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Rezension des gleichnamigen Buches von Thomas Berry

Sind Sie heilig? Oder wild? Oder beides? Was für Fragen! Thomas Berry hält sie für angemessen und Heilig- und Wildsein für die notwendigen Eigenschaften, „die wir brauchen, um den Übergang zu vollziehen … von einer Epoche, in der die Menschen auf der Erde als zerstörerische Macht wirken, in eine andere, in der sie und der Planet sich wechselseitig bereichern“.

Anlass zur Hoffnung

In seinem Alterswerk „Das Wilde und das Heilige“ beschäftigt sich Berry nicht nur – sehr profund und doch gut leserlich – mit den Grundlagen der westlichen Zivilisation; begabt mit analytischer Intelligenz und beseelt von einem spirituellen Optimismus, sinnt er darauf, „die Rolle der Menschengemeinschaft in ihrer Beziehung zu den anderen Teilhabern des Planeten auszumessen“ und die Mittel und Möglichkeiten zu prüfen, wie wir das Steuer noch einmal herumreißen können, bevor die Titanic gegen den Eisberg kracht.

Das Wilde, weil unkontrollierbar und unvorhersagbar, ist für ihn ein Anlass zur Hoffnung. Weiterlesen

Schon in ihrer oberflächlichsten Form ist Dankbarkeit schön. Und gut. Sie hebt die Grenzen auf zwischen dir und mir, zwischen mir und den Dingen, erlaubt mir, die Umwelt als Mitwelt zu erleben. Im Mindesten verwandelt sie die Grenzen, innenräumlich wie innenzeitlich, in Grenzräume und macht sie damit gangbar und durchlässig.

Auf einer noch tieferen und vielleicht ihrer eigentümlichsten Ebene hilft sie uns, die Verbindung mit allen Wesen einzugehen. In der Dankbarkeit erklingt die Welt in mir und ermöglicht mir mitzuschwingen. Manchmal bin ich Regen, manchmal Sonnenschein und oft irgendetwas dazwischen, oft bewölkt mit gelegentlichen Sonnenschauern, oft blinzle ich den Wolken zu. Und immer nehme ich teil an der großen Verwandlung, sterbe in tausend Augenblicken und tauche immer wieder verwundert in mir auf – und in dir und der Welt und bin froh, dass ich da bin, dass du da bist und die Welt, und Leben und Sterben gehen so ineinander über, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Reihenfolge nicht umgekehrt ist: Sterben und Leben. Aber vermutlich ist es ja gar keine Reihenfolge, sondern ein Kreis, in den wir eingebunden sind.

Dann ist Dankbarkeit eine Lebensqualität, eine Qualität des Umgangs mit mir und der Welt; dann wird Dankbarkeit zur Achtsamkeit und Achtsamkeit zur Dankbarkeit und beide äußern sich in Zufriedenheit, in innerem Frieden inmitten einer turbulenten und oft schlimmen Welt, der ich dann anders und klarer begegnen kann, denn Dankbarkeit kann auch Richtschnur sein und Maß.

von Peter Wyler*

Wir hören und lesen: Der Juli 2023 war temperaturmässig der heisseste in der Geschichte der Menschheit. Weltweit schmelzen die Gletscher und der «ewige Schnee» in den Bergen. Auch die Eisflächen an den Polen unserer Erde nehmen drastisch ab.

Die menschengemachte Klimaerhitzung ist wie eine Metapher. Je mehr zwischen den Menschen, ja selbst in mir und dir, so scheint mir, Kälte und Eiszeit herrscht, Gefühle und Beziehungen abgekühlt oder eingefroren sind, desto mehr und schneller schmilzt das Eis auf unserem Planeten. Eiseskälte gibt es (zum Glück nicht überall) zwischen Frauen und Männern, zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Familien, unter Gruppen, Völkern und Staaten. Auch zwischen Regierungen und «dem Volk» herrschen Abkühlung bis eisige Erstarrung. In der Politik geschieht eiskaltes Lobbying und knallharte Interessensvertretung – anstatt wirklichem Erschaffen von Gemeinwohl und dringend notwendigen Lösungen.

Vor lauter Ansprüchen von uns Menschen haben die Bedürfnisse vieler Mit-Lebewesen auf dieser Erde nichts mehr in unseren frierenden Herzen verloren. Tausende Lebewesen-Arten sind durch unser Verhalten ausgestorben, bevor wir die Wunder des Lebens in ihnen erkennen und bestaunen konnten. Unsere Gefühle sind abgekühlt bis tiefgefroren, abgeschottet, abgestumpft, weggedrängt. Die Verbindung in unser Innerstes und Wärmendes wie durch eine «Eiswand» getrennt.

«Je erkalteter unsere Gefühlswelt, desto mehr und rascher schmilzt das Eis auf unserem Heimatplaneten.»

Oder als konstruktivere, aufmunterndere Version:  «Je erwärmender, lebendiger und friedfertiger unsere Gefühlswelt und unsere allseitigen Beziehungen, desto weniger überhitzen wir mit unserem Konsumverhalten den blauen Planeten. Und desto weniger zerstören wir die Natur und unsere Lebensgrundlagen.»

Ob die Klimaerhitzung noch rechtzeitig von uns gemeinschaftlich und weltweit gestoppt, sowie das Eis auf den Bergen, an den Polen und die Biodiversität wieder regenerierbar sind, können wir nicht sicher voraussehen.

Lassen wir das Eis in unseren Herzen schmelzen. Begegnen wir uns selbst und allem wieder mit Offenheit, Wärme und Zuneigung. Das ist der fruchtbare Boden für wachsende Verbundenheit, mehr Lebenstiefe, Freude und Geborgenheit. Wenn das Eis in uns und zwischen uns schmilzt, erwärmt sich der Boden des Verbundenseins, gedeihen daraus frische, kräftige, vielfältige, tragfähige Gemeinschaften. So beginnen die eigenen Probleme, wie auch die der Menschheit, zu schmelzen …

*© Peter Wyler, CH-8707 Uetikon am See, 24. August 2023

Astrid Reimann empfiehlt das großartige Buch „Geflochtenes Süßgras“ von Robin Wall Kimmerer.
Daher der Titel “Gras und andere Lehrer”. Ein kleiner Auszug aus ihrer Rezension:

“Wie wäre das, wenn wir uns der Erde, unserer Ur-Mutter, gegenüber genauso anständig benehmen würden wie bei der Oma?

Wir würden ganz anders ernten. Kimmer schreibt von der „ehrenhaften Ernte“. Wir würden unsere Gärten und Äcker, unsere Viehhaltung, die Jagd, Bergbau und Industrie völlig anders gestalten. Wir würden besser verstehen, wie alles zusammenwirkt. Wenn wir Menschen ein Teil der Natur sind und sie uns nicht als „Objekt“ gegenüberstellen, kann sie keine Ware sein. Ein anderes Wirtschaftssystem würde entstehen. Ein anderes Miteinander – auch zwischen uns Menschen.

Es wäre eine Revolution.”

Hier geht’s zur vollständigen Besprechung.

Ein wundervolles Video, in dem Andreas Weber anhand eines Kindheitserlebnisses Interbeing in zugleich lyrische wie nachdenkliche Worte fasst, Trauer eingeschlossen:

Wir sind die Guten. Wir essen Brot vom regionalen Biobäcker und trinken unser Wasser von Rhönsprudel. Wir kaufen keine gespritzten Kartoffeln, wir kaufen faire Rosen bei Lidl und wir fahren noch viel öfter Rad als die anderen; wenn wir zu Fuß gehen wollen, gehen wir wandern, und wir haben den Fernseher abgeschafft, weil uns der Mainstream soooooo auf den Geist geht.

Wir telefonieren mit Fairphone, wir beziehen grünes Gas von Lichtblick und Strom vom Dach, und wir fliegen nur selten oder gar nicht. Unsere Miele-Waschmaschine wäscht mit Regenwasser aus der Zisterne, unser Auto fährt mit Gas. Irgendwie sind wir schon ziemlich vorbildlich. Wir schicken unsere Kinder auf die Waldorfschule, wir kaufen nur Holzspielzeug und spenden an Weihnachten für Indigene. Wir lassen uns unsere Druckerpatronen, so grün wie möglich, von Memo schicken, und wir beziehen Biowein von einem Demeterhof in der Toskana.

Das kostet alles Geld, das wir uns mühsam erarbeitet haben und nachhaltig investieren. Wir beuten niemanden aus, sondern werden höchstens ausgebeutet oder beuten uns selber aus, und wir verheizen unser Gas bei niedriger Raumtemperatur. Wir schauen uns freches Kabarett an und auf Youtube schon mal Kaiser TV. Wir lesen weder den Spiegel noch den Stern, sondern Contraste und Zeitpunkt und hören den Greenpeace Podcast über Frieden, Krieg und Sicherheit im 21. Jahrhundert.

Wir sind die Guten. Würden alle so leben wie wir, dann wäre die Welt in Ordnung; jedenfalls Europa und die sonstige westliche Welt. Wenn der Rest des Globus nur aus unseren Fehlern lernen würde und nicht so dumm wäre zu meinen, jeden Tag warm duschen zu müssen, zweimal im Jahr Urlaub machen oder einmal im Monat schön vegetarisch essen gehen zu müssen. Oder eine Apotheke haben zu müssen gleich um die Ecke, und einen Hausarzt, eine Nanny und eine Sozialstation. Man muss sich auch keine Babynahrung kaufen in Angola, Belize oder Bangladesh; dort braucht man wirklich keinen Supermarkt, kein Schuhgeschäft, keine Biokosmetik und erst recht keinen Friseur. Man muss sich nicht unbedingt einen Computer kaufen oder einen Rasenmäher. Das alles macht nicht glücklich. Das wissen wir auch, aber wir sind’s nun mal gewohnt und können nichts dafür. Wir haben uns unseren Geburtsort nicht ausgesucht, da fühlen wir uns mit den Ärmsten der Welt vollkommen solidarisch. Es ist unser Glück, dass wir satt sind und Fastenkuren machen, und deren Pech, dass sie nicht wissen, wo sie am nächsten Tag Nahrung für ihre Kinder herbekommen.

Irgendwie ist das eben Schicksal; auch dass wir ein Krankenhaus haben und die, wenn sie Glück haben, einen Schamanen; dass wir Geld in die Forschung pumpen können und die Analphabeten sind; dass wir Geld auf dem Konto haben und die nicht mal wissen, was ein Konto ist. Dass wir hier einen öffentlichen Nahverkehr haben und die vierzig Kilometer zu Fuß gehen müssen. Dass es dort keine Arbeit gibt, weil ihr Land vertrocknet oder die Tiere verdursten, und wir hier für die nächste Lohnerhöhung streiken. Darum können wir es uns ja auch leisten, Kaffee aus fairem Handel zu kaufen und Demeter-Schokolade und Recycling-Klopapier. Wir können für die Umwelt kämpfen und schützen den Regenwald immer wieder mal und die Korallenriffe auch ein bisschen, solange es denen nicht zu warm wird. Wenn wir so wenig Geld hätten wie die, wäre alles noch viel schneller kaputt. Mit unserer Erfahrung und unserem technischen Know-how werden wir ihnen irgendwann einmal beibringen, wie Umwelttechnik funktioniert, wie man Häuser voll isoliert, damit man nur die Hälfte der Energie braucht. Wir werden ihnen auch zeigen, wie man Traktoren baut, die locker die Arbeit von hundert Menschen erledigen, solange es Bio-Diesel gibt, und wie man in nachhaltige Geldanlagen investiert, damit sie auch einmal zu den Guten gehören – in naher oder ferner Zukunft.

Von Stephan Josef Dick

Das offene Geheimnis der absichtslosen Absichtlichkeit ist ein Phänomen, das Du vielleicht kennst: Du suchst Deinen Schlüssel, Deine Brille oder Dein Handy. Du brauchst es unbedingt und findest es trotz größter Intensität nicht. Du kommst an einen Punkt der Verzweiflung, weil Du es so unbedingt haben musst. Nach diesem Punkt der Verzweiflung ergibst Du Dich Deinem Schicksal: “OK, jetzt ist alles in den Brunnen gefallen, es geht einfach nicht, ich kann nichts mehr daran ändern.” Du hast losgelassen – und indem Du es loslässt, ist es plötzlich da. Plötzlich liegt die Brille, der Schlüssel oder das Handy in Deinem Blickfeld.

Dieses Phänomen kann man 1 zu 1 auf Beziehungen oder geschäftliche Projekte übertragen: Wenn ich etwas unbedingt haben will, beispielsweise eine Idee für das kommende Wochenende oder ein aus meiner Sicht cooles Projekt – häufig sehe ich die rote Karte – insbesondere dann, wenn es mir wirklich wichtig ist.

Und wenn ich es dann loslasse, ist plötzlich etwas möglich, was vorher nicht möglich war. Meist sogar besser als erwartet.

Jetzt könnte man auf die Idee kommen, dass Loslassen die beste Strategie ist, etwas zu erreichen.

Doch was passiert wirklich: Du lässt los und es passiert – gar nichts.

Daher meine provokative Aussage: Es braucht beides!

Ich gehe für eine Sache und will das unbedingt und übe mich gleichzeitig darin, meinem Gegenüber [einer Person, Situation] eine wirklich freie Wahl zu lassen. Ich bringe klar und deutlich zum Ausdruck, was ich möchte und nehme gleichzeitig allen Druck raus, etwas erreichen zu müssen. Sprich, ich lasse die Erwartung, jemand müsse sich nach meinem Wunsch richten, los. Stattdessen vertraue ich darauf, dass es eine gute Lösung geben wird. Und das passiert – aber häufig anders, als mein Kopf sich das vorgestellt hat.

Häufig wollen wir durch Leistung, Aktion oder positive Worte überzeugen. Doch die meisten Menschen sind extrem sensibel dafür und lassen sich nicht durch unsere noch so gut getarnte Ansprache manipulieren.

Daher geht es darum, diese richtige Mischung herauszufinden. Mein Tipp: Beides voll. Voll wollen und dafür gehen und gleichzeitig voll loslassen!

Hört sich irgendwie paradox, scheinbar unmöglich an. Doch ich hab herausgefunden, dass es geht. Du kannst etwas wirklich wollen und es absolut loslassen und Dich dem Feld des Vertrauens überlassen – es auf eine Dir unbekannte Art passieren lassen: Geh dafür und lass es los.

von Peter Zettel

Rote oder blaue Pille?

Gestern sah ich in einem Video-Gespräch im Hintergrund ein Bild mit einer roten und einer blauen Pille. Ganz klar eine Anspielung auf den Film „Matrix“. Was mich zu der erstaunten Frage veranlasste „Du hast dich noch nicht entschieden?“

Sein „Doch, habe ich!“ klang mir jedoch nicht überzeugend, denn hätte er sich entschieden, wäre da eine Pille weg. Falls Sie den Film nicht kennen:

Neo wird vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Nimmt er die blaue, geht es für ihn zurück in seine heile Welt, die nicht der Realität entspricht. Die rote Pille bewirkt das genaue Gegenteil und befreit ihn aus der Simulation.

Also ich kenne keinen Philosophen oder Wissenschaftler, den ich ernst nehmen würde, der nicht die rote Pille geschluckt und eine eindeutige Meinung hätte. Der Weg Suche nach der Wahrheit lässt nämlich keinen anderen Weg zu. Rote oder blaue Pille?

Die Entscheidung muss man treffen: Will ich wirklich die Wahrheit über mich selbst wissen oder möchte ich nur meine Ansichten bestätigt haben? Die Wahrheit kann nämlich ganz schön hart sein.

Weiter mit Mit den Wölfen heulen …

Permakultur lässt sich aufs eigene Leben übertragen

“We are all elders in training …”
Mala Spotted Eagle

Mit „Krisen-Fest – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz“ schreibt Marit Marschall ein Handbuch für alle Menschen, die nicht „in Jammern und Leiden“ verharren wollen. „Wir Menschen haben Mist gebaut, und jetzt machen wir es besser“, konstatiert sie. Krisen-Fest ist ein poetisches, kluges Lehrbuch für all jene, die nach einer Methode suchen, wie sie in einer krisengeschüttelten Zeit persönlich als Mensch, aber auch – sofern sie das wollen – gärtnerisch, stabil werden und bleiben können.

Von Bobby Langer

Wie kann es sein, dass ein Ökosystem Jahrhunderte, ja Jahrtausende funktioniert, so lange der Mensch es in Ruhe lässt? Was sind die ineinandergreifenden Prinzipien eines solchen „Wunders“, haben sich die beiden Australier Bill Mollison und David Holmgren vor ein paar Jahrzehnten gefragt und haben sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Heraus kam die „Permakultur“ mit Erkenntnissen, die sich in Windeseile über den Erdball verbreitet haben. Auch in Deutschland gibt es inzwischen Tausende von Anwendern der Permakultur-Prinzipien, die in Hausgärten ebenso gut funktionieren wie auf dem Bauernhof.

Längst hat sich Permakultur zu einer Agrar-Systemwissenschaft entwickelt, die die Grundlagen des biologischen Anbaus sowohl vervollständigt als auch erweitert. Und Permakultur lässt sich erlernen, in Deutschland in privaten Akademien, in Österreich sogar an der Universität für Bodenkultur Wien. Nach einer mehrjährigen Ausbildung erhält man den Abschluss als Permakultur-Designer/in.

Auch Marit Marschall hat auf der Suche nach der Quelle unserer natürlichen Resilienz diesen Weg gewählt. In ihrer Abschlussarbeit hat sie dargelegt, dass sich die „geistigen Werkzeuge“ der Permakultur auch auf die menschliche Lebensplanung anwenden lassen, als Design für die innere Landschaft. „Wir können uns ausprobieren als innerer Gärtner und Designer unseres Lebens“, sagt Marit Marschall. Dazu hat sie den „Baumplan“ entwickelt und seine Verwendung in ihrem Buch leicht verständlich, übersichtlich und kleinschrittig nachvollziehbar beschrieben. Die anmutigen und überraschenden Farbbilder der englischen Naturkünstlerin Amber Woodhouse verleihen dem Buch schon beim ersten Durchblättern einen gewissen Zauber.

„Krisen-Fest“ – die Schreibweise verweist auf eine Doppelbedeutung: Einerseits unterstützt die Autorin psychologisch wie permakulturell sachkundig dabei, krisenfest zu werden; dies aber nicht in einem statischen Sinn, sondern flexibel und widerstandfähig wie die Natur, in der jede Krise das Potential zu Entwicklung und Wachstum birgt.

Schritt für Schritt führt dieses Kompendium der Achtsamkeit aus der Permakultur-Perspektive die LeserInnen voran: vom sinnvollen Aufbau der eigenen Resilienzwurzeln über den Stamm des persönlichen Lebensbaums – die Analyse – bis hin zur zuverlässigen Ernte der Früchte: des eigenen Lebensertrags. Dabei gelingt Marit Marschall die Gratwanderung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und spirituellen Einsichten. Krisen-Fest ist kein Aufruf „Zurück auf die Bäume“, sondern vielmehr die Vision eines indigenen europäischen Lebens, bei dem Mitwelt und Mensch harmonisch klug miteinander verschmelzen. „Du lebst mehr im Einklang mit deinen Bedürfnissen und denen aller Lebewesen. Nicht mehr als Ausbeuter und ignoranter ‚Mensch‘, sondern als integrierter Bewohner des Planeten. So wie du es dir immer gewünscht hast.“

Im Kapitel „Die Wurzeln der Bedürfnisse“ zitiert die Autorin en berühmten Erfinder und Architekten R. Buckminster Fuller:

„Ich glaube, wir befinden uns in einer Art Abschlussprüfung, ob der Mensch mit dieser Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und Kommunikation jetzt wirklich qualifiziert ist, die Verantwortung zu übernehmen, die uns übertragen werden soll. Und es geht hier nicht um eine Prüfung der Regierungsformen, es geht nicht um Politik, es geht nicht um Wirtschaftssysteme. Es hat etwas mit dem Individuum zu tun. Hat der Einzelne den Mut, sich wirklich auf die Wahrheit einzulassen?“

Krisen-Fest ist ein Mut-Buch in diesem Sinn, und ein Aufbruchsbuch für alle, die vielleicht noch einen letzten Impuls brauchen, um sich auf den Weg zu machen; ein Aufruf, die uns mögliche Souveränität anzunehmen und damit Verantwortung für unseren Lebensstil. Es ist aber auch eine detaillierte Aufmunterung voller gärtnerischer und permakultureller Details für alle, deren Weg sich manchmal beschwerlich anfühlt. „Handlungsfähig werden im individuellen wie im globalen Sinn“ – darum geht es hier. „Unsere innere Ausrichtung auf die konsequente Lebensqualität ist, was uns noch fehlt“, sagt Marit Marschall. „Mit diesem Buch kannst du dich darin schulen und ausbilden, deine Bedürfnisse als gesundes Ökosystem wieder zu spüren, deine Gedanken, dein Fühlen und Handeln an dem Maßstab der Prinzipien der Ökosystem zu prüfen und auszurichten. Du kannst damit deine ganze Qualität auf diesem schönen Planeten ohne Reue ausleben und verschenken.“

KRISEN-FEST – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz. Von Marit Marschall. Mit einem Interview mit Gerald Hüther.
310 S., 21,90 Euro, Europa Verlagsgruppe, ISBN 979-1-220-11656-5

 

Von Charles Eisenstein

Vor ein paar Wochen traf ich eine Frau, die mit einem Kogi Mama, einem Schamanen aus der kolumbianischen Sierra Nevada, zusammenarbeitet. Dieser Schamane war vor einigen Jahren in Kalifornien, um auf einem bestimmten Stück Land umfangreiche Zeremonien durchzuführen. Er hatte gesagt: „Ihr solltet hier besser regelmäßig Zeremonien abhalten, sonst wird es schwere Waldbrände geben.“ Niemand machte die Zeremonien, und im folgenden Jahr gab es Waldbrände. Er kam später zurück und wiederholte seine Warnung: „Wenn ihr die Zeremonien nicht macht, dann werden die Waldbrände noch schlimmer.“ Im folgenden Jahr waren die Waldbrände noch schlimmer. Er kam wieder, um noch ein drittes Mal zu warnen: „Macht diese Zeremonien, sonst werden die Waldbrände in diesem Teil der Welt noch schlimmer sein als bisher.“ Bald darauf verwüstete das sogenannte Camp Fire die gesamte Region.

Im Nachhinein fand die Frau heraus, dass in der Umgebung dieser vom Kogi-Schamanen bestimmten Ritualstelle ein kaltblütiger Völkermord an den vormals dort lebenden indigenen Menschen stattgefunden hatte. Er konnte das irgendwie wahrnehmen. Seinem Verständnis nach hat solch ein Trauma nicht nur Auswirkungen auf die Menschen, sondern auch auf das Land. Letzteres wird wütend, gerät aus der Balance und kommt erst wieder ins Gleichgewicht, wenn es durch eine Zeremonie geheilt wird.

Vor zwei Jahren traf ich einige Priester der Dogon und fragte sie, wie sie den Klimawandel sähen. Die Dogon haben, genauso wie die Kogi, ihre zeremoniellen Praktiken über tausende von Jahren erhalten. Die Männer sagten: „Es ist nicht so, wie ihr denkt. Das Klima spielt vor allem deshalb verrückt, weil ihr Heiligtümer, die mit großer Sorgfalt platziert wurden, von ihren Bestimmungsorten geraubt habt, um sie in Museen nach London und New York zu bringen.“ Ihrem Verständnis nach halten diese Gegenstände und die sie begleitenden Zeremonien den Bund zwischen Menschen und Erde lebendig. Im Gegenzug für das von den Menschen dargebrachte Schöne und die Aufmerksamkeit bietet die Erde den Menschen einen bewohnbaren Lebensraum.

Meine Freundin Cynthia Jurs hält schon seit einigen Jahrzehnten Zeremonien ab, in denen sie sogenannte „Erd-Schatz-Vasen“ (engl. „Earth Treasure Vases“) eingräbt. Diese Kultgefäße werden in einem Kloster in Nepal einem bestimmten Ritual folgend hergestellt. Cynthia lernte die zeremonielle Praxis (das klingt jetzt nach einem Klischee, aber es ist wirklich so passiert) von einem 106 Jahre alten Lama in einer Höhle im Himalaya. Sie fragte ihn: „Wie kann ich der Heilung dieser Welt am besten dienen?” Er antwortete: „Nun, wann immer du Menschen zu einer Meditation zusammenbringst, bewirkt das Heilung. Aber wenn du noch mehr machen willst, dann kannst du Erd-Schatz-Vasen eingraben.” Anfangs war Cynthia enttäuscht von dem Vorschlag. Als Anhängerin des tibetischen Buddhismus zweifelte sie nicht an der Schönheit dieser Zeremonie, aber mal ehrlich, es gibt auf der Welt doch reale soziale und ökologische Wunden, die Heilung brauchen. Menschen müssen sich zusammentun. Systeme müssen sich ändern. Was bringt da eine Zeremonie?

Trotzdem nahm sie einige der Vasen, die der Lama in einem Kloster in der Nähe in Auftrag gegeben hatte, als Geschenk an. Fünf Jahre später begann sie ihre Weltreise an Orte, wo Land und Menschen schwere Traumata erlitten hatten, um die Vasen den zeremoniellen Anweisungen entsprechend zu vergraben. An manchen dieser Orte geschahen große und kleine Wunder, unter anderem recht „banale“ (irdische) soziale Wunder wie die Gründung von Friedenszentren. Nach allem, was sie beobachtet, funktionieren diese Zeremonien.

Rituale, Zeremonien und Materialismus

Wie erklären wir uns solche Geschichten? Der politisch korrekte, moderne Geist will andere Kulturen respektieren, aber er zögert, ihre radikal andere Sichtweise auf kausale Zusammenhänge ernst zu nehmen. Die Zeremonien die ich meine, entsprechen nicht dem modernen Verständnis wirkungsvollen Handelns in der Welt. Eine Klimakonferenz kann vielleicht damit beginnen, dass ein indigener Mensch die vier Himmelsrichtungen anruft, anschließend aber geht man wieder zum harten Geschäft der Metriken, Modelle und Regulierungen über.

In diesem Essay will ich aus einem anderen Blickwinkel erforschen, was moderne Menschen aus einem zeremoniellen Zugang zum Leben mitnehmen können, wie ihn traditionelle, indigene und ortsverbundene Ethnien (die Orland Bishop “Kulturen der Erinnerung” nennt) und auch esoterische Strömungen innerhalb der dominanten Kultur praktizieren.

Dieser alternative Blickwinkel soll kein Ersatz für pragmatische oder rationale Ansätze zur Lösung persönlicher und sozialer Probleme sein. Er ist auch nicht parallel zu – und getrennt von – pragmatischen Ansätzen zu verstehen. Und er ist auch nicht von anderer Leute Ritualen geborgt oder übernommen.

Er basiert auf einer fundamental anderen Sicht auf die Welt und vereint das Zeremonielle mit dem Pragmatischen.

Beginnen wir mit einer vorläufigen Unterscheidung zwischen Zeremonie und Ritual. Auch wenn wir sie vielleicht oft nicht als solche sehen, ist unser modernes Leben voll von Ritualen. Eine Kreditkarte an der Kasse durchziehen ist ein Ritual. In der Schlange stehen ist ein Ritual. Medizinische Behandlungen sind Rituale. Die Unterzeichnung eines Vertrages ist ein Ritual. Ein Häkchen bei „Ich habe die allgemeinen Geschäftsbedingungen zur Kenntnis genommen“ setzen ist ein Ritual. Die Steuererklärung einreichen ist ein kompliziertes Ritual, für dessen ordnungsgemäße Vollziehung viele den Beistand eines Priesters brauchen – eines Menschen, der in die geheimnisvollen Riten und Regeln eingeweiht ist, eine für Laien kaum verständliche, sonderbare Sprache fließend spricht und dessen Rang und Ehre sich durch einen dem Namen beigefügten Ehrentitel auszeichnet. Mithilfe der Steuerberaterin kannst du das Ritual vollziehen und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft bleiben. Rituale umfassen die Verarbeitung von Zeichen in einer vorgeschriebenen Art und Reihenfolge, um mit der sozialen und materiellen Welt in Beziehung zu bleiben.

Dieser Definition zufolge sind Rituale weder gut noch schlecht, sondern schlichtweg eine Art, wie Menschen und andere Wesen ihre Realität zusammenhalten.

Eine Zeremonie ist nun eine besondere Art des Rituals. Sie ist ein Ritual, das in der bewussten Präsenz des Heiligen vollzogen wird; im Bewusstsein, dass göttliche Wesen uns zusehen oder dass Gott uns bezeugt.

Für jene, in deren Weltsicht das Heilige, göttliche Wesen oder Gott keinen Platz haben, sind Zeremonien entweder abergläubischer Unsinn oder bestenfalls noch ein psychologischer Trick, mit dem man seine Aufmerksamkeit konzentrieren und sein Gemüt beruhigen kann.

Moment mal. In einer Weltsicht, in der es das Heilige, göttliche Wesen oder Gott gibt, würde Er oder Sie, oder würden sie alle, uns dann nicht ständig beobachten – und alles sehen, was wir tun? Und wäre dann nicht alles eine Zeremonie?

Ja, das wäre es – wenn du dir der Gegenwart des Göttlichen ständig bewusst wärst. Wie oft ist das der Fall? Und wie oft würdest du auf eine Frage hin lediglich vorgeben, die Präsenz des Göttlichen zu spüren, ohne sie wirklich voll und ganz zu spüren? Bis auf ganz wenige Ausnahmen scheinen die religiösen Menschen, die ich kenne, sich nicht so zu verhalten, als würde Gott alles sehen und hören. Beispiele für solche Ausnahmen finden sich über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Man erkennt sie an einer Art Tiefe und Bedeutsamkeit, die sie ausstrahlen. Alles, was sie sagen oder tun, hat Gewicht. Diese Würde verkörpern sie nicht nur zu besonderen Anlässen, sondern ständig: in ihrem Lachen, ihrer Wärme, ihrer Wut und ihren Alltagsmomenten. Wenn so ein Mensch eine Zeremonie abhält, ist es, als würde sich die Schwerkraft im Raum verändern.

Zeremonien sind keine Flucht vor der chaotischen, materiellen Welt in eine spirituelle Hokuspokus-Welt, sondern im Gegenteil: die vollere Annahme des Stofflichen. Es ist die ständige Übung, der Materie den angemessenen Respekt zu zollen – sei es, weil die Materie an sich heilig ist oder deshalb, weil sie Teil von Gottes Meisterwerk ist. Am Altar stellt man die Kerze in einer ganz bestimmten Weise hin. Ich habe ein Bild des Mannes vor Augen, von dem ich gelernt habe, was Zeremonie bedeutet. Er ist bedächtig und präzise, nicht streng, aber auch nicht nachlässig. Den Anforderungen des Momentes und des Ortes lauschend wird jede seiner Bewegungen zu einem Kunstwerk.

In einer Zeremonie ist man ganz bei der Sache. Man macht alles genau so, wie es sein soll. In der Zeremonie übt man also für alle anderen Momente des Lebens, alles genau richtig zu machen. Eine aufrichtige zeremonielle Praxis zieht wie magnetisch andere Bereiche des Lebens in ihr Feld. Sie ist wie ein Gebet mit dem Wunsch: „Möge alles, was ich tue, eine Zeremonie sein. Möge ich jede Handlung in höchster Achtsamkeit, Sorgsamkeit und mit größtem Respekt für die Sache tun.“

Pragmatismus und Pietismus

Die Kritik, die vielen mit Zeremonien verplemperten Tage wären doch mit Bäume pflanzen oder Kampagnen gegen die Holzindustrie besser genutzt, übersieht also ganz klar etwas Wichtiges. Der Gärtner wird sich – von der Zeremonie beseelt – um die richtige Stelle für jeden Baum und die richtige Baumart je nach Mikroklima und ökologischer Nische kümmern. Er wird darauf achten, den Baum in der richtigen Tiefe einzupflanzen. Und er wird dafür sorgen, dass der Baum weiterhin geschützt und gepflegt wird. Er wird danach streben, es genau richtig zu machen. Genauso wird die Aktivistin unterscheiden können, was zielführend ist, um die Abholzung zu verhindern, und was bloß ihrem falschen missionarischen Stolz, ihrem Märtyrer-Komplex oder ihrer Selbstgerechtigkeit dient. Sie wird nicht aus den Augen verlieren, welcher Sache sie dient.

Es ist Quatsch, über eine indigene Kultur zu sagen: „Dass sie fünftausend Jahre lang nachhaltig auf diesem Land gelebt haben, hat nichts mit ihren abergläubischen Zeremonien zu tun, sondern damit, dass sie scharfsinnige Beobachter der Natur sind und sieben Generationen in die Zukunft denken.“ Einen Ort zu verehren und auf seine Bedürfnisse achtzugeben ist integraler Bestandteil ihrer zeremoniellen Lebensweise. Die Geisteshaltung, die uns eine Zeremonie vollziehen lässt, lässt uns auch die Frage stellen: „Was möchte das Land? Was möchte der Fluss? Was möchte der Wolf? Was möchte der Wald?“ – und ihren Antworten lauschen. Die Geisteshaltung sieht Land, Fluss, Wolf und Wald als Wesenheiten – und zählt sie zu jenen göttlichen Wesen, die uns immer bezeugen, und deren Bedürfnisse und Interessen mit den unseren verflochten sind.

Was ich sage, mag für manche klingen, als würde ich gegen die Theologie sprechen. Deshalb werde ich für jene, die an einen Schöpfergott glauben, eine Übersetzung anbieten. Aus jedem Baum, Wolf, Fluss und Wald schaut uns Gott zu. Alles wurde mit einer Bestimmung und Absicht geschaffen. Und so fragen wir: Wie können wir unseren Teil zur Erfüllung der Bestimmung beitragen? Und die Antwort wird dieselbe sein wie auf die Frage: Was möchte der Wald? So kannst du auch den Rest des Textes für dich übersetzen, wenn du an einen Schöpfergott glaubst.

Ich persönlich kann nicht behaupten zu wissen, dass göttliche Wesen mich immer beobachten. So wie ich erzogen wurde, waren göttliche Wesen wie der Himmel, die Sonne, der Mond, der Wind, die Bäume und die Ahnen überhaupt keine göttlichen Wesen. Der Himmel war eine gewisse Menge an Gaspartikeln, die sich im Nichts des Alls verlieren. Die Sonne war ein Ball aus verschmelzendem Wasserstoff. Der Mond war ein Felsbrocken (und ein Felsbrocken ist ein Agglomerat an Mineralien, und Mineralien sind ein Haufen lebloser Moleküle…). Der Wind war das Zusammenspiel von bewegten Molekülen und geomechanischen Kräften. Bäume waren biochemische Säulen, und die Ahnen waren Leichen unter der Erde. Die Welt außerhalb von uns war stumm und tot, ein zufälliges Tohuwabohu aus Kraft und Masse. Da draußen gab es nichts, keine Intelligenz, die mein Sein und Handeln bezeugte; und keinen Grund, irgendetwas besser zu machen, als sich durch die rational vorhersehbaren Konsequenzen rechtfertigen ließ.

Warum sollte ich die die Kerze auf meinem Altar genau richtig hinstellen? Ist sie doch bloß Wachs, das um einen Docht herum oxidiert. Die Position der Kerze übt keine Kraft auf die Welt aus. Warum sollte ich mein Bett machen, wenn ich eh in der nächsten Nacht wieder darin schlafen werde? Warum sollte ich für irgendetwas mehr tun, als die Note, der Chef oder der Markt es verlangen? Warum sollte ich mich je bemühen, etwas schöner zu machen, als es sein muss? Ich mogle mich ein bisschen durch – das fällt schon keinem auf. In meiner kindlichen Fantasie konnten die Sonne und der Wind und das Gras mich sehen, aber mal ehrlich, sie sehen mich nicht wirklich, sie haben keine Augen, sie haben auch kein zentrales Nervensystem, sie sind keine lebendigen Wesen, wie ich eines bin. In dieser Ideologie bin ich aufgewachsen.

Die zeremonielle Weltsicht leugnet nicht, dass es nützlich sein kann, den Himmel als einen Haufen Gaspartikel und einen Stein als Zusammensetzung aus Mineralien zu sehen. Aber sie beschränkt den Himmel und den Stein nicht darauf. Statt einzig ihre Zusammensetzung als ihre „eigentliche“ Natur zu betrachten, erachtet sie andere Interpretationen als genauso wahr und nützlich. Die Alternative zu der Weltsicht meiner Kindheit ist deswegen nicht, alles Nützliche für irgendeine zeremonielle Ästhetik über Bord zu werfen. Die Trennung zwischen Nützlichkeit und Ästhetik ist falsch. Sie wird nur einer kausalen Weltsicht gerecht und übersieht die mysteriöse und elegante Intelligenz des Lebens. Die Wirklichkeit ist nicht so, wie sie uns erklärt wurde. In der Welt wirken Intelligenzen, die die menschliche weit übersteigen, und andere kausale Prinzipien als physikalische Kräfte. Synchronizität, morphische Resonanz und Autopoiese (Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems) können, während sie keine Antithesen zur Kausalität der Kräfte darstellen, unseren Möglichkeitshorizont erweitern. Dementsprechend wird eine Zeremonie nicht Dinge in der Welt „machen“, sondern die Wirklichkeit in eine Form bringen, in der andere Dinge passieren.

In einem Leben ohne Zeremonie stehen wir ohne Verbündete da. Nachdem wir sie aus unserer Realität verbannt haben, entlassen sie uns in eine Welt ohne Intelligenz – die modernistische Ideologie. Das mechanistische Weltbild wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, sodass uns tatsächlich nur bleibt, mittels Kraft auf die Welt einzuwirken.

Traditionelle Gesellschaften wie die Kogi oder die Dogon wollen nicht, dass wir ihre Zeremonien nachahmen; sie laden uns ein, zu einer Weltsicht überzugehen, in der wir Menschen als Gefährten an einer Welt teilhaben, deren Intelligenzen miteinander im Gespräch sind, in einem Universum voller lebendiger Wesen. Eine Zeremonie ist Ausdruck der Entscheidung, in so einem Universum zu leben und an der Erschaffung seiner Wirklichkeit teilzuhaben.

Zeremonien zur Heilung der Umwelt

In der Praxis – warte mal! Alles, was ich gesagt habe, ist schon wunderbar praktisch. Ich möchte stattdessen darüber sprechen, wie die zeremonielle Geisteshaltung auf Umweltpolitik und -Praxis ausgeweitet werden kann. Das heißt, jedem Ort auf der Erde gerecht zu werden, ihn als Wesenheit zu sehen; zu wissen, dass, wenn wir jeden Ort, jede Spezies und jedes Ökosystem als heilig ansehen, wir den ganzen Planeten in eine heilige Ganzheit bringen.

Manchmal passen die Handlungen, die daraus entspringen, jeden Ort als heilig anzusehen, gut in die Logik der Kohlenstoffsequestrierung und des Klimawandels; zum Beispiel wenn wir ein Pipeline-Projekt verhindern, um einen heiligen Fluss zu beschützen. Manchmal scheint die Logik von CO2-Budgets dem Instinkt der zeremoniellen Geisteshaltung zu widersprechen. Heutzutage werden Wälder abgeholzt, um riesigen Solar-Anlagen Platz zu machen, und Vögel sterben in den Rotorblättern riesiger Windräder, die über der Landschaft thronen. Außerdem wird alles, was keinen besonderen Einfluss auf die Treibhausgas-Bilanz hat, für umweltpolitische Entscheidungsträger unsichtbar. Was ist der praktische Nutzen einer Wasserschildkröte? Eines Elefanten? Was spielt es für eine Rolle, wenn ich meine Kerze schludrig auf den Altar stelle?

In einer Zeremonie spielt jedes Detail eine Rolle. Durch den zeremoniellen Blick auf ökologische Heilung weitet sich unsere Wahrnehmung. Während die Wissenschaft mehr und mehr die Wichtigkeit von zuvor unsichtbaren oder banalisierten Lebewesen entdeckt, wächst auch der Einflussbereich der Zeremonie. Boden, Myzelien, Bakterien, die Form von Wasserläufen – sie alle fordern einen Platz auf dem Altar unserer Land- und Forstwirtschaft und in allen Beziehungen mit dem Rest des Lebens. Je feiner unser Gespür für kausale Zusammenhänge wird, desto mehr erkennen wir auch, wie entscheidend beispielsweise Schmetterlinge oder Frösche oder Wasserschildkröten für eine gesunde Biosphäre sind. Am Ende stellen wir fest, dass das zeremonielle Auge angemessen war: dass die Gesundheit unserer Umwelt nicht auf ein paar messbare Größen reduziert werden kann.

Das soll keine Empfehlung sein, ökologische Sanierungsprojekte aufzugeben, die auf einem plumperen Verständnis von der Welt, also zum Beispiel auf einem mechanistischen Verständnis von Natur, beruhen. Die Frage lautet: Was ist der nächste Schritt zur Vertiefung unserer zeremoniellen Beziehung zur Natur? Vor Kurzem hatte ich mit Ravi Shah zu tun, einem jungen Inder, der atemberaubende Arbeit zur Regeneration von Teichen und dem umliegenden Land leistet. Ganz nach dem Vorbild von Masanobu Fukuoka arbeitet er mit einer feinspürigen Liebe zum Detail, pflanzt ein bisschen Schilf hier, reißt dort einen invasiven Baum aus und vertraut auf die regenerative Kraft der Natur. Je kleiner sein Eingriff, umso größer der Effekt. Das heißt nicht, dass gar kein Eingriff den allergrößten Effekt hätte. Sondern: Je feiner und präziser er die natürliche Bewegung der Natur versteht, umso mehr kann er sich ihr anpassen und ihr dienen, und umso weniger muss er eingreifen. Das Ergebnis ist, dass Ravi eine üppige, grüne Oase inmitten einer kargen Landschaft, einen lebendigen Altar geschaffen – oder genauer gesagt, dass er dessen Entstehung gedient – hat.

Ravi ist verständlicherweise unglücklich mit großdimensionierten Wasserrestaurationsprojekten wie denen, die ich in meinem Buch beschrieben habe: Rajendra Singhs Arbeit in Indien und die Wasserrückhaltemaßnahmen am Lössplateau, die niemals der Hingabe und Ehrerbietung nahekommen, die Ravi den unmittelbaren örtlichen Eigenheiten entgegenbringt. Diese Projekte erwachsen aus einem konventionelleren, mechanistischen Verständnis von Hydrologie. „Wo ist das Heilige?“, möchte er wissen. Wo ist die Demut vor der Weisheit miteinander verflochtener Ökosysteme und ihrer jeweiligen örtlichen Einzigartigkeit? Sie bauen doch nur Teiche. „Vielleicht stimmt das,“ war meine Antwort, „aber wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind, und jeden Schritt in die richtige Richtung würdigen.“ Selbst diese mechanistischen, hydrologischen Projekte sind im Kern von einem Respekt für das Wasser getragen. Ravis Arbeit bietet einen Einblick, wo es hingehen könnte; ohne die Projekte, welche die ersten von vielen Schritten dorthin darstellen, schlechtzumachen.

Ich möchte anfügen, dass ein Land für seine Heilung ein gesundes Vorbild braucht; ein Reservoir der Gesundheit, von dem es lernen kann. Ravis Oasen ökologischer Gesundheit können nach außen in die soziale und ökologische Umgebung abstrahlen und heilend auf angrenzende Orte wirken (zum Beispiel als Zufluchtsorte oder Laichplätze für Pflanzen und Tiere), und sie können Inspiration für andere Menschen sein, die sich um die Heilung der Erde bemühen. Deswegen ist der Amazonas so entscheidend, besonders seine Quellgebiete, die möglicherweise das größte intakte Reservoir und die Quelle von ökologischer Gesundheit auf der Erde sind. Hier ist Gaias Gedächtnis von Gesundheit, einer vergangenen und zukünftigen heilen Welt, noch intakt.

Ravis Arbeit zur Wiederherstellung von Ökosystemen funktioniert genau wie eine Zeremonie. Man könnte jetzt sagen, man sollte besser keine bestimmten Zeremonien machen – jede Handlung sollte eine Zeremonie sein. Warum sollten nur diese 10 Minuten heilig sein? Gleichermaßen könnte man darauf bestehen, dass jeder Ort auf der Welt so behandelt werden sollte, wie Ravi seine Orte behandelt. Die meisten von uns (wie auch die Gesellschaft als Ganzes), sind für so einen Schritt aber noch nicht bereit. Die zu überwindende Kluft ist zu groß. Wir können nicht erwarten, unsere techno-industriellen Systeme, unsere gesellschaftlichen Systeme oder unsere tief eingeprägte Psychologie über Nacht zu verändern. Was hingegen für die meisten von uns funktioniert, ist eine Oase der Perfektion – die Zeremonie – so gut es geht zu verankern, bis sie in unserer Lebenslandschaft Wellen schlägt, und damit mehr und mehr Aufmerksamkeit, Schönheit und Kraft in jede Handlung bringt. Jede Handlung zur Zeremonie zu machen beginnt damit, eine Handlung zur Zeremonie zu machen.

Zeremonien aus erster Hand

Der Rest des Lebens wird nicht automatisch profan und unzeremoniell, wenn man einen bestimmten Teil zur Zeremonie macht. Im Gegenteil, in der Durchführung der Zeremonie hegen wir die Absicht, sie möge auf den Tag oder die Woche ausstrahlen. Sie ist ein Fels in der Brandung des Lebens. Ebenso wenig wollen wir nur einige ausgewählte Orte verwilderter Natur, Naturreservate und Nationalparks bewahren oder einige Orte in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Diese Orte sind vielmehr wie Leitsterne: Beispiele und Erinnerung daran, was möglich ist. Weil Menschen wie Ravi solche Orte hegen, sind wir dazu aufgerufen, ein bisschen, und Stück für Stück mehr davon an alle Orte zu bringen. Mit der Einbettung eines kurzen zeremoniellen Moments in unser Leben wächst der Ruf, ein bisschen davon, und Stück für Stück mehr davon in jeden Augenblick mitzunehmen.

Wie erwecken wir in einer Gesellschaft, in der sie fast ausgestorben sind, Zeremonien wieder zum Leben? Das Imitieren oder Importieren von Zeremonien aus anderen Kulturen ist, wie ich bereits schrieb, nicht die Lösung. Es ist auch nicht notwendig, den Zeremonien der eigenen Ahnen nachzujagen, ein Unterfangen, mit dem wir scheinbar das Risiko der kulturellen Aneignung ausschließen aber gleichzeitig riskieren, unsere eigene Kultur zu vereinnahmen. Zeremonien sind lebendig; beim Versuch sie zu imitieren oder zu konservieren erzeugen wir nur eine Attrappe.

Welche Möglichkeit bleibt uns nun? Uns unsere eigenen Zeremonien zu schaffen? Nein, streng genommen nicht. Zeremonien werden nicht erschaffen, sondern entdeckt.

Folgendermaßen könnte es gehen. Du beginnst mit einer rudimentären Zeremonie, vielleicht zündest du jeden Morgen eine Kerze an und nimmst dir einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, wer du heute sein willst. Aber wie zündest du die Kerze richtig an? Wie zündest du sie perfekt an? Vielleicht nimmst du sie in die Hand und hältst sie schräg über das Streichholz. Und wo legst du das Streichholz hin? Auf einen kleinen Teller an der Seite vielleicht. Dann stellst du die Kerze wieder zurück, genau richtig. Dann schlägst du vielleicht ein Glöckchen drei Mal an. Mit wie viel Abstand zwischen den Schlägen? Hast du es eilig? Nein, du wartest bei jedem Ton, bis er in Stille übergeht? Ja, genau so ist es richtig …

Mir geht es nicht darum, dass diese Regeln und Abläufe deine Zeremonie bestimmen sollen. Um eine Zeremonie zu entdecken, folge dem Gefühl von „Ah ja, so ist es genau richtig“, das deine Achtsamkeit enthüllt. Im Lauschen, Beobachten, im aufmerksamen Da-Sein erspüren wir, was zu tun, was zu sagen ist, und wie wir uns daran beteiligen. Nicht anders haben Menschen wie Fukuoka gelernt, richtig mit dem Land umzugehen.

Vielleicht wird aus der Kerze ein kleiner Altar, und aus dem Entzünden wird eine etwas längere Zeremonie, sich um diesen Altar zu kümmern. Dann strahlt es aus. Vielleicht räumst du bald deinen Schreibtisch mit derselben Sorgsamkeit auf. Oder dein Zuhause. Und bald wendest du dich mit derselben Sorgfalt und demselben Wohlwollen deinem Arbeitsplatz, deinen Beziehungen und dem Essen, das du in deinen Körper gibst, zu. Mit der Zeit wird die Zeremonie ein Anker, eine Brücke hinüber in die Realität, in der du lebst. Vielleicht hast du das Gefühl, dass sich dein Leben rund um die Intention deiner Zeremonie neu ausrichtet. Womöglich erlebst du Synchronizitäten, die zu bestätigen scheinen, dass hier tatsächlich eine größere Intelligenz am Werk ist.

Wenn dies geschieht, taucht das Gefühl auf, dass uns hier unzählige Wesen begleiten. Die Zeremonie, die nur Sinn hat, wenn heilige Wesen uns zuschauen, befördert uns in eine erfahrbare Realität, in der diese heiligen Wesen tatsächlich anwesend sind. Je mehr wir diese Anwesenheit spüren, umso inniger ist die Einladung, mehr Handlungen, wirklich jede Handlung als Zeremonie und mit unserer vollen Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit zu begehen. Wie wäre dann das Leben? Was wäre dann die Welt?

Volle Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit kann unter unterschiedlichen Umständen ganz verschieden aussehen. In einem Ritual äußert sie sich ganz anders als in einem Spiel, in einem Gespräch, oder beim Kochen. Eine Situation erfordert Präzision und Ordnung, eine andere Spontanität, Wagemut oder Improvisation. Die Zeremonie schlägt einen Grundton an, an dem sich jede Handlung und jedes Wort stimmig danach ausrichten kann, wer man wirklich ist, wer man sein möchte und in welcher Welt man leben möchte.

Eine Zeremonie gewährt uns Einblick in das heilige Ziel, wo gilt:

Jede Handlung eine Zeremonie.
Jedes Wort ein Gebet.
Jeder Schritt eine Pilgerschaft.
Jeder Ort eine heilige Stätte.

Eine heilige Stätte verbindet uns mit dem Heiligen, das über die eine heilige Stätte hinausgeht und alle heiligen Stätten miteinschließt. Eine Zeremonie kann aus einem Ort eine heilige Stätte machen und bietet so einen Rettungsanker hinüber in eine Realität, in der alles heilig ist. Sie ist der Vorposten dieser Realität oder dieser Geschichte über die Welt. Genauso ist jedes regenerierte Stück Erde ein Vorposten der verbliebenen Oasen ursprünglicher Lebendigkeit wie dem Amazonas, dem Kongo, vereinzelten Resten unberührter Korallenriffe, Mangrovenwälder und so weiter. Wir schauen verzweifelt auf die Pläne der neuen brasilianischen Regierung zur Plünderung des Regenwaldes und fragen, was wir tun können, um ihn zu retten. Politische und wirtschaftliche Handlungen sind bestimmt notwendig, aber wir können zeitgleich auf einer anderen Ebene handeln. Jeder Ort, der geheilt wird, nährt den Amazonas und bringt uns einer Welt näher, in der er intakt bleibt. Mit der Vertiefung unserer Beziehung zu solchen Orten rufen wir bislang unerkannte Kräfte her, unsere Entschlossenheit zu stärken und unsere Bündnisse zu koordinieren.

Die Wesen, die wir aus unserer Realität ausgeschlossen haben, die wir in unserer Wahrnehmung zu Nicht-Wesen degradierten, sind noch immer da und warten auf uns. All meinem angelernten Unglauben zum Trotz (mein eigener innerer Zyniker, der Naturwissenschaften, Mathematik und analytische Philosophie studiert hat, ist mindestens so penetrant wie deiner) spüre ich, wenn ich mir einen Moment aufmerksame Stille erlaube, dass diese Wesen sich versammeln. Stets hoffend scharen sie sich um die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit. Spürst du sie auch? Inmitten deiner Zweifel – vielleicht – und ohne Wunschdenken: Kannst du sie spüren? Es ist dasselbe Gefühl, wie im Wald zu stehen und plötzlich wie zum ersten Mal zu erkennen: Der Wald lebt. Die Sonne schaut mir zu. Und ich bin nicht allein.

Übersetzung: Christoph Peterseil, Nikola Winter, Vanessa Groß und Stephan Pfannschmidt

Spenden ans Übersetzerteam werden gerne angenommen:

GLS Bank, DE48430609677918887700, Verwendungszweck: ELINORUZ95YG

 

Hinweis zur deutschen Übersetzung:

Die Unterscheidung zwischen profanen und „heiligen“ ( = „in der Präsenz des Göttlichen durchgeführten“) Handlungen ist wesentlicher Gegenstand des Textes. Zur Unterscheidung stellt Charles die beiden Begriffe „Ceremony“ und „Ritual“ gegenüber. „Ritual“ ist bei Charles das Profane, „Ceremony“ das Heilige.

Die Übersetzung dieser Begriffe ins Deutsche erwies sich als unvermutet knifflig. Schließlich ist in der Ritualarbeit (z.B. Visionssuche) im deutschen Sprachraum vielerorts das Wort „Ritual“ gebräuchlich, wo man in Nordamerika „Ceremony“ sagt. Eine direkte Vertauschung der beiden Begriffe für den deutschen Text wurde in Erwägung gezogen, schien aber auch nicht stimmig – unter anderem, weil dann ein vergleichendes Lesen der verschiedenen Sprach-Fassungen Verwirrung stiften würde. Deshalb blieben die Kernbegriffe bei ihren gleichlautenden Pendants: das englische „Ritual“ für das deutsche „Ritual“, „Ceremony“ für „Zeremonie“.