Versuchen wir es mal mit Staunen!
„Ohne Staunen, ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt.“ Gottlieb Herder
Von Sepp Stahl, 20.01.2022
Am Anfang der Philosophie steht Staunen.
Aristoteles sieht im Staunen den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf Verwunderung legt. „Das Staunen ist ein Zustand, der vor allem dem Freund der Weisheit (Philosophen) zukommt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ So Plato. „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist Erstaunen.“ J.W. Goethe
Auch am Anfang jeder Religion steht das Staunen. Staunen, sich wundern, innehalten und betrachten gehören zum Ursprung aller Religionen. Das Staunen ist eine Spielart des Glaubens – wer staunt, lässt sich berühren. Wir akzeptieren, dass es etwas Größeres gibt. Bei den Mystikern in allen Religionen und den Naturreligionen sind das Staunen, die Ehrfurcht und der Lobpreis ein wesentlicher Zugang zur Spiritualität. Staunen führte wohl zur ursprünglichsten Form von Spiritualität. Das gilt auch heute noch.
Kinder, vor allem Kleinkinder, gehen staunend durch die Welt, sie sind Meister des Staunens.
Bei Erwachsenen ist Staunen kaum mehr zu finden. Kann das Staunen, die radikale Verwunderung des Kindes, wieder gelernt werden?
Staunen – das Gegenteil von Gedankenlosigkeit
Wie wichtig Staunen ist und welche Motivationen es auslösen kann, soll des Weiteren gezeigt werden. Sehr hilfreiche Argumente fand ich vor längerer Zeit in einem Beitrag von Geiko Müller-Fahrenholz (Theologe und Autor) in Publik Forum: Staunen ist eigentlich ein anderes Wort für Sensibilität, für Achtsamkeit, eben das Gegenteil von Gedankenlosigkeit. Staunen ist nichts anderes als genauer hinzusehen, hinzuhören, mit allen Sinnen und Verstand. Eine Sache der Einstellung. Also eine Sache, die wir üben können, zur Praxis werden lassen. Lernt wieder Staunen! Staunen, das bist du, erlebe die Welt als Wunder. Jedes Blatt hat sein Geheimnis, jeder Grashalm bleibt ein Rätsel. Wer Staunen kann, zeigt unmittelbar Respekt, Dankbarkeit und Lobpreis.
Eine interessante Erweiterung des Staunens entdeckte ich in einem Artikel in der SZ vom 20.05.2015: „Demütiges Staunen – Wer sich noch wundern kann, ist sozialer und hilfsbereiter.“
„Angeblich haben viele Erwachsene das Staunen verlernt und nur Kindern bleibt dieses wunderbar entrückte Gefühl.“ Im Fachblatt Journal of Personality and Social Pschology beschreiben Wissenschaftler um Paul Piff, wie das Gefühl des Staunens dazu beiträgt, kooperativer, hilfsbereiter und altruistischer zu werden. „Eine Erklärung dafür, warum das Staunen zu besseren Menschen macht, klingt verblüffend einfach. Wer staunt, gibt sich dem schwer zu beschreibenden Gefühl hin, an etwas teilzuhaben, das größer ist als man selbst – oder wie Calvin und Hobbes ausdrücken, die sich angesichts der Unendlichkeit des Sternenhimmels wundern, ‚warum die Menschheit so einen Riesenaufstand um sich macht‘.“ Wird das Verständnis von Welt für einen Moment erschüttert, sei es durch Erlebnisse in der Natur, mit Kunst, Musik oder Religion, rückt das Selbst in den Hintergrund. „Die eigenen Sorgen verschwinden, und das Staunen ermutigt die Menschen, sich um das Befinden anderer zu kümmern“, sagt Piff, der an der University of California in Irvine forscht. „Man hält sich nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt, wenn man staunt … Die Aufmerksamkeit verlagert sich, und man denkt auch an den Nutzen für andere … Unsere Forschung weist darauf hin, dass es mehr Hilfe und Rücksicht gäbe, wenn die Menschen öfter staunen würden“, so abschließend Piff.
Staunende Wissenschaftler
Indem Wissenschaftler:innen besonders im 20. Jahrhundert immer tiefer in den Mikro- und Makrokosmos vordrangen, lernten viele von ihnen Staunen. Staunen vor ihren sensationellen Entdeckungen. H.P. Dürr hat in „Physik und Transzendenz“ etliche Aussagen festgehalten. Drei Beispiele daraus:
Carlo Rubina, Astrophysiker: „Als Forscher bin ich tief beeindruckt durch die Ordnung und Schönheit, die ich im Kosmos finde sowie im Zauber der materiellen Dinge. Und als Beobach- ter der Natur kann ich den Gedanken nicht zurückweisen, dass hier eine höhere Ordnung der Dinge im Voraus existiert. Es ist hier eine Intelligenz auf höherer Ebene vorgegeben, jenseits des Existenz des Universums selbst.“
Albert Einstein: „Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle aller Wissenschaft.“
Werner Heisenberg: „Kann die Natur wirklich so absurd sein, wie sie uns in unseren atomaren Experimenten erscheint, ein Gefühl entsteht, als würde mir der Boden auf dem die Wissenschaft steht, unter den Füssen weggezogen. Unsere Welt ist im Kern eben nicht rational, sondern folgt bizarren, quantistischen Gesetzen, die wir bislang nicht annähernd verstanden haben.“
Vom Staunen zur Ehrfurcht
Carsten Bresch, Publik Forum, 10.03.1994: „Man kommt ins Staunen und kann eigentlich nicht anders, als alles auf einen Ursprung zurückzuführen, das heißt davon auszugehen, dass im Ursprung des ganzen Universums diese Entwicklung bereits begründet ist. Und dann ist nicht mehr weit, Ehrfurcht vor diesem Geschehen zu verspüren und religiös zu werden.“
Günther Hasinger, ESA – Direktor für Wissenschaft: „Auch heute treibt die Astronomen eine tiefe Neugier und Ehrfurcht vor dem, was wir da draußen sehen. Die Gesamtschau ist so großartig, dass die Begeisterung nicht verloren geht.“ (Die Zeit, 04.04.2002)
Staunen bedeutet aber nicht nur das Staunen über die Schönheit, die Großartigkeit und Genialität der Schöpfung, sondern auch das Staunen über unser Nichtverstehen, Nichtwissen und das Staunen über die bleibenden Geheimnisse.
Weitere neue überraschende Erkenntnisse und Gewissheiten aus der Physik vermehren unser Staunen. Vielfältig erfahren wir seit längerer Zeit Aussagen, dass alles auf Erden und im Kosmos miteinander verbunden ist. „Alles im Universum ist auf eine merkwürdige Art miteinander verbunden.“ (M. Chown, Physiker) H.P. Dürr: „Im Grunde dominiert die immaterielle Beziehung, die reine Verbundenheit … Es gibt keine isolierten Teile, alles hängt mit allem zusammen … Denn Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und allem anderen von Grund auf angelegt.“ F. Scheidler in „Der Stoff, aus dem wir sind“: Wir sind „durch ein alles durchwebendes Netz von Energiebeziehungen mit dem gesamten Universum verbunden“. Er spricht gar von spukhaften Fernwirkungen und Verbindungen. Da kann man nur staunen und Demut empfinden. Wegen dieser Allverbundenheit braucht es zwingend den Begriffswechsel von Umwelt zu Mitwelt.
Verbundenheit heißt doch Nähe, Verstehen, Zusammenhalt, Sicherheit, Wohlwollen.
Nehmen wir uns das als Beispiel.
Das Leben organisiert sich selbst
Eine weitere Erkenntnis und Gewissheit wird mehr und mehr genannt und beschrieben. Nämlich, dass jeglichem Lebewesen, ob Tier oder Pflanze, auch dem Universum, eine autonome Ordnung, eine Selbststeuerung von Anfang an gegeben ist. Gewiss auch dem Menschen. „Sowohl Zellen als auch größere Organisationen kennen – und das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Biologie – keine Herrschaft, sondern nur Selbstorganisation … Auf biologischer Ebene kommt hinzu, dass Leben auf selbstorganisierenden Ganzheiten beruht, von der Zelle bis zu großen Ökosystemen und der Erde in ihrer Gesamtheit“, schreibt F. Scheidler. Er bezeichnet Selbstorganisation als einen kreativen Prozess und als eine wesentliche Eigenschaft des Lebendigen.
Nachfolgende Zitate habe ich in dem Buch „Etwas mehr Hirn bitte“ von Gerald Hüther gefunden. Systemtheoretiker „nennen es das Prinzip der Selbstorganisation und in den letzten Jahren finden auch die Biologen immer mehr Hinweise dafür, dass sich die Herausbildung und Aufrechterhaltung lebender Systeme als ein sich selbst organisierender Prozess verstehen lässt … Und es muss die für seine Selbsterhaltung und die Ausbildung seiner Strukturen erforderlichen Informationen auf irgendeine Weise abgespeichert haben.“
Der englische Biologe Rupert Sheldrake nennt diese Speicher, die jeglichem Leben und allen Vorgängen gegeben sind „morphogenetische Felder“ – abrufbare Felder: „Dieses sich selbsterhaltende und sich dabei ständig in unterschiedliche Formen, Strukturen und Funktionen weiter ausdifferenzierende und damit seine eigene Entwicklung selbst vorantreibende Leben auf dieser Erde hat dann auch uns Menschen hervorgebracht.“
Das heißt vereinfacht, autonom sich selbst aus einfachsten Strukturen immer komplexer zu entwickeln, auf den heutigen Zustand, das Leben zu meistern, gut zu leben, sich anzupassen und sich stets weiter zu entwickeln.
Hier wiederum nur Staunen. Und was Staunen auslösen kann, ist ja mein großes Anliegen in diesem Artikel.
Pädagogik des Staunens
F. Scheidler fordert sogar insgesamt eine „Pädagogik des Staunens“: „Mit jeder neuen Entdeckung nehmen nicht nur die Kenntnisse zu, sondern auch die Rätsel, und das in überproportionaler Weise: Der Bereich der Geheinisse wächst schneller als der des Wissens. Und das was zumindest in Ansätzen erkannt werden kann, sprengt, wie etwa die subatomare Welt oder die Selbstorganisation in einer Zelle, unser Vorstellungsvermögen. Angesichts dieser Lage wäre die angemessene Form der naturwissenschaftlichen Lehre eine PÄDAGOGIK DES STAUNENS, die unseren Sinn und die Rätselhaftigkeit unserer Existenz und die Grenzen des Wissens schärft.“
Seit Jahrzehnten werden vermehrt aus entsprechenden Wissenschaften Studien und Erkenntnisse publiziert, wie klug und großartig das Leben von Tieren und Pflanzen ausgestattet ist. Gut zwanzig Jahre schon sammle ich solche Dokumentationen. Ich nenne sie Staungeschichten. Inzwischen sind es weit über hundert. Die meisten gibt es zu Tieren, aber auch viele zu Pflanzen, des Weiteren zum menschlichen Leben und zum Geschehen im Weltall.
Staungeschichten
Zwei meiner Staungeschichten will hier exemplarisch darstellen.
Die erste ist zugleich meine neueste: „Schlauberger im Schnee – der Tannenhäher“ (aus dem Greenpeace Magazin 1.22). Was ist das Besondere an ihm? Er lebt hoch oben an der alpinen Baumgrenze, ist superintelligent und wahnsinnig effizient, so die Biologin Neuschulz. Vor allem sein supergutes räumliches Gedächtnis interessiert sie. „Die Zirbelkiefer, auch Zirbe genannt, trägt nämlich nur im August und September rund sechs Wochen lang Zapfen. In dieser Zeit legen die Häher sich Vorräte für den Rest des Jahres an. Sie sind dann superbeschäftigt. Wie im Akkord ernten sie die Zapfen, meißeln sie mit kräftigen Schnäbeln auf, wozu kein anderes Tier in der Lage ist, und verstecken die Kerne. In Zahlen: Bis zu achtzig Samen kann ein Häher in seinem Kropf speichern. Mehrmals pro Stunde fliegt er bis zu zehn Kilometer weit, um eine Ladung zu verstecken, wie Neuschulz und ihr Team mithilfe von GPS – Sendern herausgefunden haben. Am Ziel versteckt er die Samen schnabeltief im Boden, rund fünf pro Versteck, das mit ein bisschen Moos bedeckt wird. Etwa 100.000 Samen verteilt ein Häher im Jahr. Das wären 20.000 Verstecke.“ Rund achtzig Prozent der Samen findet der Häher wieder. „Selbst im Tiefschnee spüren die Vögel ihre Vorräte auf, indem sie bis zu anderthalb Meter lange Tunnel graben.“ Staunen ohne Ende. Wie schafft der Häher das? Woher diese außergewöhnliche Fähigkeit und die Arbeitsleistung?
Das zweite Beispiel kommt aus dem Pflanzenbereich und wurde an afrikanischen Akazien erforscht (Telepolis, 16.03.2014): „Nicht nur Menschen oder Tiere, auch Pflanzen können komplexe Entscheidungen treffen. Schon in 1990ern wiesen Forscher nach, dass Pflanzen gezielt Gifte gegen Fressfeinde einsetzen.“ Um 1985 wurden in Südafrika ziemlich merkwürdige Todesfälle von Kundus – eine Antilopenart festgestellt. Lange war man ratlos. Sie ernähren sich gerne von Akazienblättern.
Der Biologe Wouter von Hoven nahm sich der Tatsache an. Er fand heraus, wenn Gefahr droht, dass die Kudus die Akazien kahl fressen, „dann erhöhen diese massiv die Konzentration des giftigen Bitterstoffs Tannin in ihren Blättern. Zugleich setzen sie das farblose Gas Ethen frei, das über den Wind zu anderen Akazien-Bäumen gelangt. Die umliegenden Bäume riechen den Gas-Alarm und erhöhen sofort die Produktion ihrer Giftstoffe.“
Wer kommt da nicht ins Staunen?
Andere Pflanzen sind da „humaner“. Wenn sie stark von Fress-Schädlingen bedroht sind, produzieren sie in Kürze Stoffe in den Blättern, die den Schädlingen den Appetit verderben. „Das Beispiel zeigt, dass Pflanzen aktiv ihre Umwelt wahrnehmen und sogar über Gerüche miteinander kommunizieren können. Einige Forscher sprechen daher von einer Pflanzenintelligenz. Der Pflanzenexperte Anthony Trewavas aus Edinburgh erklärt hierzu kurz und bündig: Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen.“
Pflanzen können also ohne Gehirn Entscheidungen treffen. Wieder ein Rätsel, ein Geheimnis.
Fazit
Mein Fazit: Staunen kann eine starke Motivation und Unterstützung auf dem Weg zu einer besseren Welt sein. Das Staunen kann Prozesse auslösen wie bewundern, begeistern, verehren, wertschätzen, lobpreisen, Ehrfurcht zeigen, dankbar sein, sensibel sein, sich berühren lassen, Teil sein am Ganzen, Rücksicht nehmen, achtsam sein, bewahren, hegen, pflegen, schützen. Das sind gleichsam Synonyme für Staunen. Sie können sehr hilfreich sein, um unseren nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Welt zu ermöglichen. Von solch einem neuen Bewusstsein erfüllt, brauchen wir keine ethischen Appelle mehr. So zu leben wird uns zur Selbstverständlichkeit, zu unserem Lebensinhalt.
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