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„Sehen Sie“, sagte er zu seinem grauhaarigen Gesprächspartner, „ich kann ja verstehen, dass Sie als Alt-Achtundsechziger zum Putin-Versteher verkümmert sind, aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen, Krieg ist nun mal Krieg. Oder sind Sie auch da anderer Meinung?“

Ich erschrak schon beim Zuhören und zappte auf einen anderen Kanal. So viel Normopathie innerhalb eines Satzes war schwer zu ertragen. Von Stammtischen war mir das ja bekannt … ***

Normopathie scheint nicht nur auf Politiker überzugreifen, sondern zunehmend auch auf Journalisten und Intellektuelle. Eine spannende, wenngleich hier nur am Rande zu erwähnende mentale Grundlage für eine solch pathologische „Empfänglichkeit“ der Deutschen schufen die Nürnberger Gesetze, in denen das menschlich Abnorme (mit Begriffen wie „Rassenschande“, „artverwandtes Blut“, „Arier“, „Deutschblütigkeit“ etc.) zur gesellschaftlichen Norm erhoben und der Bevölkerung eingepeitscht wurde – was bis ins Jahr 2000 hinein mit dem Rechtsprinzip des Jus Sanquinis (des Blutrechts) in der BRD und der DDR fortgeführt wurde (mit Relikten bis heute). Auf die Übernahme von nationalsozialistischem Justizpersonal ins Rechtssystem der BRD sei nur kurz hingewiesen (Polizei, Justiz, Gefängnisaufsicht …); in der DDR gab es diesbezüglich 1952/1953 immerhin eine „Säuberung“ im Justizsystem.

Das Rückgrat der Globalisierung

Nun aber endlich zum Thema. Lassen Sie uns mit der „Norm“ beginnen. Zumindest eine Norm kennen wir alle: die DIN A4, das vermutlich erfolgreichste Exportprodukt Deutschlands seit 1922 und inzwischen als ISO 216 international genormt. Warum aber muss ein platt gewalztes Stück Papier aus der Kalanderwalze einer Normgröße unterworfen werden? Die Antwort fällt leicht: damit all die relevanten und weniger relevanten Papierprodukte entstehen können. Zu den relevanten gehörten zum Beispiel die Bibel, der Koran oder das Tripitaka, noch wichtiger sind das Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafgesetzbuch, am wichtigsten aber ist die Industrienorm ISO 9001, das druckfähige Rückgrat der Globalisierung. Weniger relevant sind all die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher dieser Welt, mit denen wir uns am Baggersee auf die Decke legen.

Der Doppelcharakter der Normen

Normen sind also mentale Ordnungselemente, die häufig dem Denken, Analysieren und Beurteilen vorausgehen. Sie sind die Glaubenssätze jeder Zivilisation, ganz gleich, ob wir von einer indigenen, einer asiatischen oder einer westlichen Zivilisation sprechen. Wer denkt schon beim Ausklappen eines Zollstocks daran, dass auf ihm der Zentimeter über den Zoll triumphierte, die metrische Norm über die nicht metrische, die heute offiziell nur noch in den USA, Liberia und Myanmar Vorschrift ist? Und welcher Mohammedaner überlegt lange, bevor er bei der Begrüßung die rechte Hand ausstreckt, seit Mohammed kundtat, dass der Teufel einen mit der linken Hand begrüßt?

Zusammengefasst: Ohne Normen ist ein geregeltes – und damit gewaltfreies – Zusammenleben nicht vorstellbar. Normen sind sinnvoll, aber nicht gut. Denn „gut“ ist ein Wertbegriff, der in der Regel abgrenzend oder gegenüber Fremdnormen auf einer vergleichbaren Ebene sogar abwertend klingt bzw. gemeint ist (es sei denn, es heißt: „gut für …“). Normen sind also beides: sinnvoll und bedenklich. Dieser Doppelcharakter der Norm wirkt sich besonders auf psychologischer Ebene aus.

Normen sieben die Spreu vom Weizen

Lassen Sie mich diese These illustrieren. Wer schon mal im Gebirge Wandern war, der kennt die Vorwarnung „Nur bei Trittsicherheit“. Begibt man sich auf einen solchen Steig, dann gelangt man gelegentlich an stark ausgesetzte Stellen, bei denen es einem schwindelig werden kann. Für diese Wegabschnitte kann man sich an der Gefahr oft an dicken Stricken, die mit starken Eisen im Fels gesichert sind, vorüberhangeln – sehr beruhigend. Meist verfliegen dann Anflüge von Höhenangst und man ist dankbar für eine solche Wegführung. Nun, Normen haben eine diesen Stricken vergleichbare Funktion. Sie ersparen uns langes Überlegen bzw. Befürchtungen, sich möglicherweise falsch zu verhalten. Wer nicht stiehlt, folgt einer Norm, wer es dennoch tut, verstößt gegen diese Norm und wird, so hoffen wir, bestraft. Normen verschaffen also nicht nur Sicherheit, sie trennen auch die Spreu vom Weizen. Selbstverständlich sind wir der Weizen (meistens jedenfalls und öffentlich immer). Normen sind die Sicherungsstricke durch unsere komplexe Wirklichkeit. Je einfacher eine Intelligenz gestrickt und/oder je schmaler ihr Horizont ist – Intelligenz und Horizontweite sind keineswegs kongruent –, desto bedeutsamer sind diese Stricke. Würde man die Mentalitäten von Menschen auf eine Ebene projizieren, so gäbe es Ebenen mit einer übersichtlichen Anzahl von Leitstricken und solche mit einem schieren Labyrinth davon.

Eine ganz normale Gewohnheit

Normen sind Spurrillen, auf denen unser Denken, Handeln und Reagieren, Sprechen und Kommunizieren mühelos und zuverlässig stattfindet. Das muss allein schon deshalb so sein, weil die uns allgegenwärtig umgebende Technik ohne Normen (ISO 9001 !) undenkbar wäre. Man stelle sich einmal vor, Hyundai folgte bei der Bremsenproduktion oder den Sicherheitsgurten anderen Normen als VW. Oder wir würden uns nicht an die Norm, im Straßenverkehr rechts zu fahren, halten. Haben Sie schon einmal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören (oder einer anderen Pseudosucht) oder Ihre Ernährung auf „vegan“ umzustellen? Gewohnheiten sind zwar keine Normen im eigentlichen Sinn, aber auf psychischer Ebene funktionieren sie genauso. Eine Gewohnheit zu ändern, ist verdammt schwer und umso schwerer, wenn sie den Normen oder Gewohnheiten einer sozialen Gruppe zuwiderläuft, also z. B. seine Zigarettenabstinenz in einer Gruppe von Rauchern aufrechtzuerhalten.

Angenehmer Zwang

Die meisten Menschen – ich schätze mal, mindestens 80 Prozent – bemerken die Spurrille, auf der sich ihr mentales oder emotionales Fahrzeug bewegt, gar nicht. Und wenn doch, so sind sie meistens froh um die Zuverlässigkeit, mit der sie das Gefährt via Autopilot durchs Leben manövriert. Der verbleibende Rest muss mit dem gefühlten Verhaltenszwang umgehen, der durch die Norm ausgelöst wird. Die häufigste Reaktion ist das Verwerfen einer Norm, indem man sich einer anderen Norm unterwirft, etwa wenn Jugendliche gegen die Konventionen ihrer Eltern protestieren und in die Normen einer Clubkultur oder einer Gamer-Community abtauchen; oder wenn Christen aus Protest Mohammedaner werden und, und, und … Eine weitere, häufige Reaktion auf Normenzwang besteht in einer dem Stockholm-Syndrom ähnlichen Fühlweise: Wenn ich mich gegen einen Zwang nicht wehren kann, dann entgehe ich der (ansonsten) permanenten emotionalen Spannung, indem ich zu dem, was mich zwingt (dem Entführer, dem Vater, der Mutter, den Lehrern, Vorgesetzten und Zollbeamten, dem Gesetz, der Norm) ein emotional positives Verhältnis aufbaue. Ich „frame“ den Zwang als gut und sinnvoll für mich und für alle anderen. Das ist zwar noch keine Normopathie, aber doch ein entscheidender Grundstein dafür, der sich auf sexueller Ebene zum Beispiel im Masochismus äußert: Erst in der Unterwerfung werde ich lustfähig.

Die ganz normale Normopathie

Der „ganz normale“ Normopath gibt seine innere Distanz zur Norm vollständig auf und überantwortet sich ihr: Sicherheit pur. Die Norm wird ihm nicht nur zum Gewissensersatz, sondern auch zum allein selig machenden Bewertungsmaßstab seiner Umgebung (z. B. sind dann alle Andersdenkenden „Querdenker“). Die Individualität des Normopathen schnurrt auf die flache Dimension einer Norm zusammen. Daran musste ich denken, als ich kürzlich das Interview mit einer Bürgermeisterkandidatin der CSU verfolgte, die gefragt wurde, ob sie sich einen Lebenspartner vorstellen könne, der in einer anderen Partei Mitglied sei. Ihre impulsive und geradezu heftige Reaktion: „Nein, das wäre unmöglich.“ Quod erat demonstrandum, die Fessel sitzt. Die arme Frau.

Normen sind sozusagen das Wasser, in dem der Fisch schwimmt und über das er gar nicht erst nachdenkt. Für den „Fisch Mensch“ ist der Kapitalismus ein solches „Wasser“, ein mehrdimensionales Normengewebe, das ihn unsichtbar in seiner Wachzeit umgibt und beinahe jede (!) seiner Handlungen reguliert, steuert oder überhaupt erst auslöst. Nun gehört es zur Pathologie der Normopathen, dass er seine Normen für wahr und wirklich nimmt, für selbstverständlich, oft sogar für „natürlich“. Das Norm-Thema „Heterosexualität“ war eine solche Norm, die der Durchschnitts-Hetero jahrhundertelang für „natürlich“ hielt. Die Nachricht, dass auch im Tierreich Homosexualität keine Seltenheit ist, musste ihn bestürzen. Oder: Wenn die Person A einen Krieg für unmoralisch hält und deshalb bereitwillig in den Krieg zieht, um ihrer Norm konform in den kriegerischen Konflikt einzugreifen, muss sie zwangsläufig mit ihrer eigenen Norm ein Problem haben und ist deshalb zu Scheinlösungen und Heuchelei gezwungen.

Warum „zwangsläufig“? Weil sich die Wirklichkeit von A, auch wenn es sich bei ihm um ein sehr einfach gestricktes Gemüt handeln sollte, mit ihren unübersehbar vielen Variablen nur sehr eingeschränkt normieren lässt. Die Wirklichkeit ist nicht normierbar (schon die relativ einfache Ökologie eines Naturtümpels lässt sich in keinem Labor der Welt 1:1 nachbauen); jeder Normversuch muss also von der Vielfalt der Wirklichkeit und ihren täglich wechselnden Dimensionen – interessengesteuert – abweichen, was A dann aber leugnen muss. So muss A in unserem Beispiel zwangsläufig all die vergessenen (oder wohlweislich übersehenen) Kriege, momentan etwa die im Sudan oder in Mosambik, Myanmar oder West-Papua wütenden Kriege, ebenso ausblenden wie das normunabhängige Leiden jeder Kriegspartei, jedes einzelnen vom Krieg betroffenen Menschen sowie den Lustgewinn der Kriegsprofiteure. Ganz ähnlich, nur in einem global größeren Maßstab, verhält es sich mit den jährlich Millionen von Hungertoten, die wir geflissentlich übersehen, damit wir auf die Normen unseres Wohlstands pochen können. Aber das ist eben ganz – normal.

Zur Selbstüberprüfung

Den grassierenden Zustand der Normopathie habe übrigens nicht ich erfunden. Er gehört zu den psychiatrischen Analysewerkzeugen und ist festgelegt in den ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, einer medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation. Normopathie wird, wie viele andere pathologische Geisteszustände, von den Befallenen in der Regel nicht wahrgenommen, sondern tendiert vielmehr dazu, auch die Menschen des persönlichen Umfeldes vereinnahmend zu affizieren. Daher hier die offizielle Definition:

Unter Normopathie wird eine Persönlichkeitsstörung des Menschen verstanden, die sich in einer zwanghaften Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende und normgerechte Verhaltensweisen und Regelwerke innerhalb von sozialen Beziehungen und Lebensräumen ausdrückt. Ein treibendes Moment hierbei ist das unter Aufgabe der eigenen Individualität übersteigerte Streben nach Konformität, das letztlich zu unterschiedlichen Beschwerdebildern und Symptomatiken führt und sich zu einem pathologischen Geschehen ausweiten kann; das heißt, gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden als solche nicht mehr hinterfragt oder gar erkannt. Die unbedingte Überanpassung an sozio-kulturelle Normen wird damit zur Krankheit. Da im Prinzip der Wunsch nach Normalität nicht als krankhaft, sondern eher als eine gesunde Einstellung gilt, wird die Pathologie des Geschehens mit ihrer häufig somatoformen Symptomatik oft nicht als solche wahrgenommen. (Wikipedia)

*** Bei den Worten „Alt-Achtundsechziger“, „Putin-Versteher“ und „Krieg“ handelt es sich um Begriffe, die sehr stark normabhängig, meist feindselig und kommunikationsstörend verwendet werden.

Von Charles Eisenstein
(viele Übersetzungen seiner Essays auf Charles Eisenstein auf Deutsch)

Eine liebe Freundin hat sich heute an mich gewandt, eine hochgeschätzte Älteste im Way of Council, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich sagte, dass es mir so vorkomme, als beobachte ich einen Zusammenstoß in Zeitlupe, und verspüre dabei dennoch eine eigenartige Heiterkeit, während sich die Katastrophe abspielt. Denn die Zeit, die Fahrer zu beschwören, sie mögen bitte das Lenkrad herumreißen und auf die Bremse treten, ist vorbei. Das haben wir lange Zeit getan, aber sie haben stattdessen beschleunigt, und jetzt ist die schon lang vorausgesehene Kollision unvermeidlich. Tatsächlich passiert sie bereits.

Eines Tages werden alle – Fahrer, Passagiere und Zuschauende – mit einem ernüchterten Blinzeln aus Trümmern und Staub hervorkommen, um die Verletzten zu versorgen und die Toten zu betrauern und zu fragen, was sie nun in ihrer neu gefundenen Freiheit zusammen erschaffen sollen.

Wer weiß, wann dieser Tag kommt. In einer bestimmten Zeitlinie wird es in ungefähr drei Jahren der Fall sein. Diese Zeitlinie hängt davon ab, ob wir als Kollektiv willens sind, eine Information zu akzeptieren und zu integrieren, die alles bisher gemeinsam für wirklich Gehaltene von Grund auf erschüttert. Diese Information wird ein neues Menschheitsdrama unterfüttern, wenn wir uns dafür entscheiden.

Vorhersagen eines beginnenden neuen Kapitels in der Menschheitsgeschichte – wähle ein beliebiges Datum: 2028, oder war das 2012, oder vielleicht die Harmonische Konvergenz 1987 – sind eigentlich keine Vorhersagen, sondern Prophezeiungen. Eine Vorhersage ist objektiv. Sie lässt dem Handeln der Beteiligten keinen Spielraum. Wenn ich den Sieger in einem Fußballspiel vorhersage (das ist mein Nebenjob), setze ich voraus, dass ich keine Möglichkeit habe, das Ergebnis zu beeinflussen. Ich spiele nicht mit. Dagegen wird eine Prophezeiung nur dann wahr, wenn die Leute ihre Entscheidungen an den davon eröffneten Möglichkeiten ausrichten.

Früher habe ich geglaubt, dass der Kollaps uns retten würde. Dass wir damit aufhören würden, die Natur, einander und unsere eigenen Körper zu zerstören, weil wir damit aufhören müssten. Das glaube ich nicht mehr, genauso wenig wie der Aufprall auf einem Tiefpunkt einen Süchtigen retten kann. Der „Tiefpunkt“ ist der Augenblick, wo der Süchtige eine andere Entscheidung trifft. Der Kollaps von zunächst einer, dann immer weiteren Dimensionen seines Lebens – Arbeit, Ehe, Familie, Gesundheit, Freiheit – bietet ihm eine ganze Reihe von Einladungen. Dies sind Augenblicke, wo eine Wahlmöglichkeit zur Verfügung steht, wenn die Dynamik innehält und er vor der Frage steht, ob er bereit ist, einen anderen Weg einzuschlagen. Was für den einen Süchtigen der Tiefpunkt ist, ist für einen anderen vielleicht nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur Hölle.

Unsere Gesellschaft nähert sich genau solch einem Augenblick, solch einem Entscheidungspunkt.

Von unseren vielen kollektiven und individuellen Süchten ist diejenige, von der ich jetzt sprechen werde, die Anhaftung an den Gepflogenheiten des Krieges.

Kriegsmentalität ist nicht Gewaltdurst oder Kampfeslust. Kriegsmentalität ist ein Denkmuster und eine Sehgewohnheit. Sie teilt die Welt ein Wir und Die, Freund und Feind, Held und Schurke. Sie bietet Lösungen im Sinne von Sieg, und Erfolg im Sinne von Gewinn. Sie benutzt Bestrafung und Beschuldigung, Abschreckung und Rechtfertigung, richtig und falsch. Sie macht süchtig, denn wenn sie ein Problem nicht lösen kann, beseht die Lösung in der Erhöhung der Dosis. Sie erweitert sich auf neue Feinde und neue Kämpfe. Wenn kein offensichtlicher Gegner zu finden ist, der an der sich verschlimmernden Lage schuld sein könnte, sucht sie intensiver, um einen zu finden, oder sie erschafft stattdessen selber einen.

Die Lösung, die die Kriegsmentalität für jedes Problem aufzeigt, ist es, das Schlechte zu finden und auszurotten. Diese Lösung lässt sich auf unterschiedliche Gebiete menschlichen Handelns anwenden: Landwirtschaft (töte die Schädlinge), Medizin (finde einen Erreger), Sprache (zensiere böse Begriffe), politische Konflikte (töte die Terroristen), öffentliche Sicherheit (sperre die Kriminellen ein). Komplizierte Probleme, wie die in Amerika weit verbreitete Fentanylsucht oder der Niedergang der Industrie, lassen sich auf einfache, wenn auch vergebliche Lösungen reduzieren, sobald man jemanden findet, dem man die Schuld zuweisen kann. Die Chinesen! Die mexikanischen Kartelle! Diese Vorgehensweise bietet eine gewisse Erleichterung, obgleich sie selten Erfolg hat.

Die desaströse Antwort des Gesundheitswesens auf Corona wurde von Kriegsmentalität gespeist. Nach Jahrzehnten nachlassender Gesundheit und einem Anstieg bei chronischen Erkrankungen, wofür sich kein äußerer Übeltäter ausmachen ließ, hatte man endlich eine Bedrohung, die bestimmt und beherrscht werden konnte. Also wurde die ganze Angst der Bevölkerung auf den neuen schauderhaften, bösen Kerl projiziert. Die Gewohnheit des Finde-den-Feind-Denkens machte die Öffentlichkeit so empfänglich für Strategien, die sich von dumm über absurd bis hin zu tyrannisch erstreckten.

Unsere Führungspersönlichkeiten konstruieren ein Narrativ, das das Böse auf eine bestimmte Person, Nation oder Gruppe festlegt, und das gewohnheitsmäßige Kriegsdenken erledigt den Rest. Schon bald ist die Bevölkerung bereit, Krieg, Zensur, Lockdown, die Aufhebung von bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitzutragen.

Dasselbe grundlegende Denkmuster treibt auch Verschwörungserzählungen an. Wenn wir die Ursache aller Ungerechtigkeiten und Schrecken der Welt auf eine verschwiegene Gruppe von miesen Akteuren, eine psychopathische Clique zurückführen, dann sind unsere Probleme theoretisch leicht lösbar1. Genauso, wie eine Krankheit, die von einem Erreger verursacht wird, durch das Abtöten des Keims geheilt werden soll, könnten wir die Krankheit der Gesellschaft heilen, indem wir die Pathokraten von der Macht fernhielten.

Selbst in Fällen, wo ein Erreger die direkte Ursache ist, müssen wir immer noch fragen, welche Bedingungen den Organismus für diesen Erreger empfänglich machen. Einige in meiner Leserschaft halten mich für naiv, weil ich den Einfluss einer satanischen Clique innerhalb der Machtelite bei der Manipulation des Weltgeschehens unterschätze. Aber für mich ist die wichtigste Frage nicht, ob eine derartige Clique existiert. Es ist das psychosoziale Muster, das es ihr erlaubt, die Oberhand zu behalten – ob sie nun existiert oder nicht.

Dieses Muster ist wiederum die Kriegsmentalität. Es ist die Wir-gegen-Die-Denkweise. Es ist Entmenschlichung und „Othering“, die Aufteilung der Welt in Vollmenschen und Untermenschen. Letztere Kategorie kann die Form von Rassismus, Sexismus, Homophobie und so weiter annehmen, oder schlicht Verachtung für alle, die eine andere Meinung haben.

Sind zwei Seiten erst einmal in die Kriegsmentalität verstrickt, verstärkt sie sich wie eine Sucht, bis alles andere aufgezehrt ist.

Hass und Verachtung sind in der amerikanischen Politik immer mehr außer Kontrolle geraten. Triggerwarnung: Es ist nicht möglich, über dieses Thema zu schreiben und dabei den Narrativen beider Seiten treu zu bleiben. Wenn du vollkommen davon überzeugt bist, dass a) Trump für eine faschistische, oligarchische Vereinnahmung der Demokratie steht, die die übelsten rassistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Elemente der amerikanischen Psyche ausnützt, um alles zu zerstören, was in Amerika gut und menschlich ist, oder b) die MAGA2-Revolution Freiheit und Gesundheit in ein System zurückbringen wird, das von einem Tiefen Staat vereinnahmt worden war, der Umweltschutz und gesellschaftliche Teilhabe als Vorwände für ein totalitäres Kontrollsystem benutzte, oder c) irgendein anderes Narrativ, das die Welt in Team Gut und Team Böse spaltet, ja, dann wirst du verwirrt den Kopf darüber schütteln, dass Eisenstein von allen guten Geistern verlassen ist. Du bist frustriert, sogar wütend, dass ich argumentiere, ohne dabei die Bösen lauthals anzuprangern. Wenn man dem absolut Bösen gegenübersteht, ist doch keine andere Reaktion zulässig, außer es mit allen erforderlichen Mitteln zu bekämpfen.

Wie einfach wäre dann alles. Wie leicht würde man zum Helden der Geschichte.

 

Das höchste Kriegsziel ist es natürlich, den Gegner zu schlagen. Der Unterschied zwischen Krieg und Spielen, Sport, Wettbewerb und – in gewöhnlichen Zeiten – der Politik ist, dass in den letztgenannten Bereichen etwas wichtiger ist als das Gewinnen, nämlich die Spielregeln. Fußballmannschaften versuchen normalerweise nicht, ihre Gegner zu vergiften. Das Spiel selbst ist ihnen heiliger als es zu gewinnen. In einer funktionierenden Demokratie, in der alle Parteien die Verfassung oder einen Kanon von Normen und Werten hochhalten, gibt es bestimmte Tabus, die sie nicht um des Sieges willen verletzen würden. Die Politik in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern steuert immer näher auf einen Krieg zu – unausweichlich, wenn jede Seite die andere als Verkörperung des Bösen betrachtet. Heute sind in meinem Land sowohl die Linke als auch die Rechte ganz sicher, dass die andere Seite „eine Bedrohung für die Demokratie selbst“ darstellt.

In dieser Gewissheit wird jede Seite zu dem, was die andere fürchtet. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die alte politische Elite und die Trump’schen Usurpatoren sind in einem Teufelskreis gefangen. Wenn eine Seite in ihrem absoluten Machtstreben nachlässt und dessen Unbarmherzigkeit aus Respekt vor demokratischen Grundsätzen vermindert, wird die andere Seite dies als Schwäche ausnützen. Sobald eine Seite ihre Skrupel ablegt, müssen das alle Seiten tun. Wenn bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft betrügt, kann die andere nur dann gewinnen, wenn sie auch betrügt.

Im Kampf gegen das Böse ist jedes Mittel gerechtfertigt. Man muss womöglich die Demokratie zerstören, um sie zu retten, die freie Rede unterdrücken, um freie Rede zu bewahren, Wahlen streichen, um das Wählen zu verteidigen. Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Es genügt inzwischen nicht mehr, die Gegner nur bei einer Wahl zu besiegen; sie müssen auch eingekerkert werden. Die Vereinigten Staaten, die Türkei, Frankreich, Brasilien und Rumänien haben jeweils während des vergangenen Jahres oppositionelle Politiker mit fadenscheinigen Anklagen verfolgt, was eine Rückkehr zum historischen Werkzeug signalisiert.

In den Vereinigten Staaten hat der Oppositionspolitiker, Donald Trump, den Klagekrieg überlebt und die Wahl gewonnen. Es fragt sich: Ist das nun ein Sieg für die Demokratie oder einfach ein Sieg für Donald Trump? Wird er die politische Aufrüstung von Bundesbehörden wie dem Justice Department [Justizministerium], IRS [Bundessteuerbehörde], State Department [Außenministerium], CISA [Bundesbehörde für IT-Sicherheit], CIA [Geheimdienst] und FBI [zentrale Sicherheitsbehörde] beenden oder wird er sie lediglich auf neue Zielobjekte ausrichten? Wird er freie Rede und bürgerliche Freiheiten wiederherstellen oder wird er mit den Werkzeugen Zensur und Überwachung neue Feinde ins Visier nehmen?

Wird Donald Trump den Ring der Macht in die „Schicksalsklüfte“ werfen? Oder ist der „Ring“ nur auf andere Hände übergegangen, wobei die Technologie seine Kräfte (Zensur, Propaganda, Überwachung, Konto-Entzug) noch verstärkt?

Tut mir leid, aber es sieht nicht gut aus. Um nur ein Beispiel auszuwählen: „Antisemitismus“ (definiert als jegliche Kritik am Staat Israel) hat „Desinformation“ als Vorwand, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit, den Schutz vor unangemessenen Durchsuchungen und Beschlagnahmungen (Überwachung) und das Recht auf einen ordnungsgemäßen Gerichtsprozess zu missachten, ersetzt. Die Festnahmen von Rumeysa Öztürk und Mahmoud Khalil aufgrund von „Unterstützung der Hamas“ (also Widerstand gegen das Abschlachten, Verhungernlassen und die ethnische Säuberung Gazas durch Israel) sowie der Druck auf Universitäten, die Studentenproteste abzustellen, haben einen eiskalten Präzedenzfall geschaffen.

Trump hat das Land immerhin vom Kriegspfad mit Russland abgewandt, aber er bringt das Land nicht vom Pfad des Krieges ab. Die oberen Ränge seiner Regierung sind von Kriegsmentalität durchdrungen. Statt gegen Russland führt der Kriegspfad nun in Richtung Iran und China.

Die Kriegsmentalität benötigt immer einen Feind. Wenn sich kein Feind anbietet, erschafft sie einen. Die Helden-Nation benötigt einen Schurken. Der Sieger benötigt einen Verlierer. Wenn ich erwarte, dass du auf meine Kosten Profit machen willst, und ich dich dementsprechend behandle, dann wirst du vermutlich meiner Erwartung folgen. Erblicke eine Welt voller Feinde, und es werden Legionen von Feinden auftauchen.

Ich will fair bleiben: Donald Trump ist keineswegs auf Abwegen in seinem Glauben, dass jedermann immer das Beste für sich herausschlagen will. Das ist die Grundannahme der klassischen Wirtschaftswissenschaften, selbst der Evolutionsbiologie, wonach wir von unseren Genen dafür programmiert sind, unsere eigene Fortpflanzung zu maximieren. Diese Paradigmen sind jedoch seit langem überholt. Das eigenständige und vereinzelte Selbst ist ein Prisma, das nur eine Wellenlänge der Regenbogenfarben des Lebens wiedergibt, aber verbirgt, was wir heute dringend erkennen müssen.

Denn die Welt ist so viel mehr als eine Ansammlung von einzeln im Wettbewerb stehenden Wesen; sie besteht aus Vernetzungen und wechselseitigen Abhängigkeiten; Strategien, die sich auf das Wir-gegen-Die-Denken stützen, schaden unweigerlich genauso dem „Wir“ wie dem „Die“. Krieg im Ausland bringt Gewaltherrschaft im Inland. Häusliche Gewalt nimmt zu und spiegelt die auswärtige Gewalt. Umweltzerstörung erzeugt Krankheit bei Menschen. Und jedes Wirtschaftsprogramm, das die Gesamtvernetzung der modernen Ökonomie nicht berücksichtigt, wird auf seinen Urheber zurückfallen.

Gestattet mir eine kurze Abschweifung auf die Ökonomie und Trumps Zölle. Das Konzept hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Vorsichtig geplante Zölle, die schrittweise im Tempo der Anpassung des Gewerbes erhoben werden, könnten zu positiven Zielen beitragen: Wiederbelebung lokaler und regionaler Wirtschaft, Abkehr von der Finanzialisierung der Volkswirtschaft und das Ende vom globalen „Rennen in Richtung Tiefpunkt“, bei dem der Freihandel Arbeiter aus der ganzen Welt gegeneinander in den Ring schickt. Leider sind Trumps abrupte Pauschalzölle weder vorsichtig geplant noch angepasst. Sehr wahrscheinlich werden sie Hunderttausende Geschäfte in den Ruin und Millionen Familien in die Armut treiben, sowohl in den USA als auch im Ausland. Die Zölle werden zunächst sofortige Auslagerungen und langfristig massive Unwirtschaftlichkeit bewirken. Es existieren hier weitere Schwierigkeiten, über die ich noch extra schreiben werde. Was uns momentan interessieren soll, ist, dass der Fehler in der Zollpolitik einem grundlegenden Missverständnis über die gegenseitige Abhängigkeit in der Wirtschaft entstammt, einem Missverständnis, das jedem, der im Wir-gegen-Die-Denken gefangen ist, ganz selbstverständlich passiert.

Aus Beobachtungen meiner Freunde und Bekannten im „inneren Kreis“ schließe ich, dass Trumps Team ernsthaft daran glaubt, dass es selbst die Rechtsstaatlichkeit hochhält, indem es seine politischen Gegner wegen echter Kriminalität verfolgt und korrupten Nichtregierungs-Organisationen (die zufällig auch von seinen politischen Gegnern geleitet werden) die Finanzierung streicht. In der Tat gibt es bei den bestehenden Institutionen jede Menge Kriminalität. Die Behörden, die Trump abbaut, wie USAID, NED [US-amerikanische Denkfabrik für liberale Demokratie] und USIP [US-Friedens-Akademie], haben dabei mitgewirkt, die neoliberale Weltordnung zu festigen und das neokonservative Programm allumfassender Dominanz zum Einsatz zu bringen. Trumps Team sieht sich selbst als Reformatoren, die die Ehre und den Wohlstand der Nation wiederherstellen. „Den Sumpf trockenlegen“ und „Make America Great Again“ sind keine zynischen Schlagworte.

Betäubt von berauschenden Idealen kann das Team Trump nicht sehen, dass sein Programm genauso auf eine andere Beschreibung passt: Machtergreifung.

Wenn sie mit dieser Einschätzung konfrontiert wären, würden einige in Trumps Umfeld ihr wahrscheinlich zustimmen. Sie könnten antworten: „Was haben wir denn für eine Wahl, wo wir doch einem skrupellosen Tiefen Staat gegenüberstehen?“ Ganz ähnlich könnten seine Gegenspieler in einem ehrlichen Augenblick zugeben, dass sie tatsächlich die Gerichte, das FBI usw. gegen Trump und seine Anhänger mobilisiert und alle Arten von Betrug angewandt haben, aber was hatten sie denn für eine Wahl, wo doch eine neofaschistische Bewegung dabei war, das Land zu übernehmen?

Was beide Seiten glauben, ist, dass die andere Seite mehr nach Macht giert als sie die Demokratie wertschätzt. Damit das Spiel jedoch funktioniert und nicht in Krieg abgleitet, muss jede Seite glauben, dass der anderen das Spiel an sich (faire Wahlen, die Verfassung) wichtiger ist als der Sieg im Spiel. Wenn man überzeugt ist, dass die andere Seite betrügt, muss man auch betrügen.

Zweifellos glauben auf beiden Seiten viele, dass das jetzt „vorübergehende Maßnahmen“ sind; dass sie, wenn sie schließlich über die antidemokratischen Kräfte auf der anderen Seite triumphiert haben, dem Volk die Macht wieder überlassen werden. Doch so läuft das nie. Jede Seite glaubt aus gutem Grund, dass ein Sieg der Gegenseite von Dauer sein wird. Deswegen der eskalierende Kampf auf Leben und Tod, der Teufelskreis, der unausweichliche Zusammenstoß.

* * *

Was mich in den letzten zehn Jahren meines Friedensengagements am meisten beunruhigt hat, sind nicht die Aktionen und Einstellungen von Politikern, sondern das Einsickern der Kriegsmentalität in die Gesamtbevölkerung, die anschwellende Flut allgegenwärtigen Hasses. Der ist die Energie, aus der die psychopathischsten Elemente der Oligarchie schöpfen. Er ist ihr Lebensblut. Er ist ihre Kraftquelle. Er ist ihre Herrschaftsgrundlage – indem sie ihre Untertanen gegen einander wendet. (Mit „sie“ meine ich die Oligarchie und nicht die Oligarchen, denn Letztere sind Marionetten der Systemdynamik und damit unabhängig von den Individuen, die ihre Rolle innehaben.) Der Haupttrick in ihrem Werkzeugkasten psychopolitischer Taschenspielerei ist es, die primäre Wut der Enteigneten auf ein falsches Zielobjekt auszurichten, in erster Linie Wut umzuwandeln in Hass. Paradoxerweise gedeiht das System, das die Eliten emporhebt, sogar dann, wenn die Eliten selbst die Hassobjekte sind. Eine Elite kann gegen eine andere ausgetauscht werden, neuer Wein in alten Schläuchen.

Als ich diesen Artikel vorbereitete, habe ich nach persönlichen Geschichten über die Auswirkungen der von der DOGE [neue US-Behörde für effiziente Verwaltung] veranlassten Kürzungen gesucht. Ein Freund stellte mich bei einigen Kleinbauern in einer bestimmten, eher linken Zurück-aufs-Land-Gegend vor. Sie wollten nicht mit mir reden. Eine queere Person dort gab ihrer Furcht Ausdruck, dass sie in Gefahr geraten könnten (ich nehme an, durch meine wutschäumende, transphobische MAGA-Leserschaft). Eine andere, die sich im Autismus-Spektrum verortete, machte sich Sorgen wegen meiner Nähe zu Leuten, die abstruse Theorien über Autismus verursachende Impfstoffe verbreiten. Ich versicherte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten, selbst wenn vielleicht jemand meinen Essay läse, der Furcht und Hass gegenüber queeren Menschen hegt, weil ich ja keinerlei Grund hätte, sie in einem Gespräch über die Auswirkungen der Mittelkürzungen für nachhaltig wirtschaftende Landwirte namentlich zu nennen oder ihre Geschlechtsidentität zu erwähnen. Was das Impfthema angeht, naja, ok, ich glaube in der Tat, dass die Impfungen im Kindesalter zum Teil für den sprunghaften Anstieg von Autismus und chronischen Erkrankungen bei Kindern verantwortlich sind. Aber es gibt keinen Grund, autistische oder sonstwie neurodivergente Menschen an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil: Diese Menschen haben Begabungen, die für den Wandel unserer Gesellschaft unentbehrlich sind.

Aber ich schweife ab. Was hier eigentlich vorging, war, dass mich meine Verbindungen und Meinungen zu bestimmten politisierten Themen als Mitglied der gegnerischen Seite kennzeichneten, der bösen Seite, der unberührbaren Seite. Es ist gewissermaßen „nicht sicher“ sich mir zu nähern. Ich hab‘ nämlich die Krätze, und alle, die mir nahe sind, könnten sie kriegen. Während der McCarthy-Ära konnte es deine Karriere zerstören, wenn du auch nur in Gesellschaft einer Kommunistin gesehen wurdest. Sich unter Hitler mit Juden gemein zu machen, bedeutete auch für dich selbst das Risiko von Inhaftierung oder Schlimmerem. Wenn ein Weißer in der Jim Crow Ära in den Südstaaten nett zu Dunkelhäutigen war, riskierte er, ausgegrenzt oder gar gelyncht zu werden. Es macht Angst, sich mit den gesellschaftlich nicht Salonfähigen zu verbinden, denn ihr Status ist ansteckend. Die Tatsache, dass meine Absicht darin bestand, einige Geschichten vorzustellen, die die Leute aus dem Trump-Beweihräucherungs-Syndrom (Gegenteil des Trump-Gestörtheits-Syndroms) aufwecken könnten, zweifellos ein edles Ziel in den Augen meiner Korrespondentinnen, reichte nicht aus, das Tabu gegen die Verbindung mit einer gesellschaftlich unzulässigen Person zu überwinden.

Dieser immer größer werdende Abgrund in unserer Gesellschaft neigt auch dazu, sich selbst zu verstärken. Hat er genügend Schwung, geht er unaufhaltsam in Richtung Bürgerkrieg oder Völkermord. Ich habe die Chauffeure dieser Fahrzeuge viele Jahre lang angefleht, in eine andere Richtung zu lenken. Jetzt habe ich genug vom Anflehen. Das Drama wird sich von selbst abspielen. Warum habe ich genug davon? Ein Gefühl von Vergeblichkeit und Überdruss. Naja, ich glaube, ich habe noch nicht ganz genug – ich schreibe gerade darüber. Und ich kann mir schon den Hass vorstellen, den ich auslösen werde, indem ich die Narrative beider Seiten verletze: meine „Unfähigkeit, X zu berücksichtigen“, mein „weißes Privileg, das mich gegenüber Y blind macht“, meine „fehlende Bereitschaft, die Realität des Bösen anzuerkennen“, oder dass ich auf Trump hereingefallen bin, oder gekniffen und ihn verraten habe, oder ein feiger Zaungast bin, oder mich dem Luxus des Beidseitismus hingebe … Es geht nicht so weit, dass ich diese Anschuldigungen als persönliche Beleidigung betrachte, aber sie sind ein Alarmsignal dieser Zeit. Wenn ich, ein Friedens-Verkünder, so leicht auf die Stufe des Unberührbaren gestellt werden kann, welche Hoffnung gibt es dann noch für Verständnis oder Versöhnung zwischen den Krieg führenden Blöcken einer Gesellschaft?

Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Letzte Woche habe ich mich von einem weisen Mann beraten lassen, einem meiner spirituellen Führer. Ich verrate seinen Namen nicht, damit ich ihn nicht mit meiner Krätze infiziere. Ich sage nur, dass er aus Afrika stammt und ein hoher Eingeweihter in süd- und westafrikanischen Weisheitsschulen ist, aber auch in der westlichen hermetischen Tradition. Er fixierte mich mit einem durchdringenden, freundlichen Blick und teilte mir mit, dass meine Nebennieren- und Blutzucker-Probleme daher kommen, dass mich meine öffentliche Tätigkeit zu einer Projektionsfigur gemacht hat. Die Angriffe landen auf meinem Körper, sagte er. Ich fragte, was ich tun könne, wenn die Gesellschaft anscheinend verrückt geworden ist. Er antwortete: „Warte ab.“

Diese Anweisung, „Warte ab“, ist kein Aufruf zur Passivität. Es geht darum zu erkennen, wann die Zeit zum Handeln gekommen ist, und wann Handeln vergeblich oder kontraproduktiv wäre. Sie bedeutet ebenso zu erkennen, dass es Kräfte gibt, die weit jenseits unserer eigenen in der Welt wirken. Und sie bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Dramen bis zu ihrem Ende durchgespielt werden müssen, bevor ein neuer Akt beginnen kann. Jetzt ist vielleicht – zumindest für mich – nicht der Zeitpunkt, um Krieg führende Parteien zur Versöhnung zu drängen. Das Drängen trifft auf taube Ohren. Wer Frieden vorschlägt, wird von beiden Seiten als Verräter an der Sache gesehen, denn sobald man die andere Seite als menschlich betrachtet oder anerkennt, dass auch sie eine ehrliche Weltsicht hat, die auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, dämpft dies das Kriegsfieber. Der Hass ist ein notwendiges Werkzeug für Krieg – und ebenso für Politik, wenn die Politik zu Krieg wird.

Was vergeblich ist, wird schnell aufreibend. Vielleicht kann sich erst, wenn die Kriegsparteien sich selbst auch im Wir-gegen-Die-Drama aufgerieben haben, ein neues Drama entfalten – aus Vergebung, Reue und Versöhnung.

Das ist ein herzzerreißender Vorschlag, weil der Preis für die Menschheit ungeheuerlich ist. Die Art von Gewalt, die an Orten wie Palästina, Ruanda, Jugoslawien, Kongo, Irak, Jemen, Uganda, Kambodscha oder Vietnam erlitten wurde und wird, blieb meinem Heimatland lange Zeit erspart, aber wir sind nicht davor gefeit. Etwas Urtümliches und Schreckliches lauert hinter der dünnen Fassade der Zivilisation. Es braucht nicht viel, dass Mord-Impulse aufbrechen. Sie brodeln bereits in den sozialen Medien. Wir unterscheiden uns als Spezies nicht von den Tätern vergangener oder gegenwärtiger Völkermorde. Ich sage damit nicht, dass es in meinem Land sicher geschehen wird, aber es ist bei Weitem nicht sicher, dass es nicht geschehen wird.

In gewissem Sinne geschieht es seit Langem in verdeckter Form. Wie viele Millionen sind gestorben oder haben unendliches Leid erlitten durch Inhaftierung, Gewalt, Missbrauch, Sucht, Depression und chronische Krankheit? Auf langen und gewundenen Pfaden entstammt all dies derselben Grundursache wie offener Krieg und Völkermord. Es kommt von der Reduzierung menschlicher Wesen auf weniger als etwas Heiliges. Doch das alles geschieht unter der Fassade von Normalität. Diese Fassade wird in den nächsten drei Jahren fallen.

Der Zerfall von Normalität ist letztendlich etwas Gutes. Wenn sich der Staub gelegt hat, werden wir inmitten der Ruinen unseres Gefängnisses stehen und voller neuer Fragen sein.

Dann können wir sehen, dass die Spaltung der Welt in Wir und Die sowie die Schulddiagnose, die diese Spaltung begleitet, gescheitert sind. Wir werden sehen, dass Krieg keinen Frieden gebracht hat, Hass keine Gerechtigkeit, Dominanz keine Sicherheit und Herrschaft keine Freiheit. Dieses Scheitern von Zielsetzungen wird der Abglanz eines tieferen Scheiterns sein, des Scheiterns von Verständnis. Die Sichtweisen, mit denen wir bisher die Welt mit Sinn erfüllten, werden keinen Sinn mehr ergeben. Werden wir die Stärke aufbringen, lange genug im Staunen zu verharren, bis uns ein neues Verständnis erwächst? Oder werden wir aus Angst in eine neue Variante der alten Geschichte springen und die alten Schurken durch einen Satz neuer Schurken ersetzen, ein neues Wir und ein neues Die, um dasselbe Drama noch einmal auf die Bühne zu bringen?

Übersetzt und korrekturgelesen von Ingrid Suprayan und Bobby Langer. Die englische Originalfassung dieses Essays vom 06. April 2025 – “When Politics Vecomes War” – findest du hier.

 

Ihr findet hier ein Interview mit Barbara Salaam Wegmüller (Bern) und Cornelius Collande (Würzburg). Thema ist das zum wiederholten Mal durchgeführte, einwöchige Auschwitz-Retreat im November 2024 und die Verstrickungen im Nahen Osten.

Eine entscheidende Frage an uns alle:

Kann man sagen: Ohne die historisch einzigartige Dimension von Auschwitz anzuzweifeln, ist dennoch das Grundmuster, das auch hinter der Unmenschlichkeit auf dieser Welt steht, ständig präsent?

Das wichtige Interview erschien in verkürzter Form in Buddhismus Aktuell 4/2024 und ist jetzt in voller Länge auf Raben-Sangha.de zu lesen.

Anmeldungen zu dem Retreat sind noch möglich unter https://zenpeacemakers.org/programs/auschwitz-birkenau-bearing-witness

Ich kenne ein paar Leute, die lehnen Krieg grundsätzlich ab. Ich gehöre dazu. Aber die meisten, die ich kenne, selbst Freunde von mir, schließen sich – ganz pragmatisch – dem Satz von General Clausewitz an: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Clausewitz starb 1831, also vor beinahe 200 Jahren. So veraltet ist dieses Denken – und noch immer nicht aus der Welt, noch immer lebendig. „Ach so, Krieg“, sagen meine Bekannten leidenschaftslos, zucken ihre wohlproportionierten Achseln und gehen ohne jedes Zittern in der Stimme zum Tagesgeschäft über.

Die PR der Kriegsleute

So zu denken und so etwas nachzuplappern, ist seit jeher deutsche Tradition. Auch Clausewitz war, Gott bewahre, kein Freund des Krieges – „nur wenn er sein musste“! Von dem General stammt das wunderschöne Zitat: „Ich glaube und bekenne, dass ein Volk nichts höher zu achten hat als die Würde und Freiheit des Daseins.“ Natürlich galt dieser Satz nicht für Untermenschen wie Franzosen, Russen und ähnliches Packzeug.

Nun denn, hehre Sätze von höherer Stelle dienen vorwiegend den Public Relations. Von den Ukrainern sagte Putin: „Das sind unsere Kameraden, unsere Nächsten.“ Bundeskanzler Scholz verkündete: „Wir alle sehnen uns nach einer friedlicheren Welt“ und: „Wir stehen ein für den Frieden in Europa.“ Und wir wissen: Mit solchen geistigen Ruhekissen werden die nächsten Waffengänge bzw. Waffenlieferungen vorbereitet.

Werden wir noch auffindbar sein?

Und uns alle, die im Grundsatz den Krieg ablehnen, und jene, die unter Umständen den Krieg akzeptieren, „wenn er denn sein muss“, verbindet ein gemeinsamer Nenner: Wir fühlen uns hilflos. Nun, ganz so hilflos sind wir doch nicht, wie die letzten Wahlen belegen. Solche  Scharmützel mögen der bedrängten Seele eine kurzfristige Erleichterung verschaffen, können aber eben auch nach hinten losgehen.

Wir, die wir den Krieg grundsätzlich ablehnen, schließen uns Tucholskys Forderung an: „Du sollst nicht töten! hat einer gesagt. Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt. Will das niemals anders werden? Krieg dem Kriege!“ Brecht hat es uns hinter die Ohren geschrieben: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ Werden wir noch auffindbar sein nach dem dritten?

Das formidabel formbare Gewissen

Das glaubt eigentlich niemand, der ernstlich darüber nachdenkt. Denken also die Kriegsbefürworter nicht darüber nach? Wohl schon, aber eben nur ein bisschen. Ihr Bedürfnis, den Herrschenden nach dem Wort zu reden, und ihr formidabel formbares Gewissen, das sich geschickt auch um den einen oder anderen Völkermord herumwindet, verhindern, der Gefahr wirklich ins Auge zu schauen.

Im Grund genommen wäre angesichts einer drohenden Gefahr eine Risiko-Abschätzung notwendig. Nehmen wir einmal an, unser Kind hätte sich durch die Gitterstäbe eines Tigerkäfigs gezwängt. Hier stehen wir vor dem Käfig, drinnen hinter den Stäben ist das Kind und im Hintergrund des Käfigs hebt der Tiger aufmerksam seinen mächtigen Schädel. Wir blicken auf die Käfigklappe und schätzen ab: Wie schnell könnte der Tiger reagieren, wenn wir sie öffnen, das Kind packen, herausziehen und die Klappe wieder schließen? Vermutlich würden wir das Risiko eingehen. Wie aber, wenn der Tiger vor der Klappe läge und das Kind neben ihm stünde?

Was wir wissen

Wenn irgendwo Krieg herrscht, wissen wir immer zweierlei: 1. Es ist Krieg. 2. Beide Seiten behaupten mit den jeweils besten Argumenten, sie hätten Recht, müssten sich verteidigen und legen dafür ihrer Bevölkerung glaubwürdige Beweise vor. Das war beim Zweiten Weltkrieg so, das war beim Vietnamkrieg so, das war beim Irakkrieg so und das ist bei den jetzigen Kriegen nicht anders. Genaueres weiß man meist erst Jahrzehnte später. Bis dahin sind Hundertausende bzw. Millionen Menschen gestorben und das Leid der betroffenen Bevölkerungen übersteigt alles uns Vorstellbare, während wir Würstchen grillen und ein Eis essen gehen. Was wir in so gut wie jedem Kriegsfall ebenfalls wissen: Das Kriegsergebnis war dieses unbeschreibliche Leid nicht wert. So war es „eigentlich nicht gemeint“. Die Risiko-Abschätzungsfrage lautet also: Wie viel Leid möchte ich zulassen, um Recht zu haben? Und im Falle eines möglichen Atomkriegs: Wie wichtig ist mir mein Rechthaben, dass ich dafür nicht nur millionenfachen Tod und milliardenfaches Leid in Kauf nehme, sondern auch die eventuelle Zerstörung der Welt? Wie viel Prozent Risiko sind für mich noch „ganz okay“? Meine Antwort: Angesichts dieser Gefahr null Prozent. Ich bitte deshalb alle den Krieg-in-Kauf-Nehmenden, diese Frage für sich selbst mit dem gebotenen Ernst zu stellen und zu beantworten. Ganz im Stillen. Eure Antwort muss ja niemand wissen am Stammtisch.

Krieg dem Kriege, aber wie?

Um auf Tucholskis Forderung „Krieg dem Kriege“ zurückzukommen – wie kann so ein Krieg gegen den Krieg aussehen? Nun, vom Faktischen her sollten wir unserem Umfeld klarmachen, was auf dem Spiel steht. Vielleicht auch noch: Gibt es mehr oder weniger wertvolle Menschen; gibt es also Menschen, die so wertlos sind, dass der Mord gestattet ist, wenn ihn mir jemand nahelegt oder befiehlt? Oder dass ich ihn doch zumindest unterstützen mag?

Wenn ich aber mir selbst die Frage stelle: Wie gehe ICH um mit dem Krieg? Und dann ganz aufrichtig weiterforsche, dann werde ich schnell feststellen, wie sehr auch in mir noch eine gewisse Kriegsbereitschaft herrscht; vielleicht keine im eigentlich mörderischen Sinn, sehr wohl aber in dem Sinn, dass mir mein Rechthaben unendlich viel wichtiger ist als der Wunsch, mein Gegenüber zu verstehen. Und erst letzteres wäre die tiefere Voraussetzung für meine Friedensfähigkeit. Diese in mir und in meinen Kindern, Freunden und Nachbarn zu wecken, das wäre die Essenz von „Krieg dem Kriege“. Ich weiß, das klingt in den meisten Ohren radikal, aber sollten wir unsere Kriegsbereitschaft nicht wirklich mit Stumpf und Stiel auslöschen, leidenschaftlich und ein für alle Mal?

Kürzlich unterhielt ich mich mit dem Vater von zwei kleinen Kindern, zwei und vier Jahre alt. Sie hatten zusammen auf einem Campingplatz am Meer Urlaub gemacht. Seine beiden Kleinen hatten 14 Tage lang mit kroatischen Kindern gespielt, ohne von der anderen Sprache auch nur ein Wort zu verstehen. Viele Eltern machen diese erstaunliche Erfahrung. Kinder können harmonieren, ohne sich zu verstehen; Erwachsene können sich verstehen, ohne miteinander zu harmonieren.

Wenn wir der kindlichen Spielweise schon so fern sind, so können wir doch zuschauen, dem Spiel der Kids beiwohnen, manchmal vielleicht sogar selbst zu Spielenden werden und für zehn Minuten oder sogar länger auf die Zeit vergessen und Glücksmomente erleben.

Ein Milliarden-Geschäft

Muss ich hier wirklich auf das kindliche Spiel hinweisen? Ist nicht unsere westliche Lebensweise Freude, Friede, Eierkuchen? Spielen wir nicht von klein auf immer mehr und immer öfter? Apple und Google verdienen allein mit den zur Verfügung gestellten Spiele-Apps jedes Jahr Milliarden. Den Playstation-Store gibt es nicht nur in Deutschland oder den USA, sondern auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Indien und China. Die Sony Interactive Entertainment LLC machte im Betriebsjahr 2021/22 einen Umsatz von 16 Milliarden Euro bzw. 2,74 Billionen Yen. Spiele also, wohin man blickt. Wer sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Café oder Bistro umschaut, der wird sich von Spielerinnen umgeben sehen.

Der Markt boomt. Boomt er für uns? Oder verhält es sich umgekehrt? Nehmen wir mal an, ich wäre Marketingmanager für Computerspiele bei Sony; und nehmen wir an, ich wollte Eltern davon überzeugen, ihre Kinder möglichst viel und möglichst lang spielen zu lassen – wäre da nicht Friedrich Schiller mein überzeugendster Gewährsmann? Einst schrieb der poetische Revoluzzer diesen Satz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Könnte dieser Satz nicht jede Playstation zieren?

Spielen: für ein Leben in Würde

Es lohnt sich, darüber nachzudenken und auch darüber, warum dem nicht so ist. Schiller sah das Spielen – nicht das einzelne Spiel – als die vielleicht einzige Möglichkeit des Menschen, seine besten Möglichkeiten zu entfalten, spielerisch Grenzen auszutesten, zu überschreiten oder neu zu definieren, sich auf den Weg zum ganzen Menschen zu machen. Kürzlich stupste ich meine dreijährige Enkelin Rosa auf einer Spielplatzschaukel an und sie schwang sich mit großem Vergnügen in den Sonnenschein hinein und zurück. Ein dominanter, älterer Kindergartenfreund rief ihr von der Rutsche aus zu: „Komm rüber zu mir, Rosa, hier regnet’s, im Spiel!“ Aber Rosa hatte noch viel zu viel Spaß am Schaukeln und rief zurück: „Jetzt nicht, bei mir regnet’s aaauch!“ Flugs war sie auf die Spielebene übergewechselt und hatte eine für sie passende Antwort gefunden. Schillers Idee des Spielens erlaubt, mit Parallel- und Gegenwirklichkeiten zu experimentieren. Der spielende Mensch, der homo ludens, sprengt die Ketten der ihn fesselnden Welt. Spielen wird zur Voraussetzung der Selbstbefreiung und eines Lebens in Würde.

Vergessen, was wir brauchen

Moderne Computerspiele wirken suchterzeugend, indem sie die Spieler zu immer neuen „Levels“ verlocken – zugegeben, es gibt Ausnahmen; die Spielerin soll immer besser werden, soll immer routinierter ihre Figuren bedienen, immer schwierigere Aufgaben lösen. Und ein zweiter Komparativ kommt hinzu: Nicht nur besser im Vergleich zu früheren eigenen Leistungen sollen wir (und wollen wir schließlich) werden, sondern auch im Vergleich zu den Mitspielerinnen.

Moderne Computerspiele sind Entertainment 2.0. Sie erlauben innerhalb ihres Regelwerks allen Spielenden, bestimmte Rollen und Eigenschaften zu übernehmen oder sogar selbst zu erfinden; das fühlt sich an, als könnten wir mit dem Spiel selbst kommunizieren. Das ist etwa so, als dürften wir die Zutaten zu unserer Lieblingsschokolade selbst zusammenstellen, ein bisschen mehr Vanille, ein bisschen weniger Kakao und vielleicht mehr Mandelsplitter und eine doppelte Prise Chili. Kaufen müssten wir nur noch die Mischmaschine und die Zutaten. Also fühlen wir uns als Schokoladenesser frei. Je mehr wir unseren Spaß beim Mischen der Schokolade haben, desto weniger kommen wir auf die Idee, dass wir die Schokolade gar nicht brauchen.

Nur kein Loser sein

Halten wir also fest: Meist spornen Computerspiele zu immer mehr Leistung an. Und sie fesseln die Spielenden an eine Fantasywelt, die mit ihrer eigenen Fantasiewelt wenig bis nichts zu tun hat. Kindlichem Spiel sind solche Vorgaben fremd.

Moderne Computerspiele befreien den Spielenden nicht von den Zwängen der Welt, indem sie ihn in die eigene Fantasie entführen; sie verlocken ihn in eine Welt knallharter Regeln, denen sich beugen muss, wer mitspielen will. Andernfalls kommt keiner über Level 1 hinaus, wird zum „Loser“ und schlimmstenfalls aus der Community ausgeschlossen.

Warum gibt es keine spielsüchtigen Kinder, obwohl Kinder doch nichts lieber tun als zu spielen und dies tatsächlich auch tun, sobald ihre sonstigen Grundbedürfnisse inklusive Kuscheln gestillt sind? Im Juni 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Computerspielsucht offiziell als psychische Erkrankung anerkannt. Rund zweieinhalb Stunden täglich verbringen deutsche Jugendliche laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen und der Krankenkasse DAK mit Computerspielen. Dass Mädchen dies deutlich seltener tun, spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle.

Was die Grauen Herren schon immer wollten

Eine Rolle spielt vielmehr, was Jugendliche in dieser Zeit nicht tun: Sie üben kein Sozialverhalten ein, sie lesen nicht, denken nicht frei nach über sich und ihre Position in der Welt, sie sind nicht künstlerisch tätig, entwickeln keine eigenständige Persönlichkeit und erweitern nicht ihren Horizont, sie kommunizieren nicht kreativ, müssen nicht empathisch sein, erfahren keine Stille und die darin emporsteigenden Gedanken. Und je länger sie das alles nicht tun und sich mit Ersatzverhalten auf der Games-Ebene beschäftigen, desto weniger werden sie all das auch können, und zwar in exponentiellem Maß. Sie laufen Gefahr, zu Wunschprodukten der Grauen Herren zu werden, zu unreifen, kaum reflektierenden, unkritischen Funktionsträgern, denn sie haben auf eine subtile Art und Weise gelernt, die Spielregeln der Games mit ihren eigenen zu verwechseln; aber vielleicht ja nicht nur diese, sondern auch die Spielregeln der Ingroup, der Schule, der Firma, der Partei, der Gesellschaft, des Wirtschaftssystems.

Nicht zum homo ludens, dem frei spielenden, ganz werdenden Menschen entwickeln sie sich, vielmehr geraten sie zum homo faber, zum fabrizierenden, technischen, gehorsamen Menschen, dessen Entwicklungsrichtung hauptsächlich darin besteht, als Rädchen und Gleitmittel der Mega-Maschine immer besser zu funktionieren – und dies auch noch als Freiheit zu empfinden.

Bobby Langer

Gelegentlich polemische Anmerkungen zum 5. Gebot

„Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.“ Albert Einstein

„Es ist Morden. Sie töten immer den Sohn einer Mutter.“ Jürgen Todenhöfer

Es ist ein christliches Gebot. Und es schien mir unverhandelbar, als ich begann, darüber nachzudenken: „Du sollst nicht töten.“ Punkt. Es hieß nicht, „Du sollst deinen Freund nicht töten, deine Feinde aber sehr wohl“; auch nicht: „Du sollst nicht töten, solange du dafür keinen guten Grund findest.“ Nein, so hieß es nicht. Und doch hat die versammelte Christenheit, allen voran die christliche deutsche Parteien-Landschaft, beschlossen, hier eine päpstliche Ausnahme zu machen. Sogar „Die christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz“ betet nicht für alle dem Krieg ausgesetzten Menschen, sondern exklusiv für die Menschen in der Ukraine nach dem Motto: „Man kann ja nicht für alle beten.“

Segen für den Waffensegen

Es ist nicht das erste Mal. Den Segen für „unsere Waffengänge“ bis hin zu christlichen Waffensegnungen der Amtskirche durften schon die Nazis für sich in Anspruch nehmen, von den Deutschordensrittern einmal ganz abgesehen, die im 12. Jahrhundert die litauischen Heiden mit dem Schwert zur Taufe trieben. Eine bewährte Tradition also, die auch die mittel- und südamerikanische Bevölkerung lange seitens der Spanier genießen durfte. Und ganz modern: Der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik, bei dessen Anschlag im Jahr 2011 77 Menschen ums Leben kamen, hat sich zur Rechtfertigung seiner Tat aufs Christentum berufen. Wäre er Atheist gewesen, wäre das nicht passiert. Wenn man schon nicht so weit gehen will zu behaupten, Gewalt und Christentum gehörten zusammen, so lässt sich doch feststellen: Gewalt und organisiertes Christentum schlossen sich bis heute so gut wie nie aus. Papst Pius XII. war die politische Einheit des Christentums und die Sicherheit seiner Dienerschar sogar wichtiger als die Bekämpfung der Konzentrationslager.

Und wenn du bedroht wirst?

Aber zurück zu dem scheinbar fundamentalen Gebot „Du sollst nicht töten“. Ich vernehme schon von allen Seiten das beliebte Scheinargument: „Christentum hin oder her, wenn deine Kinder von einem Terroristen angegriffen würden, wärst du dann auch noch radikaler Pazifist?“ Mit diesem Einwand musste ich mich schon mit 18 Jahren beim Thema Kriegsdienstverweigerung herumschlagen. Die Antwort ist sehr einfach, auch wenn sie ein wenig Differenzierungsvermögen verlangt: Es handelt sich in diesem und ähnlich gelagerten Fällen nicht um Töten mit Vorsatz, sondern um ein Schutzverhalten mit eventueller Todesfolge. Wer den Unterschied nicht erkennt, dem ist nicht zu helfen. Das „Du sollst nicht töten“ bezieht sich nämlich auch auf die innere Bereitschaft, oft den Wunsch oder sogar die Lust, seinen Mitmenschen zu vernichten.

Tödliche Lässigkeit

Interessanterweise gehört das „Du sollst nicht töten“ zum Glaubensrepertoire aller Weltreligionen. Und überall wurde diese Forderung korrumpiert, auch im angeblich rein friedlichen Buddhismus. Die – vermutlich – einzige Ausnahme bildet die Bahai-Religion. Das gerne von konservativen Politikern beschworene – und tatsächlich existierende – christliche Fundament unserer Gesellschaft hat also dafür gesorgt, dass so gut wie alle Menschen in Mitteleuropa dem Tötungsverbot zustimmen, aber eben auf die kirchlich lässige Art und Weise, nämlich: „Ja, also irgendwie ist das schon richtig, aber …“ Darüber muss niemand sonderlich nachdenken, auch die vielen Moslems nicht – vielleicht ist das ja ihr größter gemeinsamer Nenner mit den Christen –, denn so lässig denken eben die meisten über Mord und Totschlag, solange sie nicht selbst betroffen sind; folglich ist ein solches Denken richtig.

Flirten mit dem Krieg

Doch auch darüber hinaus bleibt die Frage: Warum ist das so? Warum können wir das „Du sollst nicht töten“ nicht ernst nehmen? (Kleiner Nebenaspekt dieses Umstands: Das staatliche Gewaltmonopol gibt es wahrscheinlich nur deshalb, weil unsere Tötungsbereitschaft offenbar gesetzlich eingedämmt werden muss.) Seit die letzten Weltkrieg-II-Teilnehmer unter der Erde liegen, gibt es in Deutschland nur noch Generationen, die „Krieg“ so wahrnehmen, als sei er ein Thema zur besten Sendezeit. In den öffentlich-rechtlichen Medien sind kriegsabschreckende Filmaufnahmen sogar tabuisiert. Auch die Privatsender folgen dem im Wesentlichen; man möchte nicht, dass jemand angesichts des gezeigten Grauens zu einem anderen Kanal zappt. Ist aber das Grauen des Krieges auf ein kindertaugliches Niveau herunterverharmlost – keine dokumentierten Mordszenen, keine offenen Wunden, abgetrennten Gliedmaßen, auslaufenden Gehirne –, dann verliert der Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung seinen mörderischen Kern; dann können wir sogar ein bisschen damit flirten. Denn ist es nicht letztlich eine befreiende „Entladung“, wenn man all die Aggressionen, die man jahre- oder jahrzehntelang unterdrückt hat, endlich einmal loslassen kann, ja loslassen soll? Da kann es uns nur recht sein, wenn Krieg uns als etwas „Unschönes“, aber letztlich doch Notwendiges gezeigt wird, als ein Übel, das man nicht immer verhindern kann, bei dem man aber wenigstens auf der „richtigen Seite“ von Mord und Totschlag ist. Eine innere Zustimmung zum Totschlagen des Feindes ist in unseren Köpfen als jederzeit verfügbares Kulturmuster quasi vorprogrammiert und jederzeit abrufbar. Das war beim Korea- und Vietnamkrieg so, beim Pakistankrieg und beim Jugoslawienkrieg so, das war und ist beim Ukrainekrieg so und das wird auch beim Chinakrieg so sein, auf den manches bereits hindeutet.

Mörderisches Gewissensfundament

Ein zweiter, ähnlich relevanter Grund lässt sich am Beispiel der Israelis und Palästinenser (oder der Katholiken und Protestanten in Nordirland) verdeutlichen. Grundlage kriegerischen Tötens, von wem auch immer, ist das menschliche Denken, nämlich die Überzeugung: Ich habe Recht, mein Recht ist unantastbar, wer die Richtigkeit meines Rechts bezweifelt, ist mein Gegner; wer es bedroht, ist mein Feind und muss mit Gewalt zurückgeschlagen werden. Tote, und seien es Hunderttausende, sind der oft erwünschte, manchmal auch unvermeidliche Kollateralschaden. Das funktioniert überzeugend im Kleinen bei der Blutrache, das stabilisiert und fundiert das Gewissen jedes ordentlichen Terroristen, das funktioniert bei den Palästinensern und der israelischen Armee und natürlich auch bei Rüstungs- und Waffenlieferungsbeschlüssen, wohin auch immer. „Du sollst nicht töten“ ist eine veraltete Forderung; sie ist nicht industriekompatibel und folglich auch nicht up to date. Folglich ist ein Verbot der Waffen-, also letztlich Mordzulieferungsindustrie aus ethischen Gründen in Deutschland und anderswo undenkbar.

Krieg als Live-Event

Wer sich unsicher ist, ob er den Krieg nicht vielleicht doch für sinnvoll hält (interessanterweise gehört auch eine solche generelle Zustimmung zu den tabuisierten Gedanken), dem sei zum Beispiel das Video Traumatic and Combat Related Amputations zur Fortbildung empfohlen. Krieg findet nämlich nicht abstrakt auf Zeitungspapier, im Internet oder per Nachrichten im Fernsehen statt, Krieg ist das böseste Live-Event in Echtzeit. Deshalb sollte jemand, der das Führen eines Krieges unterstützt, ihn auch „live“ erleben dürfen. Er sollte sich persönlich an die Front begeben und mitkämpfen und ein paar junge Männer, Frauen und Kinder töten dürfen. Und dann, sofern er seinen Einsatz überlebt und der Krieg nicht dummerweise in einen Atomkrieg umgeschlagen ist, sollte der Kriegsunterstützer ein mehrwöchiges Praktikum in einem Lazarett absolvieren. Das wäre doch eine gute Grundlage für einen netten kleinen Erfahrungsbericht an seine Lieben zu Hause.

So seltsam es klingt: Die sauberste moralische Haltung nehmen Auftragskiller ein. Sie sind ehrliche Menschen, die, ohne Moral vorzuschützen, morden – wen auch immer –, solange die Bezahlung stimmt. Im Dienst der Wahrheit, oder weniger pathetisch formuliert: der Aufrichtigkeit zuliebe, sollten wir das fünfte der Zehn Gebote folgendermaßen vervollständigen: „Du sollst nicht töten, solange man es dir nicht anders befielt.“

Und eine Frage zum guten Schluss: Nehmen wir an, Sie hätten drei Söhne – oder Enkel oder Brüder ­–, welchen davon würden Sie an die Front schicken? Oder gleich alle drei? Und anders herum gefragt: Nehmen wir an, eine Mutter des Feindes hätte drei Söhne, welchen davon würden Sie töten? Oder gleich alle drei? Bob Dylan hatte schon 1964 die richtige Ahnung, als er sang:

I’ve learned to hate the Russians*
All through my whole life
If another war comes
It’s them we must fight
To hate them and fear them
To run and to hide
And accept it all bravely
With God on my side

* durch beliebige Nationalität ersetzbar

Letzthin bin ich in Gedanken durchgegangen, was man sich üblicherweise wünscht zu Weihnachten: frohe Weihnachten, fröhliche Weihnachten, frohes Fest, schöne Festtage; und mich dann gefragt, wer das noch wirklich ernst meint oder noch genauer: wie ernst das überhaupt gemeint sein kann? Damit will ich nicht auf dem alten Gedanken herumreiten, dass Weihnachten zum Konsumfest verkommen ist. Sorry, mit 68 Jahren habe ich diese Klage mindestens schon 30-mal gehört. Nachdenklich werde ich eher bei dem Wort „Fest“.

Wenn ich an „Fest“ in seiner ursprüng­lichen Form denke, dann sehe ich Deutschland, sagen wir mal, vor 300 Jahren, also 1721. Der größte Teil der Bevölke­rung lebte von der Hand in den Mund, Hunger, Krankheit und Tod waren für die meisten von uns die ständige Begleitung und Bedrohung. Aber manchmal blieb doch etwas übrig, das man beiseitelegen konnte für besondere Gelegen­heiten. Und wenn dann jeder von seinen Habselig­keiten etwas dazutat, alle die Großmütter und -väter, die Mumen und Oheime, Vettern und Basen, Nachbarn und das ganze Dorf, dann konnte ein „Fest“ gefeiert werden. Und Groß und Klein war dabei. Dann zog man seinen Sonntagsstaat an, vergaß für ein paar Stunden alle Mühsal, tanzte und war „guter Dinge“. Und vielleicht hat man dann, vor dem nächsten Unwetter, der nächsten Dürre, vor dem nächsten Übergriff des Gutsherren oder dem kommenden Krieg, bereitwillig und lustvoll „über die Stränge geschlagen“, ein- oder zweimal im Jahr. Was für rauschende Höhepunkte müssen das gewesen sein!

Und heute? Was ist heute ein Fest? Jeder Kindergeburtstag ist ein Fest, jede Grillparty, jedes Club-Wochenende. Und wenn junge Leute abends weggehen, dann treffen sie sich zum „Feiern“. Nach einem Grund muss man nicht fragen, Feiern ist Selbstzweck geworden. Die Zweieinhalbliter-Flasche ist für ein paar Euro zu haben. Es geht uns so gut, dass wir jede Woche Feste feiern können. Und natürlich erodiert die Freude im Dauerregen der Spaßveranstaltungen, und das Wort „Fest“ bekommt in so einer Situation einen lauwarmen Geschmack, Weihnachten hin oder her.

Ich selbst bin ja so gar kein Feiertyp. Ein Gläschen Rotwein, ein gutes Gespräch, Nähe genießen, Vertrautheit mit Menschen, die ich mag und die mich mögen, nachdenkliche, ja auch besinnliche Stunden: gerne. Da blitzen dann immer wieder mal Minuten auf, die zu feiern sind oder doch wären, kurze Glücksspritzer auf die Alltagssuppe.

Manchmal verhilft das Alter zu Ansichten, die man in jüngeren Jahren gar nicht gewinnen könnte, zum Beispiel beim Pinkeln. Und von da zum Leben im Allgemeinen.

Pippi kommt bei Buben und Männern aus dem Penis. So weit, so klar. Das trifft auch auf Sperma zu. Wenn sich der Penis auf die Suche nach einer Frau macht, kommt häufig dabei Liebe hinten raus. Oder käufliche Liebe, je nachdem. Aber nur das, was gratis ist, ist wirklich etwas wert, genauer: das, was einem das Leben schenkt. Vielleicht werden deshalb ja Luft und Liebe oft in einem Atemzug genannt. Wobei ich mir bei der Luft schon nicht mehr sicher bin. Eines Tages werden wir auch dafür bezahlen müssen. Weiterlesen

Es ist mir bewusst, dass viele Menschen in meinem Umfeld eine Art Grundabneigung gegen alles haben, was aus Rom kommt (bis vor wenigen Jahren hätte ich mich dazugezählt). Bei denen möchte ich mich gleich entschuldigen für diese „spirituelle Belästigung“.
Unter dem Titel „Fratelli tutti – Geschwister sind wir alle“ hat Papst Franziskus am 4. Oktober 2020 eine Enzyklika veröffentlicht, in seiner Muttersprache Spanisch.
(Wer es nicht weiß: Mit Enzykliken richtet der Papst Lehrschreiben an die gesamte katholische Kirche weltweit.)

Und warum beschäftige ausgerechnet ich mich damit? Schließlich bin ich weder Katholik noch Christ. Weil ich das, was da steht, gedanklich für revolutionärer halte als vieles, was mir bisher über den Weg gelaufen ist. Leider besteht die Enzyklika aus 287 „Stücken“ bzw. rund 150 Seiten und ist damit für die meisten von uns nicht lesbar. Ein bekannter Theologe, Peter Schönhöffer, hat sich die Mühe gemacht, diese vielen Seiten zusammenzufassen, doch so „theologisch“, dass sich die dreizehneinhalb Seiten wieder nur für Insider eigneten. Ich habe seine Zusammenfassung (mit seiner Zustimmung) nochmals gekürzt und versucht, lesbar zu machen. Bobby
Hier geht’s lang …

Die Maßnahmen gegen Pandemie verschärfen die Hungersituation weltweit

Von Andreas Chajm Langholf

Zu Beginn: Bitte halten Sie kurz inne und ergänzen Sie: „Jedes fünfte Kind auf der Welt … “
Die Antwort, die in diese Rezension eingestreut ist, wird Sie überraschen und – hoffentlich – auch schockieren, so wie mich, als ich sie im vorliegenden Buch las.

„Wege aus der Ernährungskrise“ ist Teil der jährlich erscheinenden Reihe „Almanach Entwicklungspolitik“. Diese wird von der Entwicklungsorganisation CARITAS mit jährlich wechselnden Schwerpunktsetzungen wie Afrika (2020), Migration (2019), Klima und Armut herausgegeben.

Die Corona-Pandemie verschärft mit den dagegen ergriffenen Maßnahmen die Hungersituation im Übrigen drastisch, sodass die UNO bereits im April letzten Jahres vor „Hungersnöten biblischen Ausmaßes“ warnte. Leider ist diese Warnung im medialen Gewitter weitgehend untergegangen  – und das vor dem Hintergrund, dass über 820 Millionen Menschen hungern und zwei Milliarden unterernährt sind, – Tendenz bereits seit 2015 übrigens wieder steigend.

Zu Gliederung und Inhalten im Einzelnen

Nach dem Vorwort und der Schilderung entwicklungspolitischer Trends finden sich 15 gut recherchierte, mit Quellen, Anmerkungen und Begriffsdefinitionen belegte Artikel von ausgewiesenen Experten auf ihren Gebieten, übersichtlich gegliedert in drei Teile, sowie der Versuch einer Synthese aus Sicht der CARITAS Schweiz.

Teil I gibt einen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Problemfeldes Hunger, angefangen mit einer Übersicht zur gegenwärtigen Ernährungssituation sowie den Faktoren, die Hunger und Mangelernährung begünstigen; überdies zu strukturellen Problemen sowohl im agrarindustriellen wie politischen System. Dazu gibt es auch eine interessante historische Einordnung zu Mustern, Erklärungen und politischen Antworten der letzten 150 Jahre.

Dieser Beitrag leitet über zum Teil II mit lokalen und globalen Ansätzen der Hungerbekämpfung. Hier wird bereits ein weiter Bogen gespannt von Marktzugang über Wertschöpfungsketten bis hin zu Agrarökologie und Klimawandel.

Teil III thematisiert dann die großen Herausforderungen der Zukunft und Lösungsansätze wie Ausweitung des Ökolandbaus, mehr Landrechte für Frauen sowie benachteiligte Gruppen und präsentiert das Thema „Zugang zur Nahrung“.

Zwei Aspekte ziehen sich inhaltlich durch das Buch:

  • Bei Beendigung der Verschwendung und gerechter Verteilung gäbe es genug Nahrung für alle!
  • Wenn Worte Nahrung wären, dann gäbe es keinen Hunger!

Persönliche Bewertung

Tragischerweise fehlt den Verantwortlichen–und das sind nicht nur Politiker und Wirtschaftsbosse, sondern auch wir KonsumentInnen – aktuell trotz großer Verlautbarungen und nachhaltiger Entwicklungsziele der UNO oft noch der politische Wille, am großen Hungern in einer Welt des Überflusses etwas zu ändern. Dabei wird heute gerne von Politiker betont, es zähle jedes Leben.

Das Buch ist ein sehr gutes Überblickswerk zur ganzheitlichen Behandlung dieses komplexen Problemfeldes, dem nicht mit einfachen Ansätzen monokausal beizukommen ist. Ausgiebigen Quellen und Links laden zur weitergehenden Beschäftigung mit diesem Thema ein.
Ach ja, übrigens: Nur jedes 5. Kind im Alter zwischen 6 und 23 Monaten erhält laut FAO eine Ernährung, die den minimalen (!) Anforderungen für eine gesunde Ernährung entspricht.

 Manuela Specker, Wege aus der Ernährungskrise, 258 S., Caritas-Verlag 2020, ISBN 978-3-85592-173-7

Der Autor:

Andreas Chajm Langholf ist Diplom-Agraringenieur und seit vielen Jahren im Umweltschutz tätig.

Er verfasste freiberuflich Studien, u.a. für BUND und Artikel, u.a. in IGEL, Unabhängige Bauernstimme, Lebendige Erde, Sennaciulo, Kontakto u.a. und veröffentlicht auf Deutsch, Englisch und Esperanto. Darin beschäftigt er sich neben Ernährung auch mit den Themen Systemkritik, Konsum und nachhaltiger Lebensweise.

Daneben gibt er im kleinen Stil Seminare zu Selbstversorgung, lehrte zu Ernährung an Schulen und Universitäten und betreut Bauernhoffreizeiten für Kinder.

[Foto von Lothar Dieterich auf Pixabay ]