Das torlose Tor durchschreiten

von Peter Zettel

Du und ich: Wir haben das Gefühl, in unterschiedlichen Welten zu leben. Doch das ist nur ein Gefühl, eine Illusion, eine Fiktion, nicht mehr. Keine Realität. Diese Illusion erhalten wir mittels Konventionen am Leben, zum Beispiel indem wir den anderen (meist) permanent auf Abstand halten, damit er nicht hinter unsere Maske schauen kann. Meistens können wir nicht einmal selbst mehr hinter unsere Maske schauen; wir sind mit ihr verschmolzen.

Diese Fiktion, der Glaube vollständig voneinander getrennte Wesen und eigenständige Individuen zu sein, erhalten wir (üblicherweise) durch unsere Sprache, die “anderen” und die Geschichten am Leben, die wir uns selbst erzählen. Wir leben definitiv in der Einheit, aber wir sehen sie nicht. Einheit ist keine Metapher, sondern eine unbestreitbare Tatsache.

Die so oft beschworene „Erleuchtung“  ist nichts anderes, als das Verschwinden dieser selbstinszenierten Illusion. Die Wirklichkeit ist in jedem Augenblick präsent; man kann sie nicht suchen, sondern nur erkennen. Vor allem lässt sich die Wirklichkeit nur beschreiben, nicht aber definieren.

Über die Erfahrung der Einheit kann man oft nur in Metaphern sprechen, etwa in Koans, durch Musik oder Bilder, weil viele Menschen regelrecht an den Begriffen festkleben; sie halten Begriffe für das Wesentliche und sehen nicht, dass es nur Boote sind, die die numinosen Inhalte transportieren. Viele verkennen, dass wir restlos alles, was wir tun, nicht-bewusst tun. Auch hier haben wir wieder den numinosen Zustand unseres Seins.

Wir leben in einer Welt, die uns mysteriös und auch paradox erscheint. Doch statt uns dem zu stellen, versuchen wir immer wieder, die Paradoxie, die doch nur Komplexität ist, durch Routine zu umgehen.

Es wird wirklich Zeit, ein meditatives Leben zu führen. Nur: Wenn wir dabei etwas zu erreichen suchen, ist es schon wieder vorbei. Man wartet wie gebannt auf etwas, das sich ereignen soll, man hat ein Ziel, doch das kann man nicht erreichen, weil es kein Ziel gibt. Im Zen sagt man dazu „Das torlose Tor durchschreiten“. Das durchschreitet man in dem Augenblick, in dem man erkennt, dass dieses Tor nur ein illusionäres Tor war.

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