Wenn das Parlament regiert anstatt Parteien

Die derzeitige Situation des Deutschen Bundestages könnte einen bedeutungsvollen Wandel in der deutschen Politiklandschaft einleiten. Durch die Entscheidung des Bundespräsidenten ist eine nie dagewesene Situation im Bundestag entstanden. Um das zu verstehen, muss man sich vorab drei Dinge bewusstmachen:

– In der Theorie entscheiden Abgeordnete im Bundestag frei nach ihrem Gewissen (Artikel 38 GG: Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen und müssen sich in ihren Entscheidungen nicht an Aufträge, Weisungen oder Parteiprogramme halten.):

– In der Praxis sehen sich Abgeordnete meist gezwungen, ihr Gewissen an die Parteiführung auszulagern.
Kommt die Partei – i.d.R. gleichbedeutend mit den Alpha-Tieren der Partei – zu einem Beschluss, dann stimmen die Abgeordneten in aller Regel diesem Beschluss zu. Ein vom „Parteigewissen“ unabhängiges Abstimmungsverhalten verlangt regelrecht Zivilcourage; denn nach Bekanntwerden eines solchen Sachverhalts wird augenblicklich die Frage nach dem „Abweichler“ gestellt.

– Nicht umsonst spricht man auch nicht von Demokratie, sondern von Parteiendemokratie. Ob man nun Lobbyarbeit als versuchte Bestechung betrachtet oder als legale Einmischung – klar ist, dass die Beeinflussung des Parteigewissens erheblich leichter ist als die Beeinflussung des Gewissens aller Abgeordneten.

Da momentan eine mehrheitsfähige Koalition zwischen Parteien nicht realisierbar erscheint, bilden sich im Parlament zu verschiedenen Themen ganz unterschiedliche Befürwortergruppen. Eine Minderheitenregierung würde diesen Zustand verfestigen – und wäre eine Riesenchance für die Demokratie. Nicht mehr der Parteienproporz würde entscheiden, sondern die Stimme des einzelnen Abgeordneten bekäme das Gewicht, das ihr (bislang nur theoretisch) zusteht.

Das Parlament mit über 700 Abgeordneten sollte sich im Dienste für das Land und im Sinne seiner gesellschaftlichen Verantwortung für eine Minderheitsregierung entscheiden. Ob Merkel, Schulz oder ein dritter wäre hierbei sekundär. Staatsmännisch nobel wäre es sicherlich, wenn Frau Merkel abdankte und das Feld einer frischen Kraft überließe. Das Parlament würde sich entscheiden, gemeinsam Verantwortung für das Land zu übernehmen und eine Politik des Konsenses betreiben. Für jede Entscheidung müssten Mehrheiten gefunden werden. Die Kanzlerin oder der Kanzler wäre dann der weise Moderator einer gemeinsamen Lösung.
Der Mut zu dieser Entscheidung würde all jenen politischen Kräften das Wasser abgraben, die keine verwertbaren, konstruktiven Vorschläge, Konzepte und Pläne für die Gestaltung des Landes vorweisen können. Die Gilde der Politiker ist aufgefordert, parteiübergreifend und überparteilich ihres Amtes zu walten und gemeinsam zu zukunftsfähigen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entscheidungen zu gelangen. Das verliehe dem schwer beschädigten Ansehen von Demokratie und Politik neues Gewicht und würde sie glaubhaft und zukunftsfähig machen.