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Von Charles Eisenstein

Vor ein paar Wochen traf ich eine Frau, die mit einem Kogi Mama, einem Schamanen aus der kolumbianischen Sierra Nevada, zusammenarbeitet. Dieser Schamane war vor einigen Jahren in Kalifornien, um auf einem bestimmten Stück Land umfangreiche Zeremonien durchzuführen. Er hatte gesagt: „Ihr solltet hier besser regelmäßig Zeremonien abhalten, sonst wird es schwere Waldbrände geben.“ Niemand machte die Zeremonien, und im folgenden Jahr gab es Waldbrände. Er kam später zurück und wiederholte seine Warnung: „Wenn ihr die Zeremonien nicht macht, dann werden die Waldbrände noch schlimmer.“ Im folgenden Jahr waren die Waldbrände noch schlimmer. Er kam wieder, um noch ein drittes Mal zu warnen: „Macht diese Zeremonien, sonst werden die Waldbrände in diesem Teil der Welt noch schlimmer sein als bisher.“ Bald darauf verwüstete das sogenannte Camp Fire die gesamte Region.

Im Nachhinein fand die Frau heraus, dass in der Umgebung dieser vom Kogi-Schamanen bestimmten Ritualstelle ein kaltblütiger Völkermord an den vormals dort lebenden indigenen Menschen stattgefunden hatte. Er konnte das irgendwie wahrnehmen. Seinem Verständnis nach hat solch ein Trauma nicht nur Auswirkungen auf die Menschen, sondern auch auf das Land. Letzteres wird wütend, gerät aus der Balance und kommt erst wieder ins Gleichgewicht, wenn es durch eine Zeremonie geheilt wird.

Vor zwei Jahren traf ich einige Priester der Dogon und fragte sie, wie sie den Klimawandel sähen. Die Dogon haben, genauso wie die Kogi, ihre zeremoniellen Praktiken über tausende von Jahren erhalten. Die Männer sagten: „Es ist nicht so, wie ihr denkt. Das Klima spielt vor allem deshalb verrückt, weil ihr Heiligtümer, die mit großer Sorgfalt platziert wurden, von ihren Bestimmungsorten geraubt habt, um sie in Museen nach London und New York zu bringen.“ Ihrem Verständnis nach halten diese Gegenstände und die sie begleitenden Zeremonien den Bund zwischen Menschen und Erde lebendig. Im Gegenzug für das von den Menschen dargebrachte Schöne und die Aufmerksamkeit bietet die Erde den Menschen einen bewohnbaren Lebensraum.

Meine Freundin Cynthia Jurs hält schon seit einigen Jahrzehnten Zeremonien ab, in denen sie sogenannte „Erd-Schatz-Vasen“ (engl. „Earth Treasure Vases“) eingräbt. Diese Kultgefäße werden in einem Kloster in Nepal einem bestimmten Ritual folgend hergestellt. Cynthia lernte die zeremonielle Praxis (das klingt jetzt nach einem Klischee, aber es ist wirklich so passiert) von einem 106 Jahre alten Lama in einer Höhle im Himalaya. Sie fragte ihn: „Wie kann ich der Heilung dieser Welt am besten dienen?” Er antwortete: „Nun, wann immer du Menschen zu einer Meditation zusammenbringst, bewirkt das Heilung. Aber wenn du noch mehr machen willst, dann kannst du Erd-Schatz-Vasen eingraben.” Anfangs war Cynthia enttäuscht von dem Vorschlag. Als Anhängerin des tibetischen Buddhismus zweifelte sie nicht an der Schönheit dieser Zeremonie, aber mal ehrlich, es gibt auf der Welt doch reale soziale und ökologische Wunden, die Heilung brauchen. Menschen müssen sich zusammentun. Systeme müssen sich ändern. Was bringt da eine Zeremonie?

Trotzdem nahm sie einige der Vasen, die der Lama in einem Kloster in der Nähe in Auftrag gegeben hatte, als Geschenk an. Fünf Jahre später begann sie ihre Weltreise an Orte, wo Land und Menschen schwere Traumata erlitten hatten, um die Vasen den zeremoniellen Anweisungen entsprechend zu vergraben. An manchen dieser Orte geschahen große und kleine Wunder, unter anderem recht „banale“ (irdische) soziale Wunder wie die Gründung von Friedenszentren. Nach allem, was sie beobachtet, funktionieren diese Zeremonien.

Rituale, Zeremonien und Materialismus

Wie erklären wir uns solche Geschichten? Der politisch korrekte, moderne Geist will andere Kulturen respektieren, aber er zögert, ihre radikal andere Sichtweise auf kausale Zusammenhänge ernst zu nehmen. Die Zeremonien die ich meine, entsprechen nicht dem modernen Verständnis wirkungsvollen Handelns in der Welt. Eine Klimakonferenz kann vielleicht damit beginnen, dass ein indigener Mensch die vier Himmelsrichtungen anruft, anschließend aber geht man wieder zum harten Geschäft der Metriken, Modelle und Regulierungen über.

In diesem Essay will ich aus einem anderen Blickwinkel erforschen, was moderne Menschen aus einem zeremoniellen Zugang zum Leben mitnehmen können, wie ihn traditionelle, indigene und ortsverbundene Ethnien (die Orland Bishop “Kulturen der Erinnerung” nennt) und auch esoterische Strömungen innerhalb der dominanten Kultur praktizieren.

Dieser alternative Blickwinkel soll kein Ersatz für pragmatische oder rationale Ansätze zur Lösung persönlicher und sozialer Probleme sein. Er ist auch nicht parallel zu – und getrennt von – pragmatischen Ansätzen zu verstehen. Und er ist auch nicht von anderer Leute Ritualen geborgt oder übernommen.

Er basiert auf einer fundamental anderen Sicht auf die Welt und vereint das Zeremonielle mit dem Pragmatischen.

Beginnen wir mit einer vorläufigen Unterscheidung zwischen Zeremonie und Ritual. Auch wenn wir sie vielleicht oft nicht als solche sehen, ist unser modernes Leben voll von Ritualen. Eine Kreditkarte an der Kasse durchziehen ist ein Ritual. In der Schlange stehen ist ein Ritual. Medizinische Behandlungen sind Rituale. Die Unterzeichnung eines Vertrages ist ein Ritual. Ein Häkchen bei „Ich habe die allgemeinen Geschäftsbedingungen zur Kenntnis genommen“ setzen ist ein Ritual. Die Steuererklärung einreichen ist ein kompliziertes Ritual, für dessen ordnungsgemäße Vollziehung viele den Beistand eines Priesters brauchen – eines Menschen, der in die geheimnisvollen Riten und Regeln eingeweiht ist, eine für Laien kaum verständliche, sonderbare Sprache fließend spricht und dessen Rang und Ehre sich durch einen dem Namen beigefügten Ehrentitel auszeichnet. Mithilfe der Steuerberaterin kannst du das Ritual vollziehen und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft bleiben. Rituale umfassen die Verarbeitung von Zeichen in einer vorgeschriebenen Art und Reihenfolge, um mit der sozialen und materiellen Welt in Beziehung zu bleiben.

Dieser Definition zufolge sind Rituale weder gut noch schlecht, sondern schlichtweg eine Art, wie Menschen und andere Wesen ihre Realität zusammenhalten.

Eine Zeremonie ist nun eine besondere Art des Rituals. Sie ist ein Ritual, das in der bewussten Präsenz des Heiligen vollzogen wird; im Bewusstsein, dass göttliche Wesen uns zusehen oder dass Gott uns bezeugt.

Für jene, in deren Weltsicht das Heilige, göttliche Wesen oder Gott keinen Platz haben, sind Zeremonien entweder abergläubischer Unsinn oder bestenfalls noch ein psychologischer Trick, mit dem man seine Aufmerksamkeit konzentrieren und sein Gemüt beruhigen kann.

Moment mal. In einer Weltsicht, in der es das Heilige, göttliche Wesen oder Gott gibt, würde Er oder Sie, oder würden sie alle, uns dann nicht ständig beobachten – und alles sehen, was wir tun? Und wäre dann nicht alles eine Zeremonie?

Ja, das wäre es – wenn du dir der Gegenwart des Göttlichen ständig bewusst wärst. Wie oft ist das der Fall? Und wie oft würdest du auf eine Frage hin lediglich vorgeben, die Präsenz des Göttlichen zu spüren, ohne sie wirklich voll und ganz zu spüren? Bis auf ganz wenige Ausnahmen scheinen die religiösen Menschen, die ich kenne, sich nicht so zu verhalten, als würde Gott alles sehen und hören. Beispiele für solche Ausnahmen finden sich über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Man erkennt sie an einer Art Tiefe und Bedeutsamkeit, die sie ausstrahlen. Alles, was sie sagen oder tun, hat Gewicht. Diese Würde verkörpern sie nicht nur zu besonderen Anlässen, sondern ständig: in ihrem Lachen, ihrer Wärme, ihrer Wut und ihren Alltagsmomenten. Wenn so ein Mensch eine Zeremonie abhält, ist es, als würde sich die Schwerkraft im Raum verändern.

Zeremonien sind keine Flucht vor der chaotischen, materiellen Welt in eine spirituelle Hokuspokus-Welt, sondern im Gegenteil: die vollere Annahme des Stofflichen. Es ist die ständige Übung, der Materie den angemessenen Respekt zu zollen – sei es, weil die Materie an sich heilig ist oder deshalb, weil sie Teil von Gottes Meisterwerk ist. Am Altar stellt man die Kerze in einer ganz bestimmten Weise hin. Ich habe ein Bild des Mannes vor Augen, von dem ich gelernt habe, was Zeremonie bedeutet. Er ist bedächtig und präzise, nicht streng, aber auch nicht nachlässig. Den Anforderungen des Momentes und des Ortes lauschend wird jede seiner Bewegungen zu einem Kunstwerk.

In einer Zeremonie ist man ganz bei der Sache. Man macht alles genau so, wie es sein soll. In der Zeremonie übt man also für alle anderen Momente des Lebens, alles genau richtig zu machen. Eine aufrichtige zeremonielle Praxis zieht wie magnetisch andere Bereiche des Lebens in ihr Feld. Sie ist wie ein Gebet mit dem Wunsch: „Möge alles, was ich tue, eine Zeremonie sein. Möge ich jede Handlung in höchster Achtsamkeit, Sorgsamkeit und mit größtem Respekt für die Sache tun.“

Pragmatismus und Pietismus

Die Kritik, die vielen mit Zeremonien verplemperten Tage wären doch mit Bäume pflanzen oder Kampagnen gegen die Holzindustrie besser genutzt, übersieht also ganz klar etwas Wichtiges. Der Gärtner wird sich – von der Zeremonie beseelt – um die richtige Stelle für jeden Baum und die richtige Baumart je nach Mikroklima und ökologischer Nische kümmern. Er wird darauf achten, den Baum in der richtigen Tiefe einzupflanzen. Und er wird dafür sorgen, dass der Baum weiterhin geschützt und gepflegt wird. Er wird danach streben, es genau richtig zu machen. Genauso wird die Aktivistin unterscheiden können, was zielführend ist, um die Abholzung zu verhindern, und was bloß ihrem falschen missionarischen Stolz, ihrem Märtyrer-Komplex oder ihrer Selbstgerechtigkeit dient. Sie wird nicht aus den Augen verlieren, welcher Sache sie dient.

Es ist Quatsch, über eine indigene Kultur zu sagen: „Dass sie fünftausend Jahre lang nachhaltig auf diesem Land gelebt haben, hat nichts mit ihren abergläubischen Zeremonien zu tun, sondern damit, dass sie scharfsinnige Beobachter der Natur sind und sieben Generationen in die Zukunft denken.“ Einen Ort zu verehren und auf seine Bedürfnisse achtzugeben ist integraler Bestandteil ihrer zeremoniellen Lebensweise. Die Geisteshaltung, die uns eine Zeremonie vollziehen lässt, lässt uns auch die Frage stellen: „Was möchte das Land? Was möchte der Fluss? Was möchte der Wolf? Was möchte der Wald?“ – und ihren Antworten lauschen. Die Geisteshaltung sieht Land, Fluss, Wolf und Wald als Wesenheiten – und zählt sie zu jenen göttlichen Wesen, die uns immer bezeugen, und deren Bedürfnisse und Interessen mit den unseren verflochten sind.

Was ich sage, mag für manche klingen, als würde ich gegen die Theologie sprechen. Deshalb werde ich für jene, die an einen Schöpfergott glauben, eine Übersetzung anbieten. Aus jedem Baum, Wolf, Fluss und Wald schaut uns Gott zu. Alles wurde mit einer Bestimmung und Absicht geschaffen. Und so fragen wir: Wie können wir unseren Teil zur Erfüllung der Bestimmung beitragen? Und die Antwort wird dieselbe sein wie auf die Frage: Was möchte der Wald? So kannst du auch den Rest des Textes für dich übersetzen, wenn du an einen Schöpfergott glaubst.

Ich persönlich kann nicht behaupten zu wissen, dass göttliche Wesen mich immer beobachten. So wie ich erzogen wurde, waren göttliche Wesen wie der Himmel, die Sonne, der Mond, der Wind, die Bäume und die Ahnen überhaupt keine göttlichen Wesen. Der Himmel war eine gewisse Menge an Gaspartikeln, die sich im Nichts des Alls verlieren. Die Sonne war ein Ball aus verschmelzendem Wasserstoff. Der Mond war ein Felsbrocken (und ein Felsbrocken ist ein Agglomerat an Mineralien, und Mineralien sind ein Haufen lebloser Moleküle…). Der Wind war das Zusammenspiel von bewegten Molekülen und geomechanischen Kräften. Bäume waren biochemische Säulen, und die Ahnen waren Leichen unter der Erde. Die Welt außerhalb von uns war stumm und tot, ein zufälliges Tohuwabohu aus Kraft und Masse. Da draußen gab es nichts, keine Intelligenz, die mein Sein und Handeln bezeugte; und keinen Grund, irgendetwas besser zu machen, als sich durch die rational vorhersehbaren Konsequenzen rechtfertigen ließ.

Warum sollte ich die die Kerze auf meinem Altar genau richtig hinstellen? Ist sie doch bloß Wachs, das um einen Docht herum oxidiert. Die Position der Kerze übt keine Kraft auf die Welt aus. Warum sollte ich mein Bett machen, wenn ich eh in der nächsten Nacht wieder darin schlafen werde? Warum sollte ich für irgendetwas mehr tun, als die Note, der Chef oder der Markt es verlangen? Warum sollte ich mich je bemühen, etwas schöner zu machen, als es sein muss? Ich mogle mich ein bisschen durch – das fällt schon keinem auf. In meiner kindlichen Fantasie konnten die Sonne und der Wind und das Gras mich sehen, aber mal ehrlich, sie sehen mich nicht wirklich, sie haben keine Augen, sie haben auch kein zentrales Nervensystem, sie sind keine lebendigen Wesen, wie ich eines bin. In dieser Ideologie bin ich aufgewachsen.

Die zeremonielle Weltsicht leugnet nicht, dass es nützlich sein kann, den Himmel als einen Haufen Gaspartikel und einen Stein als Zusammensetzung aus Mineralien zu sehen. Aber sie beschränkt den Himmel und den Stein nicht darauf. Statt einzig ihre Zusammensetzung als ihre „eigentliche“ Natur zu betrachten, erachtet sie andere Interpretationen als genauso wahr und nützlich. Die Alternative zu der Weltsicht meiner Kindheit ist deswegen nicht, alles Nützliche für irgendeine zeremonielle Ästhetik über Bord zu werfen. Die Trennung zwischen Nützlichkeit und Ästhetik ist falsch. Sie wird nur einer kausalen Weltsicht gerecht und übersieht die mysteriöse und elegante Intelligenz des Lebens. Die Wirklichkeit ist nicht so, wie sie uns erklärt wurde. In der Welt wirken Intelligenzen, die die menschliche weit übersteigen, und andere kausale Prinzipien als physikalische Kräfte. Synchronizität, morphische Resonanz und Autopoiese (Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) können, während sie keine Antithesen zur Kausalität der Kräfte darstellen, unseren Möglichkeitshorizont erweitern. Dementsprechend wird eine Zeremonie nicht Dinge in der Welt „machen“, sondern die Wirklichkeit in eine Form bringen, in der andere Dinge passieren.

In einem Leben ohne Zeremonie stehen wir ohne Verbündete da. Nachdem wir sie aus unserer Realität verbannt haben, entlassen sie uns in eine Welt ohne Intelligenz – die modernistische Ideologie. Das mechanistische Weltbild wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, sodass uns tatsächlich nur bleibt, mittels Kraft auf die Welt einzuwirken.

Traditionelle Gesellschaften wie die Kogi oder die Dogon wollen nicht, dass wir ihre Zeremonien nachahmen; sie laden uns ein, zu einer Weltsicht überzugehen, in der wir Menschen als Gefährten an einer Welt teilhaben, deren Intelligenzen miteinander im Gespräch sind, in einem Universum voller lebendiger Wesen. Eine Zeremonie ist Ausdruck der Entscheidung, in so einem Universum zu leben und an der Erschaffung seiner Wirklichkeit teilzuhaben.

Zeremonien zur Heilung der Umwelt

In der Praxis – warte mal! Alles, was ich gesagt habe, ist schon wunderbar praktisch. Ich möchte stattdessen darüber sprechen, wie die zeremonielle Geisteshaltung auf Umweltpolitik und -Praxis ausgeweitet werden kann. Das heißt, jedem Ort auf der Erde gerecht zu werden, ihn als Wesenheit zu sehen; zu wissen, dass, wenn wir jeden Ort, jede Spezies und jedes Ökosystem als heilig ansehen, wir den ganzen Planeten in eine heilige Ganzheit bringen.

Manchmal passen die Handlungen, die daraus entspringen, jeden Ort als heilig anzusehen, gut in die Logik der Kohlenstoffsequestrierung und des Klimawandels; zum Beispiel wenn wir ein Pipeline-Projekt verhindern, um einen heiligen Fluss zu beschützen. Manchmal scheint die Logik von CO2-Budgets dem Instinkt der zeremoniellen Geisteshaltung zu widersprechen. Heutzutage werden Wälder abgeholzt, um riesigen Solar-Anlagen Platz zu machen, und Vögel sterben in den Rotorblättern riesiger Windräder, die über der Landschaft thronen. Außerdem wird alles, was keinen besonderen Einfluss auf die Treibhausgas-Bilanz hat, für umweltpolitische Entscheidungsträger unsichtbar. Was ist der praktische Nutzen einer Wasserschildkröte? Eines Elefanten? Was spielt es für eine Rolle, wenn ich meine Kerze schludrig auf den Altar stelle?

In einer Zeremonie spielt jedes Detail eine Rolle. Durch den zeremoniellen Blick auf ökologische Heilung weitet sich unsere Wahrnehmung. Während die Wissenschaft mehr und mehr die Wichtigkeit von zuvor unsichtbaren oder banalisierten Lebewesen entdeckt, wächst auch der Einflussbereich der Zeremonie. Boden, Myzelien, Bakterien, die Form von Wasserläufen – sie alle fordern einen Platz auf dem Altar unserer Land- und Forstwirtschaft und in allen Beziehungen mit dem Rest des Lebens. Je feiner unser Gespür für kausale Zusammenhänge wird, desto mehr erkennen wir auch, wie entscheidend beispielsweise Schmetterlinge oder Frösche oder Wasserschildkröten für eine gesunde Biosphäre sind. Am Ende stellen wir fest, dass das zeremonielle Auge angemessen war: dass die Gesundheit unserer Umwelt nicht auf ein paar messbare Größen reduziert werden kann.

Das soll keine Empfehlung sein, ökologische Sanierungsprojekte aufzugeben, die auf einem plumperen Verständnis von der Welt, also zum Beispiel auf einem mechanistischen Verständnis von Natur, beruhen. Die Frage lautet: Was ist der nächste Schritt zur Vertiefung unserer zeremoniellen Beziehung zur Natur? Vor Kurzem hatte ich mit Ravi Shah zu tun, einem jungen Inder, der atemberaubende Arbeit zur Regeneration von Teichen und dem umliegenden Land leistet. Ganz nach dem Vorbild von Masanobu Fukuoka arbeitet er mit einer feinspürigen Liebe zum Detail, pflanzt ein bisschen Schilf hier, reißt dort einen invasiven Baum aus und vertraut auf die regenerative Kraft der Natur. Je kleiner sein Eingriff, umso größer der Effekt. Das heißt nicht, dass gar kein Eingriff den allergrößten Effekt hätte. Sondern: Je feiner und präziser er die natürliche Bewegung der Natur versteht, umso mehr kann er sich ihr anpassen und ihr dienen, und umso weniger muss er eingreifen. Das Ergebnis ist, dass Ravi eine üppige, grüne Oase inmitten einer kargen Landschaft, einen lebendigen Altar geschaffen – oder genauer gesagt, dass er dessen Entstehung gedient – hat.

Ravi ist verständlicherweise unglücklich mit großdimensionierten Wasserrestaurationsprojekten wie denen, die ich in meinem Buch beschrieben habe: Rajendra Singhs Arbeit in Indien und die Wasserrückhaltemaßnahmen am Lössplateau, die niemals der Hingabe und Ehrerbietung nahekommen, die Ravi den unmittelbaren örtlichen Eigenheiten entgegenbringt. Diese Projekte erwachsen aus einem konventionelleren, mechanistischen Verständnis von Hydrologie. „Wo ist das Heilige?“, möchte er wissen. Wo ist die Demut vor der Weisheit miteinander verflochtener Ökosysteme und ihrer jeweiligen örtlichen Einzigartigkeit? Sie bauen doch nur Teiche. „Vielleicht stimmt das,“ war meine Antwort, „aber wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind, und jeden Schritt in die richtige Richtung würdigen.“ Selbst diese mechanistischen, hydrologischen Projekte sind im Kern von einem Respekt für das Wasser getragen. Ravis Arbeit bietet einen Einblick, wo es hingehen könnte; ohne die Projekte, welche die ersten von vielen Schritten dorthin darstellen, schlechtzumachen.

Ich möchte anfügen, dass ein Land für seine Heilung ein gesundes Vorbild braucht; ein Reservoir der Gesundheit, von dem es lernen kann. Ravis Oasen ökologischer Gesundheit können nach außen in die soziale und ökologische Umgebung abstrahlen und heilend auf angrenzende Orte wirken (zum Beispiel als Zufluchtsorte oder Laichplätze für Pflanzen und Tiere), und sie können Inspiration für andere Menschen sein, die sich um die Heilung der Erde bemühen. Deswegen ist der Amazonas so entscheidend, besonders seine Quellgebiete, die möglicherweise das größte intakte Reservoir und die Quelle von ökologischer Gesundheit auf der Erde sind. Hier ist Gaias Gedächtnis von Gesundheit, einer vergangenen und zukünftigen heilen Welt, noch intakt.

Ravis Arbeit zur Wiederherstellung von Ökosystemen funktioniert genau wie eine Zeremonie. Man könnte jetzt sagen, man sollte besser keine bestimmten Zeremonien machen – jede Handlung sollte eine Zeremonie sein. Warum sollten nur diese 10 Minuten heilig sein? Gleichermaßen könnte man darauf bestehen, dass jeder Ort auf der Welt so behandelt werden sollte, wie Ravi seine Orte behandelt. Die meisten von uns (wie auch die Gesellschaft als Ganzes), sind für so einen Schritt aber noch nicht bereit. Die zu überwindende Kluft ist zu groß. Wir können nicht erwarten, unsere techno-industriellen Systeme, unsere gesellschaftlichen Systeme oder unsere tief eingeprägte Psychologie über Nacht zu verändern. Was hingegen für die meisten von uns funktioniert, ist eine Oase der Perfektion – die Zeremonie – so gut es geht zu verankern, bis sie in unserer Lebenslandschaft Wellen schlägt, und damit mehr und mehr Aufmerksamkeit, Schönheit und Kraft in jede Handlung bringt. Jede Handlung zur Zeremonie zu machen beginnt damit, eine Handlung zur Zeremonie zu machen.

Zeremonien aus erster Hand

Der Rest des Lebens wird nicht automatisch profan und unzeremoniell, wenn man einen bestimmten Teil zur Zeremonie macht. Im Gegenteil, in der Durchführung der Zeremonie hegen wir die Absicht, sie möge auf den Tag oder die Woche ausstrahlen. Sie ist ein Fels in der Brandung des Lebens. Ebenso wenig wollen wir nur einige ausgewählte Orte verwilderter Natur, Naturreservate und Nationalparks bewahren oder einige Orte in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Diese Orte sind vielmehr wie Leitsterne: Beispiele und Erinnerung daran, was möglich ist. Weil Menschen wie Ravi solche Orte hegen, sind wir dazu aufgerufen, ein bisschen, und Stück für Stück mehr davon an alle Orte zu bringen. Mit der Einbettung eines kurzen zeremoniellen Moments in unser Leben wächst der Ruf, ein bisschen davon, und Stück für Stück mehr davon in jeden Augenblick mitzunehmen.

Wie erwecken wir in einer Gesellschaft, in der sie fast ausgestorben sind, Zeremonien wieder zum Leben? Das Imitieren oder Importieren von Zeremonien aus anderen Kulturen ist, wie ich bereits schrieb, nicht die Lösung. Es ist auch nicht notwendig, den Zeremonien der eigenen Ahnen nachzujagen, ein Unterfangen, mit dem wir scheinbar das Risiko der kulturellen Aneignung ausschließen aber gleichzeitig riskieren, unsere eigene Kultur zu vereinnahmen. Zeremonien sind lebendig; beim Versuch sie zu imitieren oder zu konservieren erzeugen wir nur eine Attrappe.

Welche Möglichkeit bleibt uns nun? Uns unsere eigenen Zeremonien zu schaffen? Nein, streng genommen nicht. Zeremonien werden nicht erschaffen, sondern entdeckt.

Folgendermaßen könnte es gehen. Du beginnst mit einer rudimentären Zeremonie, vielleicht zündest du jeden Morgen eine Kerze an und nimmst dir einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, wer du heute sein willst. Aber wie zündest du die Kerze richtig an? Wie zündest du sie perfekt an? Vielleicht nimmst du sie in die Hand und hältst sie schräg über das Streichholz. Und wo legst du das Streichholz hin? Auf einen kleinen Teller an der Seite vielleicht. Dann stellst du die Kerze wieder zurück, genau richtig. Dann schlägst du vielleicht ein Glöckchen drei Mal an. Mit wie viel Abstand zwischen den Schlägen? Hast du es eilig? Nein, du wartest bei jedem Ton, bis er in Stille übergeht? Ja, genau so ist es richtig …

Mir geht es nicht darum, dass diese Regeln und Abläufe deine Zeremonie bestimmen sollen. Um eine Zeremonie zu entdecken, folge dem Gefühl von „Ah ja, so ist es genau richtig“, das deine Achtsamkeit enthüllt. Im Lauschen, Beobachten, im aufmerksamen Da-Sein erspüren wir, was zu tun, was zu sagen ist, und wie wir uns daran beteiligen. Nicht anders haben Menschen wie Fukuoka gelernt, richtig mit dem Land umzugehen.

Vielleicht wird aus der Kerze ein kleiner Altar, und aus dem Entzünden wird eine etwas längere Zeremonie, sich um diesen Altar zu kümmern. Dann strahlt es aus. Vielleicht räumst du bald deinen Schreibtisch mit derselben Sorgsamkeit auf. Oder dein Zuhause. Und bald wendest du dich mit derselben Sorgfalt und demselben Wohlwollen deinem Arbeitsplatz, deinen Beziehungen und dem Essen, das du in deinen Körper gibst, zu. Mit der Zeit wird die Zeremonie ein Anker, eine Brücke hinüber in die Realität, in der du lebst. Vielleicht hast du das Gefühl, dass sich dein Leben rund um die Intention deiner Zeremonie neu ausrichtet. Womöglich erlebst du Synchronizitäten, die zu bestätigen scheinen, dass hier tatsächlich eine größere Intelligenz am Werk ist.

Wenn dies geschieht, taucht das Gefühl auf, dass uns hier unzählige Wesen begleiten. Die Zeremonie, die nur Sinn hat, wenn heilige Wesen uns zuschauen, befördert uns in eine erfahrbare Realität, in der diese heiligen Wesen tatsächlich anwesend sind. Je mehr wir diese Anwesenheit spüren, umso inniger ist die Einladung, mehr Handlungen, wirklich jede Handlung als Zeremonie und mit unserer vollen Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit zu begehen. Wie wäre dann das Leben? Was wäre dann die Welt?

Volle Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit kann unter unterschiedlichen Umständen ganz verschieden aussehen. In einem Ritual äußert sie sich ganz anders als in einem Spiel, in einem Gespräch, oder beim Kochen. Eine Situation erfordert Präzision und Ordnung, eine andere Spontanität, Wagemut oder Improvisation. Die Zeremonie schlägt einen Grundton an, an dem sich jede Handlung und jedes Wort stimmig danach ausrichten kann, wer man wirklich ist, wer man sein möchte und in welcher Welt man leben möchte.

Eine Zeremonie gewährt uns Einblick in das heilige Ziel, wo gilt:

Jede Handlung eine Zeremonie.
Jedes Wort ein Gebet.
Jeder Schritt eine Pilgerschaft.
Jeder Ort eine heilige Stätte.

Eine heilige Stätte verbindet uns mit dem Heiligen, das über die eine heilige Stätte hinausgeht und alle heiligen Stätten miteinschließt. Eine Zeremonie kann aus einem Ort eine heilige Stätte machen und bietet so einen Rettungsanker hinüber in eine Realität, in der alles heilig ist. Sie ist der Vorposten dieser Realität oder dieser Geschichte über die Welt. Genauso ist jedes regenerierte Stück Erde ein Vorposten der verbliebenen Oasen ursprünglicher Lebendigkeit wie dem Amazonas, dem Kongo, vereinzelten Resten unberührter Korallenriffe, Mangrovenwälder und so weiter. Wir schauen verzweifelt auf die Pläne der neuen brasilianischen Regierung zur Plünderung des Regenwaldes und fragen, was wir tun können, um ihn zu retten. Politische und wirtschaftliche Handlungen sind bestimmt notwendig, aber wir können zeitgleich auf einer anderen Ebene handeln. Jeder Ort, der geheilt wird, nährt den Amazonas und bringt uns einer Welt näher, in der er intakt bleibt. Mit der Vertiefung unserer Beziehung zu solchen Orten rufen wir bislang unerkannte Kräfte her, unsere Entschlossenheit zu stärken und unsere Bündnisse zu koordinieren.

Die Wesen, die wir aus unserer Realität ausgeschlossen haben, die wir in unserer Wahrnehmung zu Nicht-Wesen degradierten, sind noch immer da und warten auf uns. All meinem angelernten Unglauben zum Trotz (mein eigener innerer Zyniker, der Naturwissenschaften, Mathematik und analytische Philosophie studiert hat, ist mindestens so penetrant wie deiner) spüre ich, wenn ich mir einen Moment aufmerksame Stille erlaube, dass diese Wesen sich versammeln. Stets hoffend scharen sie sich um die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit. Spürst du sie auch? Inmitten deiner Zweifel – vielleicht – und ohne Wunschdenken: Kannst du sie spüren? Es ist dasselbe Gefühl, wie im Wald zu stehen und plötzlich wie zum ersten Mal zu erkennen: Der Wald lebt. Die Sonne schaut mir zu. Und ich bin nicht allein.

Übersetzung: Christoph Peterseil, Nikola Winter, Vanessa Groß und Stephan Pfannschmidt

Spenden ans Übersetzerteam werden gerne angenommen:

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Hinweis zur deutschen Übersetzung:

Die Unterscheidung zwischen profanen und „heiligen“ ( = „in der Präsenz des Göttlichen durchgeführten“) Handlungen ist wesentlicher Gegenstand des Textes. Zur Unterscheidung stellt Charles die beiden Begriffe „Ceremony“ und „Ritual“ gegenüber. „Ritual“ ist bei Charles das Profane, „Ceremony“ das Heilige.

Die Übersetzung dieser Begriffe ins Deutsche erwies sich als unvermutet knifflig. Schließlich ist in der Ritualarbeit (z.B. Visionssuche) im deutschen Sprachraum vielerorts das Wort „Ritual“ gebräuchlich, wo man in Nordamerika „Ceremony“ sagt. Eine direkte Vertauschung der beiden Begriffe für den deutschen Text wurde in Erwägung gezogen, schien aber auch nicht stimmig – unter anderem, weil dann ein vergleichendes Lesen der verschiedenen Sprach-Fassungen Verwirrung stiften würde. Deshalb blieben die Kernbegriffe bei ihren gleichlautenden Pendants: das englische „Ritual“ für das deutsche „Ritual“, „Ceremony“ für „Zeremonie“.

An meine Herzensbrüder und Herzensschwestern von: Martina Reutter – Mystikerin Dipl.-Finanzwirtin (FH) Auszeithaus & Wahlfamilien In meinen Augen können wir unsere Potentiale erst dann wirklich entfalten, wenn wir uns getragen […]

Die Himmel sind weit
und weniger fern, als wir dachten.
Es gibt ein Über-den-Wolken
in uns auch,
nicht nur die Dunkelheit und die Blendgranaten,
sondern tausend Lichter am Ende der Tunnel;
die Hoffnung, die uns, und sei sie noch so klein,
für einander am Leben hält und
uns in einem Lächeln verbindet,
in einem heimlichen, verstohlenen,
revolutionären Lächeln.

Nun lasst uns also die Hände ergreifen,
die dargebotenen, die ausgestreckten,
die hilfesuchenden auch.
Nun seht, dass die Tage länger werden
und nicht von Dauer sind Krieg und Verderben.
Die Bleikammern der Herzen sind überwindbar
und die Birken vor Birkenau grünen
wider alles Erwarten.

Bobby Langer

 

von Bobby Langer

Zufriedene Menschen haben keinen guten Ruf. Sie gelten bestenfalls als naiv, schlimmstenfalls als dumm. Zufrieden sind Tiere in Käfighaltung, die es nicht besser wissen, zufrieden sind aber auch freilebende Tiere in einer relativ unbedrohten Natur. Zufrieden sind Geisteskranke und Säuglinge an der Mutterbrust.

Eine schauerliche Beschreibung von Zufriedenheit liefert Wikipedia: „Die Zufriedenheit tritt im Leben nicht automatisch ein, sondern sie muss sich in der ständigen Auseinandersetzung mit der Unzufriedenheit behaupten.“ Mit anderen Worten: Es gibt keine grundsätzlich zufriedenen Menschen (es sei denn die Unzurechnungsfähigen). Unzufriedenheit ist also der vorherrschende Seinszustand.

Ist Zufriedenheit weiblich?

Tatsächlich habe ich schon eine Reihe zufriedener Menschen kennengelernt: meine Großmutter zum Beispiel, die aus Schlesien vertrieben war und doch in eine geradezu provokative Zufriedenheit fand; zwei alte österreichische Sennerinnen, die sich von einem 14-Stunden-Arbeitstag nicht aus der Ruhe bringen ließen; eine junge Mutter, obwohl der Erzeuger sich weigerte, die Vaterrolle zu übernehmen; ein schottischer Landwirt, der seine Heimat nie verlassen hatte und mit 16 Arbeitsstunden einverstanden war – am Sonntag genehmigte er sich zwei, drei Stunden weniger. Würde ich mir das Gedächtnis ein wenig mehr zermartern, fände ich sicherlich einige zufriedene Menschen mehr. Auffällig an meiner zufälligen Zusammenstellung ist die weibliche Häufung.

Zufriedenheit, nicht Befriedigung

Eins sei grundsätzlich angemerkt: Zufriedenheit darf nicht verwechselt werden mit Befriedigung. Nun geht es mir hier gar nicht um eine genauere Betrachtung der Zufriedenheit, sondern mehr um die Konsequenzen von Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit. Der Frieden bildet nicht umsonst den Kern des Wortes Zufriedenheit. Frieden ist keine kurzfristige Situation, sondern ein anhaltender Zustand. Zufriedene Menschen sind tendenziell friedliche Menschen. Sie lieben fröhliche oder auch stille Geselligkeit, den Kreis der Familie oder von Freunden. Konflikte hingegen meiden zufriedene Menschen tunlichst; lieber beschäftigen sie sich damit, den Zustand ihrer inneren Ruhe auszugestalten und das vorhandene Gute zu ergänzen und auszubauen. Streitlustigen gehen sie aus dem Weg oder sie wenden sich von ihnen ab.

Das Bewusstsein der Lücke

Streit ist dem Zufriedenen ein fremder und befremdlicher Zustand. Wird der Zufriedene zum Streit gezwungen, dann kann er zwar hart kämpfen, aber er kämpft nicht um Sieg, sondern um die Wiederherstellung der Zufriedenheit. Man könnte geradezu sagen: Im Kampf zwischen bedrohten Zufriedenen und bedrohenden Unzufriedenen kämpfen beide Parteien aneinander vorbei. Weil der Unzufriedene sich Zufriedenheit wünscht, jagt er ihr hinterher und versucht, sie zu erzwingen. Der mentale Grundzustand des Unzufriedenen ist das Bewusstsein einer unerklärlichen Lücke, die er ständig zu füllen versucht. Dem Zufriedenen ist dieser mentale Grundzustand fremd.

Bedeutungsfelder

Über Zufriedenheit und ihr Gegenteil habe ich bisher nur auf der individuellen Ebene gesprochen. Übergangsweise kann man sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn eine ganze Gruppe von Zufriedenen zusammenlebt. Dabei entstehen Bedeutungsfelder wie Beistand, Glück, Harmonie, Heimat, Vertrauen und Frieden, allesamt mit dem Verdacht kritikloser Naivität belastet. Andererseits kann man sich die Folgen ausmalen, wenn eine Gruppe von Unzufriedenen zusammenkommt. Dabei werden Streit entstehen, Auseinandersetzung, Dominanz, Hierarchie, Gewalt und Krieg.

Brutstätte der Unzufriedenheit

Eine Steigerungsform einer solchen dissonanten Situation entsteht, wenn man die Unzufriedenheit zur Grundlage einer Gesellschaftsordnung macht; und wenn sich diese Gesellschaftsordnung einer Wirtschaftsordnung unterwirft, in der es kein Genug gibt, sondern es immer mehr und besser und größer und bequemer werden muss. Die vom kapitalistischen Wirtschaftssystem gezauberte Konsumgesellschaft ist eine Brutstätte der Unzufriedenheit sowie Entfremdung und damit latent gewalttätig. Der Strom der immer neu geweckten Wünsche treibt das Konsumrad an, das so lange in Schwung bleibt, solange es nur zu einer kurzfristigen Befriedigung kommt und keine dauerhafte Zufriedenheit entsteht.

Reizorientiert, fremdbestimmt und krank

Der Drang nach immer mehr erzeugt eine permanente Unzufriedenheit, seelisches Leid und eine Grundstimmung der Friedlosigkeit, wenn nicht der Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft. So zurechtgetrimmte Menschen leben reizorientiert und ohne inneres Fundament, sind auf eine geradezu lustvolle Art und Weise fremdgesteuert und deshalb leicht zu (ver)führen. Da dieser „konsumistische Formungsprozess“ in immer jüngeren Jahren beginnt und in seinen Konsequenzen nur von wenigen Eltern durchschaut wird, setzt auch die Anspruchshaltung gegenüber den Lebensumständen immer früher ein. Unzufriedenheit stellt sich schon in der Grundschule ein, wenn nicht bereits im Kindergarten. Einher gehen damit entgleisende kindliche Seelen und gestörte Familien und Beziehungen.

Nein, diese Überschrift, so sehr sie einer ähnelt, ist keine. Sie fasst nichts zusammen, liefert allenfalls Stichworte, wirkt „nach unten“ in den Text hinein, und der Text klimmt nach oben und keimt in den drei Lücken zwischen den Worten und den dreißig Buchstaben. Die Kommata und später die Punkte sind Pflanzlöcher, größere Verschnaufpausen, durch die hindurch – wie durch die kleinen Lücken – Sinn entsteht und wieder verraucht.

Wohin?

Seit einer geraumen Weile denkt es in mir über die neue Ontologie nach, die wir so dringend brauchen, keinen Paradigmenwechsel, der sich so leicht dahinsagen und einfordern lässt, sondern tatsächlich ein neues Verständnis für das Wesen des Seins und, sich daraus entwickelnd, einen anderen Umgang mit unserer Mitwelt, der sich so sehr von allem Bisherigen unterscheidet wie Traumwelt von Alltagswelt, eine neue, geistige Weltordnung.

Es geht also um nichts weniger als um einen Ontologiewechsel. Ein paar Sätze zum Ausgangspunkt, nein zur Ausgangsebene, die so selbstverständlich unser tägliches Sein bestimmt, dass es schwerfällt, sie sprachlich fassend der bewussten Wahrnehmung zuzuführen: Wir schlafen ein und erwachen, schlafen ein und erwachen, unser ganzes Leben lang. Dieser Rhythmus unserer geistigen Bewegung verläuft Tag für Tag in eine Richtung: von der Traumwelt zur Wirklichkeit bzw. zu dem, was wir so nennen. Im abgrenzenden Begriff der Wirklichkeit spiegelt sich eine unüberhörbare Überheblichkeit gegenüber der Traumwelt, der ich nicht folgen möchte. Ich werde die beiden Wirklichkeiten deshalb im Folgenden entweder einfach Nacht und Tag oder Traumwirklichkeit und Standardwirklichkeit nennen.

Dieser Richtungsverlauf von der Nacht zum Tag durchzieht unsere komplette Weltanschauung. Wie wir der Traumwirklichkeit entkommen wollen, so sollen wir der Kindheit entrinnen, den Idealen der Jugend, den romantischen Gefühlen und einem anarchischen Weltwahrnehmung. Ziel ist eine vorgestellte „höhere Plattform“ der Standardwirklichkeit, von der herab wir auf die Welt schauen: erwachsen, objektiv, wissenschaftlich, nüchtern, diszipliniert und eingeordnet in eine logisch erklärbare, durchstrukturierte Welt, die Emotion, Gefühl und Intuition lediglich einen Unterhaltungswert zuweist. Weg also von der Nacht, hin zum Tag, zu gedanklicher Klarheit und patriarchaler Würde.
Und doch ist diese Ausrichtung unserer lebenslangen, inneren Orientierung schon bei einem oberflächlichen Blick irreführend. Denn wir kommen nicht aus dem Tag und wir enden nicht im Tag, sondern in der Nacht bzw. einer zeitlosen Traumwirklichkeit, der wir anfangs entstiegen sind.

Was würde nun bedeuten, wenn wir vom Tag zur Nacht hin lebten, wenn nicht eine turmhohe Ratio das Ziel unserer täglichen, inneren Ausrichtung wäre, sondern zeitentiefe Intuition; wenn wir den allbestimmenden Zeitpfeil in Frage stellten, wenn wir uns innerlich nicht bewegten wie ein technikgetriebenes Schiff auf den jeweils nächsten Hafen zu, sondern wie das allgetriebene Meer und seine Gezeiten? Was würde das bedeuten hinsichtlich der großen Komplexe Arbeit, Bildung, Erziehung, Gewalt, Industrie, Justiz, Mann/Frau, Mitwelt, Sexualität, Sprache, Werte und Wirtschaft?

Und als letzte große Frage: Was machte es mit unserer Vorstellung des Heiligen? Auf jeden Fall würde es aus den konfessionellen Katakomben an die frische Luft geholt. Würde es am Ende bedeuten, das Ziel allen Denkens und Handelns wäre ein heiliges Leben, die in den Alltag übersetzte Ultima Intuitio?

von Peter Zettel

Wir sehen die Fragmentierung in der Welt und suchen, sie zu überwinden. Durch mehr Menschlichkeit, einen anderen Umgang miteinander, humanitäres Verhalten. Doch es wird uns wohl kaum wirklich gelingen, dadurch die Fragmentierung im Denken der Menschen zu überwinden.

Solange wir nach dem Licht streben und der Dunkelheit in uns selbst zu begegnen scheuen, solange werden wir nicht erkennen können, worum es in Wirklichkeit geht. Denn es ist nicht wie in einem Zimmer, wo ich nur das Licht anzumachen brauche, um die Dunkelheit zu vertreiben. Weiterlesen

Rezension von Bobby Langer

Es ist wohl kein Zufall, dass im Buchtitel das Wort „Einsamkeit“ von den beiden Wörtern „Natur“ und „Glück“ eingerahmt ist. Protagonistin dieser authentischen und sehr persönlichen, ja gelegentlich intimen Erzählung ist die Autorin selbst. Als Tochter eines Schweizer Berggängers und Bergfexes ist ihr der Aufenthalt in der freien Natur eine Selbstverständlichkeit; so gut wie jedes Wochenende verbrachte sie mit ihrer Familie in den Bergen. Lange Wanderungen, auch über Hunderte, ja Tausende von Kilometern bringen sie nicht zur Erschöpfung. Im Gegenteil: Fern des städtischen Getriebes, fern der Zivilisation sucht und findet sie immer wieder aufs Neue Glück im Herzen der Einsamkeit. Weiterlesen

Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

Rezension von Bobby Langer

Worum geht es eigentlich? Ich spreche weder von Corona, noch vom Ukrainekrieg, noch von der Klimakrise. Ja, kann man von etwas anderem sprechen? Gibt es etwas Wichtigeres? Ja, nämlich die Ursache für Corona, für den Krieg und die Klimakrise. Wenn es so eine Ursache gäbe, wäre sie es nicht wert, beseitigt zu werden? Prio eins sozusagen? Genau darum geht es in Fabian Scheidlers Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“.

Es geht buchstäblich um das „alles oder nichts“. Es geht um „die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist“, es geht um „Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse“. Und weil Scheidler durch und durch Journalist ist, kann man dieses Buch auch lesen, ohne Sekundärliteratur zu studieren oder nach fünf Seiten einzuschlafen. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?“ Weiterlesen

Das Paradies ist der Ort, den wir gerne erreichen würden. Aber er liegt hinter uns, unerreichbar verschollen in der Vergangenheit. Erst allmählich dämmert uns, dass es nicht nur der Apfel war, weshalb wir von dort vertrieben wurden. Und je mehr wir das verstehen und verinnerlichen, desto mächtiger baut sich ein neuer Sehnsuchtsort auf, ein Ort, an dem wir sein können, ohne haben zu müssen, an dem wir nicht an Geld oder Leistung gemessen werden, an dem wir zu Hause sein und uns geborgen fühlen können; und der dennoch ein moderner Ort ist. Weiterlesen

„Ohne Staunen, ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt.“ Gottlieb Herder

Von Sepp Stahl, 20.01.2022

Am Anfang der Philosophie steht Staunen.

Aristoteles sieht im Staunen den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf Verwunderung legt. „Das Staunen ist ein Zustand, der vor allem dem Freund der Weisheit (Philosophen) zukommt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ So Plato. „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist Erstaunen.“ J.W. Goethe

Auch am Anfang jeder Religion steht das Staunen. Staunen, sich wundern, innehalten und betrachten gehören zum Ursprung aller Religionen. Das Staunen ist eine Spielart des Glaubens – wer staunt, lässt sich berühren. Weiterlesen