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Rezension des gleichnamigen Buches von Thomas Berry

Sind Sie heilig? Oder wild? Oder beides? Was für Fragen! Thomas Berry hält sie für angemessen und Heilig- und Wildsein für die notwendigen Eigenschaften, „die wir brauchen, um den Übergang zu vollziehen … von einer Epoche, in der die Menschen auf der Erde als zerstörerische Macht wirken, in eine andere, in der sie und der Planet sich wechselseitig bereichern“.

Anlass zur Hoffnung

In seinem Alterswerk „Das Wilde und das Heilige“ beschäftigt sich Berry nicht nur – sehr profund und doch gut leserlich – mit den Grundlagen der westlichen Zivilisation; begabt mit analytischer Intelligenz und beseelt von einem spirituellen Optimismus, sinnt er darauf, „die Rolle der Menschengemeinschaft in ihrer Beziehung zu den anderen Teilhabern des Planeten auszumessen“ und die Mittel und Möglichkeiten zu prüfen, wie wir das Steuer noch einmal herumreißen können, bevor die Titanic gegen den Eisberg kracht.

Das Wilde, weil unkontrollierbar und unvorhersagbar, ist für ihn ein Anlass zur Hoffnung. Weiterlesen

Schon in ihrer oberflächlichsten Form ist Dankbarkeit schön. Und gut. Sie hebt die Grenzen auf zwischen dir und mir, zwischen mir und den Dingen, erlaubt mir, die Umwelt als Mitwelt zu erleben. Im Mindesten verwandelt sie die Grenzen, innenräumlich wie innenzeitlich, in Grenzräume und macht sie damit gangbar und durchlässig.

Auf einer noch tieferen und vielleicht ihrer eigentümlichsten Ebene hilft sie uns, die Verbindung mit allen Wesen einzugehen. In der Dankbarkeit erklingt die Welt in mir und ermöglicht mir mitzuschwingen. Manchmal bin ich Regen, manchmal Sonnenschein und oft irgendetwas dazwischen, oft bewölkt mit gelegentlichen Sonnenschauern, oft blinzle ich den Wolken zu. Und immer nehme ich teil an der großen Verwandlung, sterbe in tausend Augenblicken und tauche immer wieder verwundert in mir auf – und in dir und der Welt und bin froh, dass ich da bin, dass du da bist und die Welt, und Leben und Sterben gehen so ineinander über, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Reihenfolge nicht umgekehrt ist: Sterben und Leben. Aber vermutlich ist es ja gar keine Reihenfolge, sondern ein Kreis, in den wir eingebunden sind.

Dann ist Dankbarkeit eine Lebensqualität, eine Qualität des Umgangs mit mir und der Welt; dann wird Dankbarkeit zur Achtsamkeit und Achtsamkeit zur Dankbarkeit und beide äußern sich in Zufriedenheit, in innerem Frieden inmitten einer turbulenten und oft schlimmen Welt, der ich dann anders und klarer begegnen kann, denn Dankbarkeit kann auch Richtschnur sein und Maß.

Manchmal, wenn ich ganz allein bin mit mir in der Natur – und das können Augenblicke sein –, empfinde ich eine so herzliche Verwandtschaft mit dem Leben um mich, dass ich es umarmen möchte, wie man das eben mit Freunden tut. Dann kann ich schon mal meine Brust an einen Baumstamm drücken und mein Anderssein vergessen, aber dann kommt das Schlimme: Eine Scham steigt in mir auf. Wie kann ich als Erwachsener, als Mensch, einen Baum umarmen! Ist das nicht kitschig?

Zwei schwierige Fragen

Nein, ist es nicht, im Gegenteil. Kitsch ist das Nachgemachte, Unechte. Im Gefühl der Verbundenheit mit der Natur flammt die Erkenntnis auf, dass aus ihr die Quelle unserer Existenz entspringt. Letztlich müsste der Aufruf lauten: Nicht zurück zur, sondern zurück in die Natur! Nur: Wie kann man an einen Ort zurückkehren, an dem man sich ohnehin befindet?

Nötig ist die Forderung „Zurück in die Natur“ geworden, weil wir uns schon vor Jahrhunderten von der Natur verabschiedet haben, auf dass wir sie uns nach Belieben unterwerfen können. Aber kann man etwas unterwerfen, das man selbst ist? Ja, offenbar kann man das; es gelingt, indem man sich geistig-seelisch zweiteilt, eine innerpsychische, kulturelle Schizophrenie herstellt, „die Natur“ als das Fremde abspaltet – und modern wird.

Was wäre ein Fluss ohne Mündung?

„Zurück in die Natur“ bedeutet, die Perspektive wechseln: Nicht die Natur ist für mich da, sondern ich bin für die Natur da oder, noch richtiger für mich: Wir sind einander geschenkt. Ob ich es will und begreife oder nicht, ich reihe mich ein in Ebbe und Flut der Nahrungsketten, liefere meine Moleküle ab an der großen Theke des Lebens zur weiteren Verwendung. In die Natur zurückzukehren, wäre gleichsam das Ende der Besserwisserei, das Ende einer westlichen Haltung, die besagt: „Natur, schön und gut, aber wir können es besser.“ „Zurück in die Natur“ wäre der Weg vom homo arrogans zum homo sapiens.

„Zurück in die Natur“ bedeutet auch, den Tod nicht mehr als Ende, als die Verneinung des Lebens zu verstehen, sondern als die Mündung des Flusses, die uns ins Meer entlässt. Es ist zwar richtig, dass es nach der Mündung keinen Fluss mehr gibt, aber was wäre der Sinn eines Flusses ohne Mündung? Und auch: Was wäre ein Meer ohne Flüsse?

Wir brauchen kein Jenseits

Was ist Seele? So unterschiedlich die Definitionen dafür ausfallen, als Trägerin unserer Lebendigkeit scheint sie uns eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Seele aushaucht, der ist nicht mehr, was er zuvor war. Hat denn nicht alles Lebendige Seele, von der Amöbe bis zum Menschen, von der Alge bis zur Rebe? Kann denn ein Lebewesen unbeseelt sein oder umgekehrt: Kann etwas Seelenloses sterben? Niemand käme auf die Idee, von einem gestorbenen Auto zu sprechen oder einer gestorbenen Spülmaschine. Sie sind „kaputt“.

Sind Körper und Seele nicht eins, statt, wie uns weisgemacht wird, gespalten zu sein? Ist nicht die Trennung von Körper und Seele eine Hilfskonstruktion zunächst der monotheistischen Religionen und später des Materialismus, der ohne Seele auszukommen glaubt? Ist ein seelenloses Biotop vorstellbar? Ist das kein Widerspruch in sich? Und sind nicht auch das Wasser dort, die Binsen und Mückenlarven, die Frösche und der Reiher, das Holz und die Steine Teil eines komplexen Ganzen? Nichts davon ist ein beliebig austauschbares „Ding“, sondern Mitgewachsenes und Zugehöriges, aus der Zeit Geborenes. Ist es nicht so, dass es in der Natur nur Ganzes gibt, und wenn wir Teil der Natur sind, dann sind auch wir unteilbar ganz. Wir benötigen kein Jenseits dafür. In einer ungetrennt beseelten Welt können wir uns auch ohne Transzendenz aufgehoben und weitergetragen fühlen.

Essbar sein

Wenn wir also „zurück in die Natur“ wollen – kommst du mit? –, dann verlassen wir die anatomische Perspektive, steigen vom hohen Ross bzw. westlichen Elfenbeinturm und lassen uns überwältigen, öffnen uns für die Schönheit, aber auch für den Tod und das Endliche, die die Grundlage sind für die Vielfalt und überwältigende Fülle des Seins. Dann sind wir bereit, unser nach Sicherheit, Distanz und Dominanz strebendes Ich preiszugeben, um ein neues, integres, weil integrales Ich zu entdecken im Kontakt mit der Welt, die wir sind. Der Hamburger Biologe und Philosoph Andreas Weber geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, „essbar zu sein“. Sich nach Unsterblichkeit zu sehnen, sagt er, sei eine „ökologische Todsünde“. Särge sind unser letzter Trennungsversuch, im Sarg sind wir noch nicht essbar für die Würmerwelt, zögern wir unsere Essbarkeit noch ein wenig hinaus; als Asche in der freien Natur wären wir hingegen essbar in einer quasi vorverdauten Form. In der Erkenntnis unserer Essbarkeit vereinigen sich Mystik und Biologie.

Wo endet die Innenwelt?

In die Natur zurückzukehren, heißt anzuerkennen, dass auch unsere Geschwisterwesen eine Innenwelt besitzen, dass sie die Welt subjektiv wahrnehmen, so wie wir auch. Letztlich weiß jeder um die Innenwelt allen Lebens, und einen Schritt weitergedacht: dass eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenwelt existiert. Alles fühlt, will heil und gesund sein, kann froh sein oder leiden, alles nimmt wahr, nur nicht unbedingt so wie „wir Menschen“. Aber wer ist schon „wir“? Du als Leserin fühlst anders als ich, die Innenwelt jedes Menschen unterscheidet sich von der des anderen; das ist unsere alltägliche Erfahrung. Und falls du einen Hund hast oder eine Katze, dann trifft das auch auf sie zu, nicht wahr? Letztlich gibt es dieses „wir“ gar nicht, diesen statistischen Querschnitt des Innenlebens aller Menschen, sehr wohl jedoch deine und meine Innenwelt und die aller anderen. So erhebt sich die Frage: Bei welchen Lebewesen, bei welcher Art endet die Innenwelt? Haben nur Lebewesen mit einem dem Menschen ähnelnden Nervensystem eine Innenwelt? Welche Innenwelt haben Vögel, Fische, Schlangen, Insekten, Pflanzen? Andreas Weber konnte unter dem Mikroskop beobachten, wie sich Einzeller furchtsam vor dem tödlichen Tropfen Alkohol auf dem Glas unter der Linse zurückzogen. Wollen schon Einzeller leben? Alles spricht dafür. Nicht nur wir blicken auf unsere Mitwelt, sie blickt auch zurück – und vermutlich vom Menschen dauertraumatisiert.

Radikale Wechselseitigkeit statt Romantik

Wenn wir einen Apfel essen, dann wird er zu einem Teil unseres Körpers; mit anderen Worten: Ein Teil eines Apfelbaums verwandelt sich in dich oder mich. Der Gedanke mag zunächst verblüffend erscheinen, und doch handelt es sich bei diesem Vorgang um den Normalzustand in der Natur und gilt sogar für die Steine, auch wenn deren Verwandlungsprozess hin zum Mineral und damit zum Pflanzennährstoff länger dauert als bei anderen Wesen. Nichts ist auf der Erdoberfläche, das nicht in den großen Stoffwechsel einbezogen wäre, und wer weiß: Vielleicht ist unser Planet ja ein Molekül im Stoffwechsel des Universums?

Hier geht es um keine Hirngespinste, romantischen Gefühle oder Rousseauschen Ideale, sondern um eine notwendige Revolution, wenn wir das Niveau unserer Zivilisation halbwegs aufrechterhalten wollen. Was ansteht, ist eine radikale Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die uns von Grund auf erfasst und in der der Mensch auf eine fundamentale Art und Weise Verantwortung übernimmt, wie er sich einer fühlenden, verletzlichen, gleichwürdigen Welt gegenüber verhält. Dann endet die seit Jahrhunderten andauernde Suche nach dem Sinn, weil wir auf eine ganz selbstverständliche Weise in Verbundenheit blühen und weil dieses Blühen nur geschieht, weil jedes Wesen mit dem anderen verschränkt, verknüpft und verwoben ist. Es ist ein Blühen von Geschwistern.

Symbiose statt Kampf

„Zurückkehren in die Natur“ würde bedeuten, respektvoll anzuerkennen, dass die anders-als-menschliche Welt eben nicht aus Dingen besteht, mit denen wir verfahren können, wie es uns beliebt oder gefällt; dass wir auch dann in die Welt eingreifen, wenn wir dort kein Leben erkennen können. Denn jeder Eingriff bleibt ein Eingriff in die Lebensströme und Zusammenhänge der Welt, und nur selten – wenn überhaupt – wissen wir genau um die Folgen unseres Tuns. Schon morgen kann unser Eingriff etwas anderes bedeuten als heute. „Zurück in die Natur“ erkennt: Leben ist Synergie und Symbiose, nicht Kampf. Noch wehren wir uns gegen die Umarmung der Bäume. Deshalb, so Andreas Weber, brauchen wir „eine Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen“. Nur dann haben wir eine Chance auf eine lebenswerte, der bisherigen Gegenwart ähnliche Zukunft.

Zur Vertiefung: Andreas Weber, Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik, Verlag thinkOya, ISBN 978-3-947296-09-5, 26,80 Euro

 

Bevor ich überhaupt mit diesem Text beginne, möchte ich vorausschicken, dass ich großen Respekt vor Menschen habe, die ihr Bestes geben oder gegeben haben und „einfach nicht mehr können“. Denn das ist wertvoller Selbstschutz und keine Resignation. Doch Resignation ist tatsächlich oft ein Irrtum, und noch dazu ein „vom System“ suggerierter – was es umso schlimmer macht.

Auch Resignation ist Selbstschutz

Resignation bedeutet, man hält eine Sache für aussichtslos und hört deshalb auf, zu kämpfen bzw. überhaupt irgendetwas zu tun. Wer in Sachen Demokratie oder Gaia resigniert, der begibt sich in eine hoffnungslose Grundhaltung, dreht sich um, murmelt „Es ist eh alles egal“, wählt rechts oder kauft sich einen SUV. Wer richtig gründlich resigniert, für den bedeutet Resignation eine Entlastung. Er übergibt sein Gewissen sozusagen dem Mainstream und ist damit, energetisch betrachtet, fein raus. Ich meine das rein beschreibend, nicht bewertend. Auch Resignation hat einen Aspekt des Selbstschutzes.

Resignation wegen Selbstüberschätzung?

Entscheidend ist, was der Resignation vorausgeht. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Ich bin 13 Jahre alt und möchte den Mount Everest besteigen. Schon auf halbem Weg zum Basislager merke ich, wie mir bei 20 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken die Kraft ausgeht, und ich resigniere. Der Resignation ging in diesem Fall ein unrealistisches Ziel voraus. Zweites Beispiel: Ich bin 70 Jahre alt und will mich nochmals so richtig verlieben. Nach drei Dates gebe ich auf und resigniere. Was ging hier der Resignation voraus? Offenbar eine Fehleinschätzung meiner Chancen. Natürlich könnte das klappen, aber eben nicht so schnell. Vielleicht brauche ich 15 oder 30 Versuche. Hinter der Fehleinschätzung könnte sehr leicht Selbstüberschätzung stecken: „Ich bin so schön, dass alle auf mich fliegen, sobald ich mich zeige.“

Das alte Tellerwäscher-Märchen

Damit sind wir der Kernaussage des Titels schon auf der Spur. In Sachen Demokratie oder Mitwelt lohnt sich aber eine Vertiefung. Beides sind hochkomplexe Themen. Sehe ich also die Demokratie oder die Mitwelt gefährdet, dann kann mich das so sehr berühren, dass ich aktiv werden möchte. Bis dahin gibt es auch kein Problem. Bin ich aber nun der Meinung, ich könnte die Demokratie oder die Mitwelt „retten“ (oder das Klima oder die Berggorillas oder …), dann habe ich entweder nicht die Dimension des Problems verstanden oder ich halte mich für Supergirl oder Superman – und bin damit dem „System“ aufgesessen, das mich glauben machen will, ich, ich ganz allein, könne der oder die Größte sein, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden.

Leidenschaftliche Geduld

Anders herum: Mit einer realistischen Einschätzung der Situation und einer mit Leidenschaft gepaarten Geduld kann ich immer neue, kleine, erfolgreiche Schritte tun und vielleicht sogar das große Ziel erreichen. Unter Umständen bezwingt ja der 13-Jährige zehn Jahre später den Mount Everest – nach viel Training, Bergsteigerkursen und 1000 Stunden Erfahrung am Berg. Spirituell benutzt man in so einem Fall das unscheinbare Wörtchen Demut, hinter dem sich eine mächtige Möglichkeit verbirgt.

Wenn Demut sich mit der Erkenntnis verbindet, dass große Ziele nie allein zu bewältigen sind, dass wir dafür PartnerInnen, BegleiterInnen, FreundInnen, UnterstützerInnen, kurz Gemeinschaft brauchen, dann nimmt nicht nur die Arroganz ab, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, resignieren zu müssen. Sogar der halbe Weg zum Ziel kann dann schon eine Menge Spaß gemacht haben.

Von Bobby Langer

Aktivismus ist oldschool

Früher sagten wir ironisch: „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie.“ Letztlich ist es diese feste Überzeugung, es lohne sich, angesichts des Unmöglichen Mögliches zu versuchen, die das Unmögliche in seine Schranken zu weisen vermag – und Hoffnung macht. Einfach formuliert: Wir ringen den Gegner nieder, indem wir uns nicht auf seine Waffen einlassen. Deshalb könnte man das auch einen kulturellen Guerillakampf nennen.

Schluss mit dem Kampf gegen Windmühlen

Eine, wenn nicht sogar die Hauptwaffe des Gegners besteht darin, uns glauben zu machen, es gebe jeweils einen leicht identifizierbaren Gegner: die Polizei zum Beispiel, die Banker, die Pharma- und Waffenindustrie, die Politiker, die Manager. Was für ein Pech: Es gibt sie nicht, sie sind allesamt nicht vorhanden. Es gibt nicht „die“ Politiker, nicht „die“ Polizei, noch nicht einmal „die“ Waffenindustrie. Sie alle sind Schimären, die das Feindbild-Szenario bevölkern und uns gegen Windmühlen kämpfen lassen. Wer nun meint, er könne, ja müsse, diese Schimären bekämpfen, egal ob mit Gewalt oder ohne, gehört zur Gruppe der Aktivisten, die sich neuerdings – und sehr viel cooler – „Aktivisti“ nennen.

Ein Postaktivist namens Franziskus

Oft noch unsichtbar, aber bereits gestaffelt dahinter (oder davor, je man Perspektive) stehen die Postaktivisten. Sie eint die „unbedingte Überzeugung, dass ein sehr grundsätzlicher Wandel gelingen kann“. Postaktivistinnen glauben nicht mehr an einzelne Verfehlungen innerhalb „des Systems“, sie denken über Systemchange nach. Und sie bestehen auf diesem Nachdenken, egal, ob sie „von irgendeinem eloquenten Politiker oder CEO als undemokratisch“ bezeichnet werden. Das Totschlagargument ist ihnen egal, weil ja Totschlag systemimmanent ist. „Diese Wirtschaft tötet“, befand Papst Franziskus, der definitiv kein activisto ist, sondern eben ein Postaktivist. Postaktivisten eint das Bewusstsein, sich „viel grundsätzlicher zu empören, zu vernetzen und selbst für die Zukunft des Planeten einzustehen“. Aktivismus im oben beschriebenen Sinne ist einfach oldschool.

Zivilisatorische Kehrtwende

Phillip Maiwald hat sich auf das Phänomen Postaktivismus eingelassen und ihm ein gleichnamiges Buch gewidmet, Untertitel: „Die Stille im Inneren der Krise“. Es geht also nicht mehr darum, sich mit den Auswirkungen des Orkans zu beschäftigen, sondern bis ins stille Auge des Orkans vorzudringen. Es zeugt von Beuysscher Radikalität, wenn Maiwald fordert: „Ich bestehe … auf Schönheit und ich ernenne sie hiermit zu einer der Topmerkmale des Postaktivismus. Ich wünsche mir … einen Aktivismus, der smarter, kreativer, frecher, dabei freundlicher, unkonventioneller, radikaler und besser organisiert ist als der mir noch immer über weite Strecken begegnende.“

Postaktivismus wird gebraucht, weil der Aktivismus seit den 80er Jahren nicht funktioniert hat; sonst „würden wir heute nicht vor diesen ökologischen Wahnsinnsproblemen stehen“. Dabei will Maiwald all die kleinen Erfolge vergangener aktivistischer Aktionen nicht schmälern, doch sei jetzt weit mehr angesagt, nämlich „eine zivilisatorische Kehrtwende“: „In Anbetracht unserer heutigen Situation sollte man sich die Frage stellen, ob wir die uns anvertraute Natur durch eine alle Bereiche des Lebens durchziehende Technologie ersetzen wollen, oder ob wir versuchen wollen, das Viele am Leben zu erhalten, was heute trotz widriger Umstände noch immer da ist und was wir unsere Heimat nennen.“

Unbequeme Fragen müssen sein

Dann aber seien unbequeme Fragen zu beantworten:

– „Wie geht man emotional mit … dem Ökozid des Planeten um?“

– „Wie vereint, organisiert und mobilisiert man eine revolutionäre Bewegung?“

– „… sollten wir die Zerstörung vielleicht sogar beschleunigen, um unnötiges Leid zu vermeiden?“

– „Wie verteidigt man sich gegen den Vorwurf, Mitglied einer radikalen, ökologischen Gemeinschaft zu sein? Muss man sich überhaupt verteidigen?“

– „Ist es ein legitimer Akt von Gewalt, wenn man einen den Regenwald abholzenden Bulldozer anzündet?“

-„Ist es ein Akt von Gewalt, wenn ich Fleisch esse?“

Vom Wert der Tränen

Mit seinem Buch „Postaktivismus“ spricht Phillip Maiwald letztlich dem tiefenökologischen Gedanken das Wort, dass wir erst dann wirklich ins Handeln kommen, wenn wir den Schmerz über die Verwüstungen der Erde (und in uns) zulassen. An das berühmte William-Blake-Zitat „A tear is an intellectual thing” [eine Träne ist eine intellektuelle Sache] anknüpfend sagt er, man könne die ganze Welt daran aufhängen. Es ist eben diese Träne, die wichtiger ist als all diese „Überheblichkeiten und Grabenkämpfe“; „Wir werden in Zukunft mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die wir noch vor kurzem für Fachidioten und Hampelmänner gehalten haben, wir werden mit Nationalisten, Populisten und Kapitalisten sprechen und zusammenarbeiten müssen. Nur so können wir den Herausforderungen der Zukunft auch nur annähernd gerecht werden.“

Radikal mit dem Alten aufräumen

Die fetten Jahre sind vorbei, und die Zeit für lang gehätschelte Glaubenssätze ebenfalls. Diesbezüglich erinnert Maiwald an den riesigen Werbescreen am New Yorker Times Square, auf dem die Künstlerin Jenny Holzer den Spruch installiert hatte: „Protect me from what I want“ [Schütze mich vor dem, was ich möchte]. Vielmehr sei es sinnvoll, einen Minimalkonsens zu entwickeln, „für den man sich begeistern und einsetzen kann, während man über unvermeidliche Unterschiede … großzügig hinweg sieht“. Man könne nun mal „keinen radikalen Wandel auf den Weg bringen und zur gleichen Zeit alles beim Alten belassen“. Bei seinem Formulierungsversuch eines solchen Minimalkonsens‘ zeigt sich rasch, welche Tabuthemen angefasst werden müssten, zum Beispiel: konsequente Umverteilung von materiellem Reichtum, Schließung energieverschlingender Veranstaltungsräume, neues Finanzsystem, sofortiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Vergesellschaftung der Chemie-, Energie- und Stahlindustrie, Austritt aus der Nato. Stattdessen Verankerung von Tier-/Pflanzenrechten und den Rechten kommender Generationen im Grundgesetz, Einführung bzw. Subventionierung von Kreislaufwirtschaft in allen Industriezweigen und Geld für die ganzheitliche Bildung der Kinder.

Hüter/innen der Erde

Weil die Erfüllung all dieser Forderungen einer Umwälzung sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse gleichkäme, werden die meisten davon, nüchtern betrachtet, wohl unangetastet bleiben – mit allen langfristig unvermeidlichen und voraussichtlich desaströsen Folgen für Mensch und Mitwelt. Doch gemäß der hartnäckigen Einsicht „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie“, liegt der Wert von Phillip Maiwalds Buch nicht in der detaillierten Analyse eines sozial-ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, sondern darin, das Notwendige zu Ende zu denken und dabei auch Denktabus nicht länger hinzunehmen. Schließlich gehe es darum, „wirklich etwas zu wagen und gemeinsam das Richtige zu tun; wir sind ohne Einschränkung die Hüterinnen und Hüter der Erde bis zum letzten, lebendigen Wesen“.

Phillip Maiwald, Postaktivismus, 20 €, Büchner Verlag, ISBN 978-3-96317-345-5


Siehe auch: civil integrity – postactivism

Astrid Reimann empfiehlt das großartige Buch „Geflochtenes Süßgras“ von Robin Wall Kimmerer.
Daher der Titel “Gras und andere Lehrer”. Ein kleiner Auszug aus ihrer Rezension:

“Wie wäre das, wenn wir uns der Erde, unserer Ur-Mutter, gegenüber genauso anständig benehmen würden wie bei der Oma?

Wir würden ganz anders ernten. Kimmer schreibt von der „ehrenhaften Ernte“. Wir würden unsere Gärten und Äcker, unsere Viehhaltung, die Jagd, Bergbau und Industrie völlig anders gestalten. Wir würden besser verstehen, wie alles zusammenwirkt. Wenn wir Menschen ein Teil der Natur sind und sie uns nicht als „Objekt“ gegenüberstellen, kann sie keine Ware sein. Ein anderes Wirtschaftssystem würde entstehen. Ein anderes Miteinander – auch zwischen uns Menschen.

Es wäre eine Revolution.”

Hier geht’s zur vollständigen Besprechung.

Ein wundervolles Video, in dem Andreas Weber anhand eines Kindheitserlebnisses Interbeing in zugleich lyrische wie nachdenkliche Worte fasst, Trauer eingeschlossen:

Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein*, zu einem neuen Welt- und Menschenbild

Von Sepp Stahl

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Was haben wir uns in den letzten 30, 40 Jahren informiert, was haben wir alles analysiert, was haben wir uns engagiert. Was haben wir appelliert, an uns selber, an andere, an Kirchen und Gemeinden, an Politik und Gesellschaft. Denken wir nur an die großen Friedensmärsche und Demos Anfang der 80-er Jahre, an Wackersdorf, an den Konziliaren Prozess seit 1985, an Gorleben, an die große Zahl von Menschen, die in vielen NGOs aktiv sind.

Und? Die Krisen sind immer nur größer geworden und wachsen weiter.

Albert Einstein hat 1929 gesagt: „Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.“

Demnach brauchen wir eine neue Denkweise, ein neues Bewusstsein, ein neues Welt- und Menschenbild.

Nun, das was notwendig ist, das was dran ist, entwickelt sich auch. Wer offen ist, wer auf der Suche ist, hat mitbekommen, dass wir tatsächlich am Anfang einer weiteren, entscheidenden Entwicklungsepoche der Evolution stehen. In Literatur und Wissenschaft mehren sich die Erkenntnisse und Aussagen dazu.

Der Jesuit und Zenmeister Hugo M. Enomiya-Lassalle hat 1986 ein Buch veröffentlicht, mit dem Titel: „Am Morgen einer besseren Welt – Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“.

Der jetzigen Phase, dem mentalen Bewusstsein, wie er sie bezeichnet, folge nun etwas wesentlich Neues – das integrale Bewusstsein. Lassalle meint, die Menschheit stehe an einer Wende, die nicht von ihr abhängt, wohl aber, ob sie bald zustande kommt. Er ist weiter der Ansicht, dass einem größeren Epochensprung der Evolution immer eine besondere Krisenzeit vorausgeht und ihn kennzeichnet.

Der Benediktinermönch und Zenmeister Willigis Jäger nannte das 21. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Metaphysik, und das 3. Jahrtausend: Das Millennium des Geistes, des Bewusstseins.

Der Physiker und Philosoph Ken Wilber aus den USA sieht dies ähnlich. Er teilt die Evolution nach dem Urknall in Physio-Sphäre, in Bio-Sphäre und in die mit der Aufklärung beginnende Geist-Sphäre ein.

„Was die Welt heute mehr als alles andere braucht, ist eine Revolution des Bewusstseins. Es ist an der Zeit, uns von einem Glauben an das Äußerliche, Kurzfristige und Flüchtige zu einer Wertschätzung des Inneren, Dauerhaften und Essenziellen hinzubewegen.“ (Beide Sätze sind Masami Saionjis Aufsatz in „Impulse für eine Welt in Balance“ entnommen, Hrsg „Global Marshall Plan Initiative“)

Im selben Buch schreibt Dr. Ashok Gangadean: „Wir Menschen sind in einem tiefgreifenden Entwicklungssprung begriffen, hinauf auf eine höhere Stufe globalen Bewusstseins, das durch die Jahrhunderte in Kulturen, Religionen und Weltbildern gewachsen ist. Dieses Erwachen eines globalen Bewusstseins bedeutet nichts Geringeres als den Umbruch, die Reifung, von eher egozentrischen Lebensformen hin zu einer höheren Form integrativen, dialogischen Lebens …. Die großen geistig- meditativen Traditionen haben schon lange erkannt, dass der Schlüssel zum Überleben, zu Nachhaltigkeit und Wohlergehen, im Bewusstseinswandel zur dialogischen Lebensweise liegt, die die wahre moralische, vernünftige und spirituelle Natur unserer Spezies zum Vorschein bringt.“

Peter Russel, Physiker, lässt in seinem Buch: „Der direkte Weg“ den Engländer John White zu Wort kommen:
„Nur durch eine Veränderung des Bewusstseins kann die Welt ‚gerettet‘ werden. Jeder muss bei sich selbst beginnen. Politisches Handeln, Sozialarbeit, jeder -ismus, jede Ideologie sind alle unvollständig und nutzlos, wenn sie nicht von einem neuen und erweiterten Bewusstsein begleitet werden. Das höchste Ziel ist dann keine Handlung, sondern eine Veränderung des Bewusstseins. In anderen Worten: Die wahre Revolution ist ein Bewusstseinssprung. Wenn dies weltweit geschieht, werden die bisherigen Probleme, falschen Vorstellungen und Ungerechtigkeiten wie von selbst verschwinden. Erst dann wird die ‚Revolution‘ zur ‚Evolution‘.“

Ausgangspunkt dieser neuen Sichtweisen sind vor allem die heutigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Die neuen, geradezu revolutionären Forschungsergebnisse kommen maßgeblich aus der Physik, indem die Kernphysiker immer tiefer im Mikrokosmos vordrangen, immer kleinere Einheiten fanden und ihre Funktionen erkannten – bekannt als Quantenphysik.

Das Vordringen in immer weitere Räume des Weltalls hat durch die Astrophysik ähnliche bahnbrechende Ergebnisse gebracht.

Nach Willigis Jäger kommen im Zuge ihrer Grundlagenforschung viele Wissenschaftler mehr und mehr an die Grenzen ihres Denkens, dort begegnet ihnen eine Wirklichkeit, die sie nicht mehr mit den Mitteln der Logik und des analytischen Denkens begreifen können. Fast alle großen Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts haben sich intensiv mit ihren Grenzerfahrungen auseinandergesetzt, im Besonderen seit der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Quantenphysik.

Auf der Suche, ihre geheimnisvollen Entdeckungen sprachlich auszudrücken, benutzten die Wissenschaftler häufig religiös spirituelle Formen, oft angelehnt an die asiatischen Religionen, an die Mystik im Christentum und an den Sufismus im Islam.

Der Münchner Physiker H.P. Dürr hat als Herausgeber Aussagen aller großen Physiker des 20. Jahrhunderts dazu in dem Buch ”Physik und Transzendenz” veröffentlicht. Die Tiefe und Deutlichkeit ihrer Worte überraschen und erstaunen ungemein. Einige Beispiele:

David Bohm, Physiker:
„Die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften werden nur noch einen Sinn ergeben, wenn wir eine innere, einheitlich und transzendente Wirklichkeit annehmen, die allen äußeren Daten und Fakten zugrunde liegt.“

Carlo Rubia, Atomphysiker:
„Als Forscher bin ich tief beeindruckt durch die Ordnung und Schönheit, die ich im Kosmos finde, sowie im Zauber der materiellen Dinge. Und als Beobachter der Natur kann ich den Gedanken nicht zurückweisen, dass hier eine höhere Ordnung der Dinge im Voraus existiert. Die Vorstellung, dass dies alles das Ergebnis eines Zufalls oder bloß statistischer Vielfalt sei, das ist für mich vollkommen unannehmbar. Es ist hier eine Intelligenz auf höherer Ebene vorgegeben, jenseits der Existenz des Universums selbst.“

Max Plank, Physiker:
„Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und dann nicht mehr weiterdenken konnte. Wir hören alle zu früh auf zu denken.“

In einem Zitat von Carsten Bresch, einem deutschen Molekularbiologen, ist für mich diese Sichtweise so mancher Naturwissenschaftler exemplarisch ausgedrückt:

„Es ist also in der Evolution eine eindeutige Tendenz zu immer höherer Komplexität festzustellen. Wenn man dies in allen Phasen beobachtet, dann fragt man natürlich nach den Ursachen dieser ‚Komplexifikation‘, wie Teilhard de Chardin es ausgedrückt hat. Man kommt ins Staunen und kann eigentlich nicht anders, als alles auf einen Ursprung zurückzuführen, das heißt, davon auszugehen, dass im Ursprung des ganzen Universums diese Entwicklung bereits begründet ist. Und dann ist es nicht mehr weit, Ehrfurcht vor diesem Geschehen zu verspüren und religiös zu werden.“ Soweit Carsten Bresch.

Von Albert Einstein gibt es dazu viele Aussagen, ein Beispiel:
”Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.”

Werner Heisenberg, Physiker, einer der Väter der Quantentheorie:
„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“

Indem die Wissenschaftler immer tiefer in den Mikro- und Makrokosmos vordrangen und vordringen, lernen viele von ihnen Staunen, sie staunen vor der Genialität und Schönheit der Schöpfung, dem gesamten Kosmos. Eine Genialität und eine Schönheit, die mit menschlicher Sprache nicht entsprechend gewürdigt werden können.

Schon für Leibniz war es die beste aller möglichen Welten.

Für Platon war Staunen der Beginn der Philosophie, und Gottlieb Herder war der Überzeugung, ohne Staunen, ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Welt.

Das Staunen war bei den Mystikern in allen Religionen, in besonderer Weise in den Naturreligionen, ein erster, wesentlicher Zugang zur Spiritualität.

Das Staunen-Können löst weitere Prozesse aus.

Dorothee Sölle beschreibt dies so wunderbar in „Mystik und Widerstand“. Für sie führt der Weg über Staunen zu Ehrfurcht und Lobpreis.

Staunen oder Bewunderung ist eine Art, den Schöpfer zu loben, auch wenn sein Name nicht genannt wird.

Wie sehen nun Wissenschaftler heute den Menschen, die Welt, den Mikro-, den Makrokosmos?

Die Urknalltheorie wird heute von den meisten Wissenschaftlern als eine sehr wahrscheinliche gesehen. Hintergrundstrahlung! Letzte Gewissheit gibt es nicht.

Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan sagt in seinem Buch „Die verborgene Melodie“, es gebe Geheimnisse, was die Entstehung und Weiterentwicklung des Kosmos angeht und es würden Geheimnisse bleiben. Er schreibt über die phantastische Feinabstimmung von etwas mehr als 12 physikalischen Konstanten im Kosmos, und würden sie nur in kleinsten Nuancen abweichen, so gäbe es uns und diesen Kosmos so nicht oder gar nicht.

Zitat Thuan: „Von diesen Konstanten hängt die phantastische Hierarchie der Strukturen und Massen im Universum ab: vom kleinsten Atom bis zum größten Galaxiensuperhaufen über den Menschen, die Planeten, die Sterne und die Galaxien. Am erstaunlichsten aber sind die physikalischen Größen, die – zusammen mit den Anfangsbedingungen des Universums – die Entfaltung des Lebens und die Entstehung des Bewusstseins und der Intelligenz ermöglichten. Die Existenz des Lebens hängt von einem sehr empfindlichen Gleichgewicht und vom einzigartigen Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände ab. Schon die geringste Änderung der Zahlenwerte oder der Anfangsbedingungen würde zu einem völlig anderen Universum führen – uns gäbe es dann allerdings nicht.“

Eines der Grundprinzipien in der Evolution ist die Entwicklung zu immer komplexeren Formen, zu anorganischen wie zu organischen.

Heute geht man davon aus, dass allen Vorgängen in der Evolution eine Selbststeuerung innewohnt, die Bestand und Weiterentwicklung sichert. Der englische Biologe Sheldrake nennt dieses Phänomen, das allen Vorgängen zu jeglichem Leben gegeben ist – morphogenetisches Feld – ein geistiges Feld, wie er feststellt.

Die Entdeckung der Unschärferelation durch Heisenberg hat die physikalische Vorhersage und Sicherheit tief erschüttert.

Ab jetzt gilt: In allen Entwicklungsbereichen der Evolution ist alles offen, nichts mehr vorhersagbar, alles möglich oder eben nicht.

Der Heisenberg-Schüler Hans P. Dürr dazu: „Zukunft ist prinzipiell nicht vorhersagbar.“

Hans P. Dürr bemühte sich jahrelang landauf landab, die Vorgänge in der Tiefe des Seins, die wesentlichen Erkenntnisse durch die Quanten-Theorie erklärbar zu machen. Aus seinem Buch: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ mit dem Untertitel: „Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften“; daraus zwei Passagen:

„In der Quantenphysik gibt es das Teilchen im alten klassischen Sinne nicht mehr, d. h. es existieren im Grunde keine (kleinsten) zeitlich mit sich selbst identischen Objekte. Damit geht die ontische Struktur der Wirklichkeit verloren. Die Frage: Was ist, was existiert? wird dynamisch verdrängt durch: Was passiert? Was wirkt? Das Primäre ist nicht mehr die reine Materie, die, selbst gestaltlos, den Raum besetzt; es gilt nicht mehr ‚Wirklichkeit als Realität‘, sondern im Grunde dominiert die immaterielle Beziehung, reine Verbundenheit, das Dazwischen, die Veränderung, das Prozesshafte, das Werden, eine Wirklichkeit als Potenzialität‘.

Die zweite Stelle:

„Die Gestalt, die innere Form ist grundlegender als die Materie. Dies verführt uns zu der Analogie aus unserer erweiterten, menschlichen Erfahrungswelt: Die Grundwirklichkeit hat mehr Ähnlichkeit mit dem unfassbaren, lebendigen Geist als mit der uns geläufigen greifbaren stofflichen Materie. Die Materie erscheint mehr als eine ‚Kruste‘ des Geistes. Ich betone nochmals: Dies ist zunächst nur als ein Gleichnis gemeint, denn Worte wie Geist und Lebendigkeit kommen in der Physik nicht vor. Im Grunde gibt es also nur Gestalt, eine reine Beziehungsstruktur ohne materiellen Träger.“

Als weiteres einige Fragmente aus einem Vortrag von ihm am 11. März 2005 am Goethe-Institut in München.

„Materie ist nicht aus Materie aufgebaut, das Fundament der Welt ist nicht materiell. Stattdessen finden wir hier Informationsfelder, Führungsfelder, Erwartungsfelder, die mit Energie und Materie nichts zu tun haben.“

„Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig. Und die Materie ist gewissermaßen die Schlacke des Geistes, sie bildet sich hinterher durch eine Art Gerinnungsprozess.“

Das Paradigma des Unlebendigen lautet: In Zukunft passiert das Wahrscheinliche wahrscheinlicher.

Beim Lebendigen ist es umgekehrt: In Zukunft ist das Unwahrscheinliche wahrscheinlich. Er selber sagt, noch unverständlicher ist: „Es gibt echt kreative Prozesse: Etwas entsteht aus dem Nichts und vergeht im Nichts.“

Als DAS entscheidende Grundprinzip der Evolution nennen immer mehr Wissenschaftler den unwissenschaftlichen Begriff: die Liebe.

Die beiden chilenischen Biologen und Nobelpreisträger Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela bringen in ihrem Buch: „Der Baum der Erkenntnis“ als Naturwissenschaftler gar den Begriff „Liebe“ ins Spiel. Sie schreiben: „Wir halten keine Moralpredigt, wir predigen nicht die Liebe. Wir machen einzig und allein die Tatsache offenkundig, dass es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozess gibt … Zu leugnen, dass die Liebe die Grundlage des sozialen Lebens ist, und die ethischen Implikationen dieser Tatsache zu ignorieren, hieße, all das zu verkennen, was unsere Geschichte als Lebewesen in mehr als 3,5 Milliarden Jahren aufgewiesen hat. Es mag uns ungewöhnlich vorkommen und wir mögen uns dagegen sträuben, den Begriff „Liebe“ in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang zu gebrauchen, da wir um die Objektivität unseres rationalen Ansatzes fürchten. Aus dem, was wir in diesem Buch aufgezeigt haben, sollte jedoch erhellen, dass eine solche Furcht unbegründet ist. Liebe ist eine biologische Dynamik mit tiefreichenden Wurzeln.“

Auch Ken Wilber bezeichnet die Liebe im weitesten Sinn als die eigentliche, die treibende Kraft des Lebens und der Evolution. Er sagt: Die Bereitschaft (die er als Liebe benennt) zur Selbsttranszendenz zur nächst höheren, komplexeren Form ist überall in der Evolution, im gesamten Kosmos erkennbar. Bereitschaft oder Liebe im Sinne einer absoluten Offenheit für alles und jedes.

Hans P. Dürr benutzte ebenso den Begriff Liebe: „Denn Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem anderen von Grund auf angelegt.“

Der Neurobiologe Gerald Hüther gibt einem seiner Bücher gar den Titel: „Die Evolution der Liebe“ und schreibt, dass primär die Liebe „die lebendige Welt, den Einzelnen, das Paar, eine Gruppe, die ganze menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält“.

Und dass eben nicht Konkurrenz, natürliche Auslese und Kampf ums Dasein, wie nach Darwin lange die Meinung vorherrschte, die bestimmenden Verhaltensweisen sind.

Die ganz neuen Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie der letzten zehn Jahre beschreibt Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“. Sie fügen sich nahtlos zu den anderen Erkenntnissen.

Joachim Bauer:
„Wir sind nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt, sondern auf Kooperation und Resonanz. Das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander durch Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen.“

Joachim Bauers wichtigste Aussage:
„Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch.“

Aus dem Inhalt des Buches zwei wesentliche Aussagen:

„Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen, wobei dies nicht nur persönliche Beziehungen betrifft, Zärtlichkeit und Liebe eingeschlossen, sondern alle Formen sozialen Zusammenwirkens.“ Für den Menschen bedeutet dies: „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“

Weiter:

„Besonders heftig reagieren die Motivationssysteme des Menschen, wenn Liebe im Spiel ist, egal, ob es sich um elterliche, kindliche oder sexuelle Liebe handelt.“

Aus all diesen bisher aufgezeigten neuen Forschungsergebnissen der modernen Naturwissenschaften entsteht ein neues Welt- und Menschenbild. Und dieses wird wiederum unser Bewusstsein beeinflussen und verändern.

Überall bin ich dem gleichen Tenor begegnet:

Erwin Laszlo, Club of Rome:
„Die Welt ist vielmehr eine ganzheitliche Welt der Information und der Teilhabe. Jedes Teilchen, jedes Atom ist durchdrungen von der Ganzheit des Universums.“

Nochmals H.P. Dürr:
„Die Natur ist im Grunde nur Verbundenheit … Diese fundamentale Verbundenheit führt dazu, dass die Welt eine Einheit ist.“

Das Holistische, das Ganzheitliche ist auch das wesentliche Charakteristikum der Quantenphysik.

Das ganzheitliche, holistische Denken ist heute Allgemeingut aller modernen Naturwissenschaften, nämlich der Quantenphysik, der Astrophysik, der Theoretischen Chemie, der System-Theorie, der Ökologie, der Klimatologie und der Neurobiologie.

Es gilt: das Prinzip der Vernetzung, der Zusammengehörigkeit, der Einheit, des Eins-Seins. Es gilt: die Einheit von Körper, Geist und Seele. Es gilt: Der Wechsel vom dualistischen Entweder-Oder zum polaren Sowohl-als-auch.

Und wieder Hans P. Dürr:
„Wir sind angehalten, in einem grundlegenden neuen Denken zu einem umfassenden Verständnis unserer Wirklichkeit zu gelangen, in der auch wir uns als Faser im Gewebe des Lebens verstehen, ohne dabei etwas von unseren besonderen menschlichen Qualitäten opfern zu müssen. Wir lernen, dass wir wie alles andere, untrennbar mit dieser wundersamen, irdischen Geobiosphäre verbundene Teilnehmer und Teilhabende sind.“

Willigis Jäger abschließend:
„Haben wir die Erfahrung der Einheit und Zusammengehörigkeit gemacht, ist die Liebe nicht mehr Gegenstand eines Gebotes, sondern der selbstverständliche Ausdruck des eigenen Wesens. Die Liebe ist nicht befohlene Tätigkeit, sondern Seins-Zustand der transpersonalen Existenz.“

Wir haben also die Liebe als das zentrale Merkmal der Evolution, des Lebens des Kosmos erkennen dürfen.

In dieser ganzheitlichen Geisteshaltung wird sich der Mensch nachhaltig und zukunftsfähig in die Kreisläufe und Wachstumsprozesse der Natur einfügen.

Nicht mehr die Suche nach den letzten Teilchen, sondern das Aufzeigen systemischer Zusammenhänge ist wichtig, nicht mehr das zerlegende Analysieren, sondern ganzheitliches Verstehen. Eine zentrale Aussage hierzu: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Fritjof Capra widmet sein neueres Buch: „Lebensnetz – ein neues Verständnis der lebendigen Welt“ dieser Thematik. Er versucht darin das synergetische Denken in einer ganzheitlichen Wissenschaft zu etablieren.

Dieses systemische, ganzheitliche Denken trägt zu einem neuen Verständnis des Menschen bei. Die Natur wird nicht mehr als zu beherrschendes Gegenüber verstanden, sondern wir Menschen als ihr integraler Teil, als Zellen in einem erdumspannenden Lebensnetz.

Mit einem solchen Bewusstsein brauchen wir keine ethischen Appelle mehr, sondern wollen ganz selbstverständlich „anders besser leben“ als bisher: Solidarisch, ökologisch, gesund, nachhaltig, also zukunftsfähig und schöpfungsbewusst.

Das wesentliche Neue ist im Kleinen, in Ansätzen bereits überall da. Wer sucht, wer offen ist, dem wird es begegnen, dem wird es zufließen.

Spiritualität als Alltags- und Lebensprinzip

Albert Schweitzer hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Spiritualität beschrieben, die im heutigen Kontext ganz aktuell ist. Längere Zeit habe er nach einer spirituellen Kurzform gesucht: „Ehrfurcht vor dem Leben“

Seine zentralen Aussagen:

„Der Mensch erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen.“ – „Ethisch ist er nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist, und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann.“

Schweitzers Schlüsselsatz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“

Für Willigis Jäger sind Alltag und Spiritualität nicht zu trennen. Er sagt: „Die Durchdringung von Alltag und Spiritualität setzt die Erfahrung voraus, dass es nichts gibt, was nicht eine Ausdrucksform des Göttlichen wäre. Dementsprechend ist der Vollzug des Lebens der wirkliche Inhalt der Religiosität und alle Gebete und Riten sind etwas, was wir dem hinzufügen, mit dem wir diese Wahrheit feiern.“

Mit diesen oben aufgezeigten Einstellungen ist das Los-Lassen-Können von einer einseitigen Betonung und Fixierung des Materiellen, des Besitzens, von ausufernden Bedürfnissen in unserer Konsumwelt kein Verzicht, keine Askese, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Widersprüche zwischen unserem Wissen, unseren Idealen und unserer Lebensweise heben sich so Schritt für Schritt auf.

Mit einem systemischen, ganzheitlichen Denken, mit einem integralen, ja kosmischen Bewusstsein fällt es uns leicht „anders besser zu leben“, zukunftsfähig mit Körper, Geist und Seele.

In diesem geistigen spirituellen Befinden kann sich eine Kultur des Mitfühlens, der Achtsamkeit, der Zusammengehörigkeit, Verbundenheit und der Vernetzung entfalten. Allein das Gefühl für Zusammengehörigkeit und Verbundenheit beinhaltet in sich spirituelle Dimensionen.

Der Mensch wird sich als ein Glied in diesem vielfältigen Lebensnetz erkennen und zu einer Art Geschwisterlichkeit, nicht nur zwischen den Menschen, sondern mit allem Geschaffenen finden.

Hierin entdecken wir das Wesen einer mystischen Spiritualität. Und ein Wort von Karl Rahner passt an dieser Stelle:

„Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“

Zum Schluss eine persönliche Anmerkung:

Seit Jahren sind mir diese Entwicklungen und Erkenntnisse zu meinem persönlichen Schwerpunkt, zu meinem Herzensanliegen geworden. Ich habe ganz neue Perspektiven und Zuversicht gewonnen. Meine Träume und Visionen sind intensiver und gefestigter, zwar nicht für die nähere Zukunft, sondern für eine Zeit danach, die ich nicht mehr erleben werde. Es ist mir bewusst, dass wir die Talsohle von Leid, Tod und Sterben und weiterer Zerstörung unserer Lebensgrundlagen noch nicht erreicht haben.

* „Am Morgen einer besseren Welt.  Der Mensch im Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein“ ist der Titel eines Buches von Hugo M. Enomija-Lassalle, 1986, Jesuit und Zenmeister

Der Philosoph und Kognitionsforscher Thomas Metzinger fordert eine neue Bewusstseinskultur ein

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Je selbstsüchtiger einer ist, desto mehr verliert er sein wahres Selbst. Je selbstloser einer handelt, desto mehr ist er er selbst. Michael Ende

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Ein neues Paradigma steht an, ein Ontologiewechsel. Die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation hat sich schon bis in Regierungskreise herumgesprochen. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft eine ganze Milchstraße von Schwierigkeiten: zum Beispiel die komplette Europäische Union und die Einzelinteressen jedes ihrer Mitglieder. Oder das Überlebensinteresse jedes kapitalistisch strukturierten Unternehmens weltweit. Und ganz zuletzt, aber wenigstens ebenso wichtig: das scheinbare Recht auf wohlständige Sattheit aller TeilnehmerInnen der Konsumgesellschaften auf der Erde. Ihnen allen ist gemeinsam: Mehr Bescheidenheit gliche einem kollektiven Versagen.

Ivan Illich hat das Problem so zusammengefasst: „Wenn Verhalten, das zum Wahnsinn führt, in einer Gesellschaft als normal gilt, lernen die Menschen, um das Recht zu kämpfen, sich daran zu beteiligen.“

Mit nur einem Hauch von Realismus könnte man also die Flinte ins Korn werfen, denn jeder Schuss wäre bei einem solchen Berg an Widrigkeiten sein Pulver nicht wert. Und im Vergleich zu der Annahme, in Establishment-Kreisen fasste jemand das Ziel einer sozial-ökologischen Transformation mit dem angemessenen Ernst ins Auge, wirken die Allmachtsphantasien eines Pubertierenden geradezu realistisch.

Neuer Denkansatz macht Hoffnung

Wenn es da nicht einen ganz anderen, hoffnungsvollen Denkansatz gäbe. Der US-amerikanische Philosoph David R. Loy formuliert es in seinem Buch „ÖkoDharma“ so: „… die ökologische Krise [ist] mehr als ein technologisches, ökonomisches oder politisches Problem … Sie ist auch eine kollektive spirituelle Krise und ein möglicher Wendepunkt in unserer Geschichte.“ Harald Welzer spricht von erforderlichen „mentalen Infrastrukturen“ und vom „Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt“, auf dass eines Tages nicht mehr „die, die Müll produzieren“ ein „höheres gesellschaftliches Ansehen [genießen] als die, die ihn wegräumen“.

Und weil dieses Weiterbauen so schwierig, ja schier nicht machbar erscheint, hat sich der Innovationsforscher Dr. Felix Hoch mit einem kompakten Band nur diesem Thema gewidmet: „Schwellen der Transformation – Erkennen und Überwinden innerer Widerstände in Transformationsprozessen“. Thomas Metzinger, der an der Uni Mainz Philosophie und Kognitionswissenschaften lehrte, hat sich mit seinem kürzlich erschienenen Buch „Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise“ dem neuen Denkansatz ebenfalls gestellt. Verdienstvollerweise hat er das nicht auf einem akademisch hochfliegenden Niveau getan, sondern gut lesbar, klar und knapp auf 183 Seiten.

Inhaltlich leicht macht er es einem allerdings nicht. Schon in den ersten Zeilen nimmt er den Stier bei den Hörnern: „Wir müssen uns ehrlich machen … Die globale Krise ist selbstverschuldet, historisch beispiellos – und es sieht nicht gut aus … Wie bewahrt man seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit als ganze ihre Würde verliert? … Wir brauchen etwas, das im tatsächlichen Leben einzelner Menschen und Länder auch dann trägt, wenn die Menschheit als ganze scheitert.“

Beschönigung der Lage ist Metzingers Sache nicht. Im Gegenteil sagt er voraus, „dass es in der Geschichte der Menschheit auch einen entscheidenden Kipppunkt geben wird“, einen Panikpunkt, nach dem „die Einsicht in die Unumkehrbarkeit der Katastrophe auch das Internet erreichen und sich viral verbreiten“ wird. Doch dabei belässt es Metzinger nicht, vielmehr sieht er ebenso nüchtern die Möglichkeit, dem Unvermeidlichen auf sinnvolle Art und Weise die Stirn zu bieten.

Die Herausforderung annehmen

Dass das nicht einfach ist bzw. sein wird, versteht sich von selbst. Immerhin hat sich weltweit eine Gruppe von Menschen gebildet, Metzinger nennt sie die „Freunde der Menschheit“, die vor Ort alles dafür tun, „neue Technologien und nachhaltige Lebensweisen zu entwickeln, denn sie möchten Teil der Lösung gewesen sein“. Sie alle ruft Metzinger auf, an einer Bewusstseinskultur zu arbeiten, deren erster Schritt vielleicht der schwerste ist, „die Fähigkeit, nicht zu handeln … die sanfte, aber sehr präzise Optimierung von Impulskontrolle sowie eine schrittweise Bewusstwerdung der automatischen Identifikationsmechanismen auf der Ebene unseres Denkens“. Eine würdevolle Lebensform, so Metzinger, entstehe aus „einer bestimmten inneren Haltung angesichts einer existenziellen Gefährdung: Ich nehme die Herausforderung an“. Nicht nur Individuen, auch Gruppen und ganze Gesellschaften könnten so angemessen reagieren: „Wie kann es gelingen, angesichts der planetaren Krise in Bewusstheit und Anmut zu scheitern? Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als genau das zu lernen.“

Die zu entwickelnde Bewusstseinskultur wäre eine „Form des Erkenntnishandelns, die nach würdevollen Lebensformen sucht … Als antiautoritäre, dezentralisierte und partizipatorische Strategie wird Bewusstseinskultur im Wesentlichen auf Gemeinschaft, Kooperation und Transparenz setzen und sich so ganz automatisch jeder kapitalistischen Verwertungslogik verweigern. So gesehen handelt es sich … um den Aufbau eines soziophänomenologischen Raums – und damit einer neuen Art von gemeinsam geteilter geistiger Infrastruktur“.

Einen Entdeckungskontext entwickeln

Um sich nicht ideologisch zu verfestigen, besteht die hauptsächliche Herausforderung in der Entwicklung eines „Entdeckungskontexts“, der nicht vorgibt, „genau zu wissen, was sein sollte und was nicht … eine neue Form von ethischer Sensibilität und Echtheit … in Abwesenheit von moralischer Gewissheit … das Umarmen von Unsicherheit“. Daniel Christian Wahl hat dies als „Resilienz“ beschrieben. Sie hätte zwei Merkmale: einerseits die Fähigkeit lebender Systeme, ihre relative Stabilität im Laufe der Zeit aufrechtzuerhalten, andererseits die Fähigkeit, „sich als Reaktion auf veränderte Bedingungen und Störungen zu verändern“; Letzteres nennt er „transformative Resilienz“. Es gehe darum, „weise zu handeln, um eine positive Entwicklung in einer unvorhersehbaren Welt zu ermöglichen“. Sich offen zu halten, sich in einer Kultur des Nichtwissens in eine unvorhersehbare Zukunft zu tasten, bezeichnet Thomas Metzinger als „intellektuell redliche Bewusstseinskultur“. Ziel wäre eine „säkulare Spiritualität“ als eine „Qualität inneren Handelns“.

Säkulare Spiritualität ohne Selbsttäuschung

Mit den meisten spirituellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Europa und den USA geht Metzinger freilich hart ins Gericht. Sie hätten ihren fortschrittlichen Impuls lange verloren und seien häufig zu „erfahrungsbasierten Formen privat organisierter religiöser Wahnsysteme verkommen … folgen kapitalistischen Imperativen der Selbstoptimierung und zeichnen sich durch eine etwas infantile Form von Selbstgefälligkeit“ aus. Ähnliches gelte für die organisierten Religionen, sie seien „von der Grundstruktur her dogmatisch und damit intellektuell unredlich“. Seriöse Wissenschaft und säkulare Spiritualität hätten eine doppelte gemeinsame Basis: „Erstens der unbedingte Wille zur Wahrheit, denn es geht um Erkenntnis und nicht um Glauben. Und zweitens das Ideal der absoluten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.“

Erst die neue Bewusstseinskultur, eine „säkulare Spiritualität von existenzieller Tiefe ohne Selbsttäuschung“, ein neuer Realismus, würde es ermöglichen, aus dem jahrhundertelang gepflegten, „giergetriebenen Wachstumsmodell“ auszusteigen. Dies könnte „zumindest einer Minderheit von Menschen dabei helfen, ihre geistige Gesundheit zu schützen, während die Gattung als ganze scheitert“. Metzinger geht es in seinem Buch nicht darum, Wahrheiten zu verkünden, sondern darum, mit größtmöglicher Nüchternheit den gegenwärtigen Entwicklungen ins Auge zu schauen: „Bewusstseinskultur ist ein Erkenntnisprojekt, und in genau diesem Sinne ist unsere Zukunft auch weiterhin offen.“

Thomas Metzinger, Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise, 22 Euro, Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-1488-7

Rezension von Bobby Langer

“Bewusstseinskultur” zählt aus unserer Sicht zu den wesentlichen Büchern des Wandels, die wir zur Lektüre und Vertiefung empfehlen.

Permakultur lässt sich aufs eigene Leben übertragen

“We are all elders in training …”
Mala Spotted Eagle

Mit „Krisen-Fest – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz“ schreibt Marit Marschall ein Handbuch für alle Menschen, die nicht „in Jammern und Leiden“ verharren wollen. „Wir Menschen haben Mist gebaut, und jetzt machen wir es besser“, konstatiert sie. Krisen-Fest ist ein poetisches, kluges Lehrbuch für all jene, die nach einer Methode suchen, wie sie in einer krisengeschüttelten Zeit persönlich als Mensch, aber auch – sofern sie das wollen – gärtnerisch, stabil werden und bleiben können.

Von Bobby Langer

Wie kann es sein, dass ein Ökosystem Jahrhunderte, ja Jahrtausende funktioniert, so lange der Mensch es in Ruhe lässt? Was sind die ineinandergreifenden Prinzipien eines solchen „Wunders“, haben sich die beiden Australier Bill Mollison und David Holmgren vor ein paar Jahrzehnten gefragt und haben sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Heraus kam die „Permakultur“ mit Erkenntnissen, die sich in Windeseile über den Erdball verbreitet haben. Auch in Deutschland gibt es inzwischen Tausende von Anwendern der Permakultur-Prinzipien, die in Hausgärten ebenso gut funktionieren wie auf dem Bauernhof.

Längst hat sich Permakultur zu einer Agrar-Systemwissenschaft entwickelt, die die Grundlagen des biologischen Anbaus sowohl vervollständigt als auch erweitert. Und Permakultur lässt sich erlernen, in Deutschland in privaten Akademien, in Österreich sogar an der Universität für Bodenkultur Wien. Nach einer mehrjährigen Ausbildung erhält man den Abschluss als Permakultur-Designer/in.

Auch Marit Marschall hat auf der Suche nach der Quelle unserer natürlichen Resilienz diesen Weg gewählt. In ihrer Abschlussarbeit hat sie dargelegt, dass sich die „geistigen Werkzeuge“ der Permakultur auch auf die menschliche Lebensplanung anwenden lassen, als Design für die innere Landschaft. „Wir können uns ausprobieren als innerer Gärtner und Designer unseres Lebens“, sagt Marit Marschall. Dazu hat sie den „Baumplan“ entwickelt und seine Verwendung in ihrem Buch leicht verständlich, übersichtlich und kleinschrittig nachvollziehbar beschrieben. Die anmutigen und überraschenden Farbbilder der englischen Naturkünstlerin Amber Woodhouse verleihen dem Buch schon beim ersten Durchblättern einen gewissen Zauber.

„Krisen-Fest“ – die Schreibweise verweist auf eine Doppelbedeutung: Einerseits unterstützt die Autorin psychologisch wie permakulturell sachkundig dabei, krisenfest zu werden; dies aber nicht in einem statischen Sinn, sondern flexibel und widerstandfähig wie die Natur, in der jede Krise das Potential zu Entwicklung und Wachstum birgt.

Schritt für Schritt führt dieses Kompendium der Achtsamkeit aus der Permakultur-Perspektive die LeserInnen voran: vom sinnvollen Aufbau der eigenen Resilienzwurzeln über den Stamm des persönlichen Lebensbaums – die Analyse – bis hin zur zuverlässigen Ernte der Früchte: des eigenen Lebensertrags. Dabei gelingt Marit Marschall die Gratwanderung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und spirituellen Einsichten. Krisen-Fest ist kein Aufruf „Zurück auf die Bäume“, sondern vielmehr die Vision eines indigenen europäischen Lebens, bei dem Mitwelt und Mensch harmonisch klug miteinander verschmelzen. „Du lebst mehr im Einklang mit deinen Bedürfnissen und denen aller Lebewesen. Nicht mehr als Ausbeuter und ignoranter ‚Mensch‘, sondern als integrierter Bewohner des Planeten. So wie du es dir immer gewünscht hast.“

Im Kapitel „Die Wurzeln der Bedürfnisse“ zitiert die Autorin en berühmten Erfinder und Architekten R. Buckminster Fuller:

„Ich glaube, wir befinden uns in einer Art Abschlussprüfung, ob der Mensch mit dieser Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und Kommunikation jetzt wirklich qualifiziert ist, die Verantwortung zu übernehmen, die uns übertragen werden soll. Und es geht hier nicht um eine Prüfung der Regierungsformen, es geht nicht um Politik, es geht nicht um Wirtschaftssysteme. Es hat etwas mit dem Individuum zu tun. Hat der Einzelne den Mut, sich wirklich auf die Wahrheit einzulassen?“

Krisen-Fest ist ein Mut-Buch in diesem Sinn, und ein Aufbruchsbuch für alle, die vielleicht noch einen letzten Impuls brauchen, um sich auf den Weg zu machen; ein Aufruf, die uns mögliche Souveränität anzunehmen und damit Verantwortung für unseren Lebensstil. Es ist aber auch eine detaillierte Aufmunterung voller gärtnerischer und permakultureller Details für alle, deren Weg sich manchmal beschwerlich anfühlt. „Handlungsfähig werden im individuellen wie im globalen Sinn“ – darum geht es hier. „Unsere innere Ausrichtung auf die konsequente Lebensqualität ist, was uns noch fehlt“, sagt Marit Marschall. „Mit diesem Buch kannst du dich darin schulen und ausbilden, deine Bedürfnisse als gesundes Ökosystem wieder zu spüren, deine Gedanken, dein Fühlen und Handeln an dem Maßstab der Prinzipien der Ökosystem zu prüfen und auszurichten. Du kannst damit deine ganze Qualität auf diesem schönen Planeten ohne Reue ausleben und verschenken.“

KRISEN-FEST – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz. Von Marit Marschall. Mit einem Interview mit Gerald Hüther.
310 S., 21,90 Euro, Europa Verlagsgruppe, ISBN 979-1-220-11656-5