Was ist die Wandelbewegung?
Hunderttausende von Menschen arbeiten weltweit an einer neuen Aufklärung, die alles Handeln dem Primat des Planeten Erde unterstellt.
Von Bobby Langer
Ich bin erkältet. Banal, es ist der 18. Februar 2018, es hat minus 4 °C. Da darf man ruhig mal erkältet sein. Wenn ich huste, quietscht die Lunge ein wenig und irgend etwas schmerzt zwischen Brustbein und Kehlkopf. Wie unangenehm, wie lästig. Und doch: Nächste Woche um diese Zeit werde ich wieder gesund sein. Hoffnung ist doch etwas Feines.
Vom Elfenbeinthron geschubst
Erkältet kommt von dem Kältegefühl, das sich bei einer Erkältung vermehrt einstellt. Auch meine Seele und mein Geist sind erkältet, schon lange, mindestens seit 1972. Damals stand ich kurz vor dem Abi. Der Club of Rome hatte die „Grenzen des Wachstums“ in St. Gallen vorgestellt und meinen akademisch justierten Pennälergeist von seinem Elfenbeinthron geschubst. Ich besorgte mir das Buch – wie 30 Millionen andere – und ich las es. Seitdem bin ich erkältet – studiert, Beruf erlernt, geheiratet, Kinder großgezogen, 100 Täler durchschritten, alt geworden – erkältet noch immer. Aber immer war da Hoffnung, Hoffnung auf Einsicht, Hoffnung auf Neubeginn, Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel. Vergeblich?
Rückzug ins Private?
Ich werfe einen Blick auf die Nachrichten des heutigen Tages: Schulmassaker in Florida – Sigmar Gabriel: Die Welt steht am Abgrund – Der polnische Regierungschef macht Juden mitverantwortlich für den Holocaust – Ärzte und Medien werfen Türkei Giftgaseinsatz vor – Donald Trump riskiert einen globalen Handelskrieg. Tief ausatmen, weiterhoffen, meditieren, gemütlich frühstücken. Das sind doch Gegenmittel. Der Rückzug aufs Private, die Welt kann mich mal, den Kopf in den Sandkasten stecken. Oder?
Die Zeit für Heuchler und Träumer ist abgelaufen
Es ist ein Auf und Ab der Gefühle. Mein Hoffnungs-Seismograph zeichnet die Kurve eines chronisch Herzkranken. Aber die Hoffnung gewinnt inzwischen so manche Teilstrecke. Und das Thema „Nachhaltigkeit“ verzeichnet erste Erfolge. Zum Beispiel das Wort „Enkeltauglichkeit“, das 2001 das Licht der Welt erblickte und seither das abstrakte Wort „nachhaltig“ für den Volksmund übersetzt. Neuerdings hat die taz ein neues Wort geprägt: „menschentauglich“. Das gefällt mir, das passt in einen Zeitgeist-Strom, den wir als den „Großen Wandel“ bezeichnen und der den privaten Bereich mit dem öffentlichen Sektor radikal verbindet. Der Basistext der „Initiative Aufbruch – anders besser leben“ hat es zu ihrer Gründung, ebenfalls 2001, auf den Punkt gebracht:
„Wer politische Forderungen stellt, ohne sein eigenes Leben zu verändern, wird zum Heuchler; wer nur sein eigenes Leben verändert, ohne sich für politische Veränderungen einzusetzen, bleibt ein Träumer.“
Enkeltauglichkeit auch für die Großväter und Großmütter
Heute, 17 Jahre später, diskutiert man im Bremer Rathaus nicht mehr kleinkariert über den abstiegsbedrohten SV Werder Bremen, sondern darüber, wie sich der afrikanische Kontinent zu einem „Ort der Nachhaltigkeit und des Friedens entwickeln könnte“; die mittelbayerische Zeitung berichtet über „Tage der Nachhaltigkeit und Solidarität“ auf der Grünen Woche in Fürth; ein energieverschwenderischer Marketing-Gag der Städte Frankfurt und Offenbach, die Luminale, setzt dieses Jahr auf Nachhaltigkeit – vielleicht ja deswegen, weil rund 50 Vertreter von Frankfurter Initiativen, Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften sowie engagierte Bürger fordern, ein künftiger Oberbürgermeister müsse sich „energisch für nachhaltige Entwicklung und globale Gerechtigkeit einsetzen“, so die Frankfurter Rundschau. Allem Anschein nach ist die Frage nach der Enkeltauglichkeit unserer Welt inzwischen auch bei den Großvätern und Großmüttern unserer Nation angekommen.
Ein „bisschen nachhaltig“ geht nicht
Was sie allerdings nicht verstanden haben, ist Einsteins häufig zitierte Einsicht, man könne „Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. Viele Politiker und Manager meinen immer noch, sie könnten so weitermachen wie bisher, nur eben ein bisschen nachhaltiger – gerade so, als sei Nachhaltigkeit nur eine weitere Stellschraube der Wirtschaftspolitik. Aber „ein bisschen nachhaltiger“ geht nicht. Nachhaltig ist ein Begriff wie schwarz oder weiß. Weißer als Weiß – das kennt nur die Werbung. Es ist also an der Zeit, die Werbementalität aus den hohen Köpfen zu streichen und dort die nötige Ernsthaftigkeit und Verantwortung einkehren zu lassen. Politik kann nicht „ein bisschen nachhaltig“ sein. Und wenn sie es ist, dann ist sie falsch – schlicht und ergreifend.
Der nächste Schritt: ein neues Zivilisationsmodell
Es braucht nichts weniger als ein enkeltaugliches Zivilisationsmodell, eine planetarische Gemeinwohlgesellschaft, die Wirtschaft und Politik dem Primat des Raumschiffs Erde unterordnet. Es braucht einen Paradigmenwechsel, eine neue kopernikanische Wende, in deren Verlauf wir alle – von den Bankentürmen des Frankfurter Westends bis zu den Indiohütten am Amazonas – begreifen werden, dass diese Welt und wir untrennbar und in Wechselwirkung miteinander verbunden sind, nicht nur sozial, ökologisch und ökonomisch, sondern auch körperlich, geistig und seelisch. Unser Zivilisationsmodell hat ausgedient. Für das, was ansteht, wählte Joana Macy den Begriff „the great turning“, der „Große Wandel“.
Die Wandelbewegung formiert sich
Eine Zeitenwende liegt in der Luft. „So kann es nicht weitergehen“, lautet der Seufzer von Millionen. Nicht wenige treibt es in die Arme von Rattenfängern, die diese Situation für ihre Karriere nutzen und dazu raten, die alten Rezepte von früher auszugraben und nicht einmal mehr die Mittel des Krieges als angebliche ultima ratio ausschließen. Dabei könnte schon ein Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan genügen, um einen weltweiten, nuklearen Winter einzuleiten. Es bleibt also zu hoffen, dass sich die ebenso einfachen wie gefährlichen Rezepte der Vorgestrigen nicht in Tagespolitik verwandeln.
Aber noch viel mehr Menschen – vor allem junge Menschen, aber auch Künstler, Wissenschaftler und Unternehmenslenker – haben die Schrift an der Wand gelesen und entziffert. In Tausenden von Initiativen, Projekten und Organisationen arbeiten Hunderttausende meist ehrenamtlich am Großen Wandel, formieren sich zu einer großen, weltweiten Wandelbewegung, die Hoffnung macht und erste Früchte trägt. Die Wandelplattform ökoligenta.de hat allein für den deutschen Sprachraum rund 130 Gruppen entdeckt, die sich für den Wandel engagieren, und eine Gruppierung mit dem Namen „makers for humanity“ spricht aus, worum es der Wandelbewegung am Tiefsten geht: um das Wohlergehen der Menschheit.
Wir brauchen eine neue Aufklärung
Auch Wissenschaftler blasen mehr denn je zum Alarm. 45 Jahre nach den „Grenzen des Wachstums“ schreibt der Club of Rome: „Wir brauchen einen echten Neuanfang. Aber diesmal halten wir es für notwendig, sich auch mit den philosophischen Wurzeln der schlimmen Weltlage auseinanderzusetzen. Wir müssen die Legitimität des materialistischen Egoismus infrage stellen … Die Zeit ist reif für eine neue Aufklärung“. Und er mahnt: „Jedoch können wir die Sorge nicht von der Hand weisen, dass die Welt in 15 Jahren ökologisch noch viel schlechter aussieht, wenn man die zerstörerische Wirkung eines rein materialistischen Wachstums nicht bändigt.“ Denn voraussichtlich ist – wenn alles gut geht – die Welt „auf dem Weg zu mindestens 3°C-Erwärmung“.
Die Wandelbewegung heilt hoffentlich meine Erkältung. Sie engagiert sich für die Ziele des Club of Rome. Und sie erhält immer mehr Zulauf in der Hoffnung, dass der Mensch seine Intelligenz mit den Bedürfnissen seines Planeten zu einer neuen Qualität verbindet: zu einer herzgetragenen Ökoligenz.
„Die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung erfordert ein neues Paradigma. Die Einführung von Nachhaltigkeit in das pädagogische Curriculum aller Ebenen ist notwendig, aber nicht ausreichend, um die gewünschte rasche, radikale Veränderung der Weltwirtschaft und des Lebensstils herbeizuführen. Es bedarf der Stärkung der nächsten Generation mit einer anderen Art von Bildung, die eine größere Anpassungsfähigkeit für einen raschen sozialen Wandel, ein starkes Gefühl sozialer Verantwortung, Innovation und kreativen Denkens vermittelt … Es brechen die Grenzen des physischen Klassenzimmers, die Klostermauern des Universitätscampus, die willkürlichen und starren Noten, Kurse und einstündigen Vorlesungssegmente, die sozialen Barrieren der Klassenteilungen und die ökonomischen Barrieren!“
(Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u.a., Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen – Eine neue Aufklärung für eine volle Welt, ISBN 978-3-579-08693-4)
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