, das war und ist beim Ukrainekrieg so und das wird auch beim Chinakrieg so sein, auf den manches bereits hindeutet.

Mörderisches Gewissensfundament

Ein zweiter, ähnlich relevanter Grund lässt sich am Beispiel der Israelis und Palästinenser (oder der Katholiken und Protestanten in Nordirland) verdeutlichen. Grundlage kriegerischen Tötens, von wem auch immer, ist das menschliche Denken, nämlich die Überzeugung: Ich habe Recht, mein Recht ist unantastbar, wer die Richtigkeit meines Rechts bezweifelt, ist mein Gegner; wer es bedroht, ist mein Feind und muss mit Gewalt zurückgeschlagen werden. Tote, und seien es Hunderttausende, sind der oft erwünschte, manchmal auch unvermeidliche Kollateralschaden. Das funktioniert überzeugend im Kleinen bei der Blutrache, das stabilisiert und fundiert das Gewissen jedes ordentlichen Terroristen, das funktioniert bei den Palästinensern und der israelischen Armee und natürlich auch bei Rüstungs- und Waffenlieferungsbeschlüssen, wohin auch immer. „Du sollst nicht töten“ ist eine veraltete Forderung; sie ist nicht industriekompatibel und folglich auch nicht up to date. Folglich ist ein Verbot der Waffen-, also letztlich Mordzulieferungsindustrie aus ethischen Gründen in Deutschland und anderswo undenkbar.

Krieg als Live-Event

Wer sich unsicher ist, ob er den Krieg nicht vielleicht doch für sinnvoll hält (interessanterweise gehört auch eine solche generelle Zustimmung zu den tabuisierten Gedanken), dem sei zum Beispiel das Video Traumatic and Combat Related Amputations zur Fortbildung empfohlen. Krieg findet nämlich nicht abstrakt auf Zeitungspapier, im Internet oder per Nachrichten im Fernsehen statt, Krieg ist das böseste Live-Event in Echtzeit. Deshalb sollte jemand, der das Führen eines Krieges unterstützt, ihn auch „live“ erleben dürfen. Er sollte sich persönlich an die Front begeben und mitkämpfen und ein paar junge Männer, Frauen und Kinder töten dürfen. Und dann, sofern er seinen Einsatz überlebt und der Krieg nicht dummerweise in einen Atomkrieg umgeschlagen ist, sollte der Kriegsunterstützer ein mehrwöchiges Praktikum in einem Lazarett absolvieren. Das wäre doch eine gute Grundlage für einen netten kleinen Erfahrungsbericht an seine Lieben zu Hause.

So seltsam es klingt: Die sauberste moralische Haltung nehmen Auftragskiller ein. Sie sind ehrliche Menschen, die, ohne Moral vorzuschützen, morden – wen auch immer –, solange die Bezahlung stimmt. Im Dienst der Wahrheit, oder weniger pathetisch formuliert: der Aufrichtigkeit zuliebe, sollten wir das fünfte der Zehn Gebote folgendermaßen vervollständigen: „Du sollst nicht töten, solange man es dir nicht anders befielt.“

Und eine Frage zum guten Schluss: Nehmen wir an, Sie hätten drei Söhne – oder Enkel oder Brüder ­–, welchen davon würden Sie an die Front schicken? Oder gleich alle drei? Und anders herum gefragt: Nehmen wir an, eine Mutter des Feindes hätte drei Söhne, welchen davon würden Sie töten? Oder gleich alle drei? Bob Dylan hatte schon 1964 die richtige Ahnung, als er sang:

I’ve learned to hate the Russians*
All through my whole life
If another war comes
It’s them we must fight
To hate them and fear them
To run and to hide
And accept it all bravely
With God on my side

* durch beliebige Nationalität ersetzbar

Letzthin bin ich in Gedanken durchgegangen, was man sich üblicherweise wünscht zu Weihnachten: frohe Weihnachten, fröhliche Weihnachten, frohes Fest, schöne Festtage; und mich dann gefragt, wer das noch wirklich ernst meint oder noch genauer: wie ernst das überhaupt gemeint sein kann? Damit will ich nicht auf dem alten Gedanken herumreiten, dass Weihnachten zum Konsumfest verkommen ist. Sorry, mit 68 Jahren habe ich diese Klage mindestens schon 30-mal gehört. Nachdenklich werde ich eher bei dem Wort „Fest“.

Wenn ich an „Fest“ in seiner ursprüng­lichen Form denke, dann sehe ich Deutschland, sagen wir mal, vor 300 Jahren, also 1721. Der größte Teil der Bevölke­rung lebte von der Hand in den Mund, Hunger, Krankheit und Tod waren für die meisten von uns die ständige Begleitung und Bedrohung. Aber manchmal blieb doch etwas übrig, das man beiseitelegen konnte für besondere Gelegen­heiten. Und wenn dann jeder von seinen Habselig­keiten etwas dazutat, alle die Großmütter und -väter, die Mumen und Oheime, Vettern und Basen, Nachbarn und das ganze Dorf, dann konnte ein „Fest“ gefeiert werden. Und Groß und Klein war dabei. Dann zog man seinen Sonntagsstaat an, vergaß für ein paar Stunden alle Mühsal, tanzte und war „guter Dinge“. Und vielleicht hat man dann, vor dem nächsten Unwetter, der nächsten Dürre, vor dem nächsten Übergriff des Gutsherren oder dem kommenden Krieg, bereitwillig und lustvoll „über die Stränge geschlagen“, ein- oder zweimal im Jahr. Was für rauschende Höhepunkte müssen das gewesen sein!

Und heute? Was ist heute ein Fest? Jeder Kindergeburtstag ist ein Fest, jede Grillparty, jedes Club-Wochenende. Und wenn junge Leute abends weggehen, dann treffen sie sich zum „Feiern“. Nach einem Grund muss man nicht fragen, Feiern ist Selbstzweck geworden. Die Zweieinhalbliter-Flasche ist für ein paar Euro zu haben. Es geht uns so gut, dass wir jede Woche Feste feiern können. Und natürlich erodiert die Freude im Dauerregen der Spaßveranstaltungen, und das Wort „Fest“ bekommt in so einer Situation einen lauwarmen Geschmack, Weihnachten hin oder her.

Ich selbst bin ja so gar kein Feiertyp. Ein Gläschen Rotwein, ein gutes Gespräch, Nähe genießen, Vertrautheit mit Menschen, die ich mag und die mich mögen, nachdenkliche, ja auch besinnliche Stunden: gerne. Da blitzen dann immer wieder mal Minuten auf, die zu feiern sind oder doch wären, kurze Glücksspritzer auf die Alltagssuppe.

Manchmal verhilft das Alter zu Ansichten, die man in jüngeren Jahren gar nicht gewinnen könnte, zum Beispiel beim Pinkeln. Und von da zum Leben im Allgemeinen.

Pippi kommt bei Buben und Männern aus dem Penis. So weit, so klar. Das trifft auch auf Sperma zu. Wenn sich der Penis auf die Suche nach einer Frau macht, kommt häufig dabei Liebe hinten raus. Oder käufliche Liebe, je nachdem. Aber nur das, was gratis ist, ist wirklich etwas wert, genauer: das, was einem das Leben schenkt. Vielleicht werden deshalb ja Luft und Liebe oft in einem Atemzug genannt. Wobei ich mir bei der Luft schon nicht mehr sicher bin. Eines Tages werden wir auch dafür bezahlen müssen. Weiterlesen

Es ist mir bewusst, dass viele Menschen in meinem Umfeld eine Art Grundabneigung gegen alles haben, was aus Rom kommt (bis vor wenigen Jahren hätte ich mich dazugezählt). Bei denen möchte ich mich gleich entschuldigen für diese „spirituelle Belästigung“.
Unter dem Titel „Fratelli tutti – Geschwister sind wir alle“ hat Papst Franziskus am 4. Oktober 2020 eine Enzyklika veröffentlicht, in seiner Muttersprache Spanisch.
(Wer es nicht weiß: Mit Enzykliken richtet der Papst Lehrschreiben an die gesamte katholische Kirche weltweit.)

Und warum beschäftige ausgerechnet ich mich damit? Schließlich bin ich weder Katholik noch Christ. Weil ich das, was da steht, gedanklich für revolutionärer halte als vieles, was mir bisher über den Weg gelaufen ist. Leider besteht die Enzyklika aus 287 „Stücken“ bzw. rund 150 Seiten und ist damit für die meisten von uns nicht lesbar. Ein bekannter Theologe, Peter Schönhöffer, hat sich die Mühe gemacht, diese vielen Seiten zusammenzufassen, doch so „theologisch“, dass sich die dreizehneinhalb Seiten wieder nur für Insider eigneten. Ich habe seine Zusammenfassung (mit seiner Zustimmung) nochmals gekürzt und versucht, lesbar zu machen. Bobby
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Die Maßnahmen gegen Pandemie verschärfen die Hungersituation weltweit

Von Andreas Chajm Langholf

Zu Beginn: Bitte halten Sie kurz inne und ergänzen Sie: „Jedes fünfte Kind auf der Welt … “
Die Antwort, die in diese Rezension eingestreut ist, wird Sie überraschen und – hoffentlich – auch schockieren, so wie mich, als ich sie im vorliegenden Buch las.

„Wege aus der Ernährungskrise“ ist Teil der jährlich erscheinenden Reihe „Almanach Entwicklungspolitik“. Diese wird von der Entwicklungsorganisation CARITAS mit jährlich wechselnden Schwerpunktsetzungen wie Afrika (2020), Migration (2019), Klima und Armut herausgegeben.

Die Corona-Pandemie verschärft mit den dagegen ergriffenen Maßnahmen die Hungersituation im Übrigen drastisch, sodass die UNO bereits im April letzten Jahres vor „Hungersnöten biblischen Ausmaßes“ warnte. Leider ist diese Warnung im medialen Gewitter weitgehend untergegangen  – und das vor dem Hintergrund, dass über 820 Millionen Menschen hungern und zwei Milliarden unterernährt sind, – Tendenz bereits seit 2015 übrigens wieder steigend.

Zu Gliederung und Inhalten im Einzelnen

Nach dem Vorwort und der Schilderung entwicklungspolitischer Trends finden sich 15 gut recherchierte, mit Quellen, Anmerkungen und Begriffsdefinitionen belegte Artikel von ausgewiesenen Experten auf ihren Gebieten, übersichtlich gegliedert in drei Teile, sowie der Versuch einer Synthese aus Sicht der CARITAS Schweiz.

Teil I gibt einen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Problemfeldes Hunger, angefangen mit einer Übersicht zur gegenwärtigen Ernährungssituation sowie den Faktoren, die Hunger und Mangelernährung begünstigen; überdies zu strukturellen Problemen sowohl im agrarindustriellen wie politischen System. Dazu gibt es auch eine interessante historische Einordnung zu Mustern, Erklärungen und politischen Antworten der letzten 150 Jahre.

Dieser Beitrag leitet über zum Teil II mit lokalen und globalen Ansätzen der Hungerbekämpfung. Hier wird bereits ein weiter Bogen gespannt von Marktzugang über Wertschöpfungsketten bis hin zu Agrarökologie und Klimawandel.

Teil III thematisiert dann die großen Herausforderungen der Zukunft und Lösungsansätze wie Ausweitung des Ökolandbaus, mehr Landrechte für Frauen sowie benachteiligte Gruppen und präsentiert das Thema „Zugang zur Nahrung“.

Zwei Aspekte ziehen sich inhaltlich durch das Buch:

  • Bei Beendigung der Verschwendung und gerechter Verteilung gäbe es genug Nahrung für alle!
  • Wenn Worte Nahrung wären, dann gäbe es keinen Hunger!

Persönliche Bewertung

Tragischerweise fehlt den Verantwortlichen–und das sind nicht nur Politiker und Wirtschaftsbosse, sondern auch wir KonsumentInnen – aktuell trotz großer Verlautbarungen und nachhaltiger Entwicklungsziele der UNO oft noch der politische Wille, am großen Hungern in einer Welt des Überflusses etwas zu ändern. Dabei wird heute gerne von Politiker betont, es zähle jedes Leben.

Das Buch ist ein sehr gutes Überblickswerk zur ganzheitlichen Behandlung dieses komplexen Problemfeldes, dem nicht mit einfachen Ansätzen monokausal beizukommen ist. Ausgiebigen Quellen und Links laden zur weitergehenden Beschäftigung mit diesem Thema ein.
Ach ja, übrigens: Nur jedes 5. Kind im Alter zwischen 6 und 23 Monaten erhält laut FAO eine Ernährung, die den minimalen (!) Anforderungen für eine gesunde Ernährung entspricht.

 Manuela Specker, Wege aus der Ernährungskrise, 258 S., Caritas-Verlag 2020, ISBN 978-3-85592-173-7

Der Autor:

Andreas Chajm Langholf ist Diplom-Agraringenieur und seit vielen Jahren im Umweltschutz tätig.

Er verfasste freiberuflich Studien, u.a. für BUND und Artikel, u.a. in IGEL, Unabhängige Bauernstimme, Lebendige Erde, Sennaciulo, Kontakto u.a. und veröffentlicht auf Deutsch, Englisch und Esperanto. Darin beschäftigt er sich neben Ernährung auch mit den Themen Systemkritik, Konsum und nachhaltiger Lebensweise.

Daneben gibt er im kleinen Stil Seminare zu Selbstversorgung, lehrte zu Ernährung an Schulen und Universitäten und betreut Bauernhoffreizeiten für Kinder.

[Foto von Lothar Dieterich auf Pixabay ]

Nur ein echtes Ich kann zu einem echten Du finden.

„Vergiss das Wir, beginne beim Ich.“ Das klingt so befremdlich, dass man den Satz nicht ohne Widerwillen schlucken kann. Und doch könnte er so etwas wie eine neue Formel für kulturelle Transformation sein. Darf eine Aufforderung zum Ich sein, obwohl sich doch der kleinste gemeinsame Nenner der moralischen Erziehung quer durch die westliche Welt in der Mahnung ausdrückt: „Sei nicht so egoistisch.“ Schon Kleinkinder bekommen ihn zu hören, wenn sie im Sandkasten ihr Spielzeug nicht teilen wollen oder das große Brüderchen dem kleinen Schwesterchen die Schokolade wegfuttert. Das bekommt auch der Sohn des Managers zu hören, der am Monatsende 200.000 Euro einstreicht und dem Bettler am Straßenrand keinen einzigen davon gönnt. Weiterlesen

In einer bitteren Stunde habe ich folgende Änderung des Grundgesetzes vorgeschlagen:

„Der Satz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ möge umgeschrieben werden in ‚Die Würde des in Deutschland legal gemeldeten, weißhäutigen, gesunden, heterosexuellen, nicht vorbestraften, stabilen, wohlsituierten und arbeitstüchtigen Menschen unter 60 Jahren ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen behält sich die staatlichen Gewalt bis auf weiteres vor.‘ “

Umso mehr habe ich mich gefreut, kürzlich von Heiko Lietz folgenden Text erhalten zu haben:

Zum Tag des Grundgesetzes, am 23. Mai 2020 Friedensdom

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

wieder haben wir uns zusammengefunden, um an diesem Tag darüber nachzudenken, was es mit der Würde des Menschen auf sich hat. Es zieht sich ja wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit, dass es die Herrschenden mit der Würde des Menschen nie so genau  genommen haben, wenn es um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ging. Das war in der Sklavenhaltergesellschaft ähnlich wie im Feudalismus. das setzte sich fort im Kapitalismus und das ist auch im Sozialismus nicht viel anders gewesen. Deswegen stellt sich auch für uns heute die Frage, was wir dazu beitragen können, diese unzureichenden Verhältnisse zum Besseren zu wenden.

Es ist deswegen gut und wichtig, dass wir uns aus Anlass dieses Tages wieder einmal darauf besinnen, was unsere Gesellschaft eigentlich im Innersten zusammenhält. Entstanden ist dieses Grundgesetz aus den bitteren Erfahrungen der schlimmsten, menschenverachtenden Jahre deutscher Geschichte, der Nazidiktatur. In diesen Jahren wurde die Würde der Menschen nicht nur angetastet. Sie wurde verletzt, mit Füßen getreten, stranguliert, wurde für vogelfrei erklärt.  Juden, Sinti und Roma und viel andere wurden vergast, Systemgegner jeder politischen und religiösen Richtung wurden inhaftiert, gefoltert und hingerichtet. Als die Nazis dieses menschenverachtende Regime durch einen mörderischen Krieg über die ganze Welt ausbreiteten, verhinderten dies die Alliierten unter ungeheurem Blutvergießen. 1945 stand die Welt vor einem Scherbenhaufen. Um diesem ungeheuren Ausbruch von Brutalität und Menschenverachtung einen Riegel vorzuschieben, gründeten sie die Vereinten Nationen. Zum obersten Leitmotiv wurde in ihrer Charta die Würde des Menschen. Damit diese aber nicht zu abstrakt bleibt, entfalteten sie diese in überschaubaren Kriterien und verabschiedeten 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

Als sich die Bundesrepublik Deutschland 1949 gründete, machte sie diese grundlegenden Einsichten zur Basis des Grundgesetzes.

Folgender Satz wurde zum nicht verhandelbaren Fundament, zum ewigen Bestandteil für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Deutschland:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Es sind jetzt schon 71 Jahre her, seit dieser Artikel zur alleinigen Richtschnur deutscher Politik gemacht wurde. Leider wurden aber nicht alle Menschenrechte als einklagbare Grundrechte in diesem Grundgesetz verankert. Die sozialen wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte blieben draußen vor, z.B. das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit oder das Recht auf Bildung.

Als sich unser Land Mecklenburg-Vorpommern 1994 eine eigene Verfassung gab, stand ebenfalls die Würde des Menschen im Mittelpunkt.

Dort heißt es im Artikel 5: Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist um des Menschen willen da; es hat die Würde aller in diesem Land lebenden oder sich hier aufhaltenden Menschen zu achten und zu schützen.

Alle, d. h. nicht nur die deutschen Staatsbürger, sondern genauso auch die Flüchtlinge, Asylantragsteller, Durchreisende und alle, die sich, aus welchen Gründen auch immer, hier bei uns aufhalten. Das ALLLE Menschen damit eingeschlossen sind, ist mir als einer, der diese Verfassung als Mitglied der Kommission mitgeschrieben hat, besonders wichtig gewesen.

Es war aber schon ein Fortschritt gegenüber dem Grundgesetz, dass die sozialen wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte wenigstens als Staatzielbestimmungen aufgenommen wurden. Aber einklagbar wurden sie deswegen auch nicht.

So besteht die heutige Aufgabe auch weiterhin, sich entschieden für ihre Einklagbarkeit einzusetzen.

Das gilt umso mehr, weil sich in unserem Land schon wieder mehr und mehr Menschen gibt, die diese unveräußerlichen Rechte kappen wollen. Sie verbreiten die Parolen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ auf Straßen und Plätzen, in ihren Zeitungen und in sozialen Medien. Sie stecken Flüchtlingsheime an und schrecken inzwischen auch nicht mehr vor Mord und Totschlag zurück. Sie haben sich inzwischen auch in einer Partei eingenistet, um für eine Alternative zu kämpfen, in der die Würde JEDES Menschen nicht mehr gilt. Sie knüpfen dabei in ihrem Reden und Tun immer erkennbarer an Gedanken der Nazis an.  Der Schoß ist schon wieder sehr fruchtbar geworden, aus dem dies aller kriecht. Es ist deswegen höchste Zeit, dass wir uns noch vernehmbarer für diesen Artikel im Grundgesetz und unserer Verfassung einsetzen.

Aber mit der Corona-Epidemie steht dieser Kampf um die Grundrechte wieder ganz neu im Mittelpunkt. Immer wieder haben sich in den letzten Wochen Menschen auf Kundgebungen zusammengetan, um dafür zu kämpfen, dass das Grundgesetz mit seinen Grundrechten nicht auf der Strecke bleibt. Sie fühlen sich ihrer persönlichen Freiheitsrechte beraubt und meinen allen Ernstes, dass wir uns bereits in einer Gesundheitsdiktatur befinden. Auf diesen Kundgebungen haben sich inzwischen aber auch Menschen eingefunden, die das gesamte gesellschaftspolitische System aushebeln wollen. Dazu gehören Neonazis genauso wie Verschwörungstheoretiker.

Ist das wirklich so? Werden die Grundrechte wirklich außer Kraft gesetzt, wenn es darum geht, das Leben vieler Menschen vor dem Tod durch das Virus zu bewahren? Ist es nicht die Pflicht eines Staates, in dieser sehr schwierigen Situation eine Güterabwägung zu treffen? Das ist bei uns in Deutschland auch bei vielen Mängeln im Vergleich zu anderen Staaten wirklich recht gut gelungen. Wer das zu leugnen versucht, handelt unverantwortlich und verdreht die Tatsachen.

Aber wie müssten wir mit denen umgehen, die sich davon nicht überzeugen lassen wollen?

Gut wäre es, wenn wir alle miteinander in ein ehrliches Gespräch kommen könnten, wo wir unsere Meinungen und Ansichten miteinander austauschen, um in diesen Gesprächen gute Antworten auf die enormen Einschränkungen des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu finden. Das ist sicher eine außerordentliche Herausforderung, denn keiner von uns ist im Besitz der Wahrheit und weiß schon im Vornherein, was richtig und was falsch ist, was der Würde des Menschen dienlicher ist oder was sie erneut gefährdet. Deswegen ist es umso wichtiger, gerade heute offen miteinander zu reden und gemeinsam gute Lösungen zu finden, damit die Würde des Menschen auch in dieser schwierigen Situation nicht angetastet wird.