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Schon in ihrer oberflächlichsten Form ist Dankbarkeit schön. Und gut. Sie hebt die Grenzen auf zwischen dir und mir, zwischen mir und den Dingen, erlaubt mir, die Umwelt als Mitwelt zu erleben. Im Mindesten verwandelt sie die Grenzen, innenräumlich wie innenzeitlich, in Grenzräume und macht sie damit gangbar und durchlässig.

Auf einer noch tieferen und vielleicht ihrer eigentümlichsten Ebene hilft sie uns, die Verbindung mit allen Wesen einzugehen. In der Dankbarkeit erklingt die Welt in mir und ermöglicht mir mitzuschwingen. Manchmal bin ich Regen, manchmal Sonnenschein und oft irgendetwas dazwischen, oft bewölkt mit gelegentlichen Sonnenschauern, oft blinzle ich den Wolken zu. Und immer nehme ich teil an der großen Verwandlung, sterbe in tausend Augenblicken und tauche immer wieder verwundert in mir auf – und in dir und der Welt und bin froh, dass ich da bin, dass du da bist und die Welt, und Leben und Sterben gehen so ineinander über, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Reihenfolge nicht umgekehrt ist: Sterben und Leben. Aber vermutlich ist es ja gar keine Reihenfolge, sondern ein Kreis, in den wir eingebunden sind.

Dann ist Dankbarkeit eine Lebensqualität, eine Qualität des Umgangs mit mir und der Welt; dann wird Dankbarkeit zur Achtsamkeit und Achtsamkeit zur Dankbarkeit und beide äußern sich in Zufriedenheit, in innerem Frieden inmitten einer turbulenten und oft schlimmen Welt, der ich dann anders und klarer begegnen kann, denn Dankbarkeit kann auch Richtschnur sein und Maß.

Manchmal, wenn ich ganz allein bin mit mir in der Natur – und das können Augenblicke sein –, empfinde ich eine so herzliche Verwandtschaft mit dem Leben um mich, dass ich es umarmen möchte, wie man das eben mit Freunden tut. Dann kann ich schon mal meine Brust an einen Baumstamm drücken und mein Anderssein vergessen, aber dann kommt das Schlimme: Eine Scham steigt in mir auf. Wie kann ich als Erwachsener, als Mensch, einen Baum umarmen! Ist das nicht kitschig?

Zwei schwierige Fragen

Nein, ist es nicht, im Gegenteil. Kitsch ist das Nachgemachte, Unechte. Im Gefühl der Verbundenheit mit der Natur flammt die Erkenntnis auf, dass aus ihr die Quelle unserer Existenz entspringt. Letztlich müsste der Aufruf lauten: Nicht zurück zur, sondern zurück in die Natur! Nur: Wie kann man an einen Ort zurückkehren, an dem man sich ohnehin befindet?

Nötig ist die Forderung „Zurück in die Natur“ geworden, weil wir uns schon vor Jahrhunderten von der Natur verabschiedet haben, auf dass wir sie uns nach Belieben unterwerfen können. Aber kann man etwas unterwerfen, das man selbst ist? Ja, offenbar kann man das; es gelingt, indem man sich geistig-seelisch zweiteilt, eine innerpsychische, kulturelle Schizophrenie herstellt, „die Natur“ als das Fremde abspaltet – und modern wird.

Was wäre ein Fluss ohne Mündung?

„Zurück in die Natur“ bedeutet, die Perspektive wechseln: Nicht die Natur ist für mich da, sondern ich bin für die Natur da oder, noch richtiger für mich: Wir sind einander geschenkt. Ob ich es will und begreife oder nicht, ich reihe mich ein in Ebbe und Flut der Nahrungsketten, liefere meine Moleküle ab an der großen Theke des Lebens zur weiteren Verwendung. In die Natur zurückzukehren, wäre gleichsam das Ende der Besserwisserei, das Ende einer westlichen Haltung, die besagt: „Natur, schön und gut, aber wir können es besser.“ „Zurück in die Natur“ wäre der Weg vom homo arrogans zum homo sapiens.

„Zurück in die Natur“ bedeutet auch, den Tod nicht mehr als Ende, als die Verneinung des Lebens zu verstehen, sondern als die Mündung des Flusses, die uns ins Meer entlässt. Es ist zwar richtig, dass es nach der Mündung keinen Fluss mehr gibt, aber was wäre der Sinn eines Flusses ohne Mündung? Und auch: Was wäre ein Meer ohne Flüsse?

Wir brauchen kein Jenseits

Was ist Seele? So unterschiedlich die Definitionen dafür ausfallen, als Trägerin unserer Lebendigkeit scheint sie uns eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Seele aushaucht, der ist nicht mehr, was er zuvor war. Hat denn nicht alles Lebendige Seele, von der Amöbe bis zum Menschen, von der Alge bis zur Rebe? Kann denn ein Lebewesen unbeseelt sein oder umgekehrt: Kann etwas Seelenloses sterben? Niemand käme auf die Idee, von einem gestorbenen Auto zu sprechen oder einer gestorbenen Spülmaschine. Sie sind „kaputt“.

Sind Körper und Seele nicht eins, statt, wie uns weisgemacht wird, gespalten zu sein? Ist nicht die Trennung von Körper und Seele eine Hilfskonstruktion zunächst der monotheistischen Religionen und später des Materialismus, der ohne Seele auszukommen glaubt? Ist ein seelenloses Biotop vorstellbar? Ist das kein Widerspruch in sich? Und sind nicht auch das Wasser dort, die Binsen und Mückenlarven, die Frösche und der Reiher, das Holz und die Steine Teil eines komplexen Ganzen? Nichts davon ist ein beliebig austauschbares „Ding“, sondern Mitgewachsenes und Zugehöriges, aus der Zeit Geborenes. Ist es nicht so, dass es in der Natur nur Ganzes gibt, und wenn wir Teil der Natur sind, dann sind auch wir unteilbar ganz. Wir benötigen kein Jenseits dafür. In einer ungetrennt beseelten Welt können wir uns auch ohne Transzendenz aufgehoben und weitergetragen fühlen.

Essbar sein

Wenn wir also „zurück in die Natur“ wollen – kommst du mit? –, dann verlassen wir die anatomische Perspektive, steigen vom hohen Ross bzw. westlichen Elfenbeinturm und lassen uns überwältigen, öffnen uns für die Schönheit, aber auch für den Tod und das Endliche, die die Grundlage sind für die Vielfalt und überwältigende Fülle des Seins. Dann sind wir bereit, unser nach Sicherheit, Distanz und Dominanz strebendes Ich preiszugeben, um ein neues, integres, weil integrales Ich zu entdecken im Kontakt mit der Welt, die wir sind. Der Hamburger Biologe und Philosoph Andreas Weber geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, „essbar zu sein“. Sich nach Unsterblichkeit zu sehnen, sagt er, sei eine „ökologische Todsünde“. Särge sind unser letzter Trennungsversuch, im Sarg sind wir noch nicht essbar für die Würmerwelt, zögern wir unsere Essbarkeit noch ein wenig hinaus; als Asche in der freien Natur wären wir hingegen essbar in einer quasi vorverdauten Form. In der Erkenntnis unserer Essbarkeit vereinigen sich Mystik und Biologie.

Wo endet die Innenwelt?

In die Natur zurückzukehren, heißt anzuerkennen, dass auch unsere Geschwisterwesen eine Innenwelt besitzen, dass sie die Welt subjektiv wahrnehmen, so wie wir auch. Letztlich weiß jeder um die Innenwelt allen Lebens, und einen Schritt weitergedacht: dass eine Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenwelt existiert. Alles fühlt, will heil und gesund sein, kann froh sein oder leiden, alles nimmt wahr, nur nicht unbedingt so wie „wir Menschen“. Aber wer ist schon „wir“? Du als Leserin fühlst anders als ich, die Innenwelt jedes Menschen unterscheidet sich von der des anderen; das ist unsere alltägliche Erfahrung. Und falls du einen Hund hast oder eine Katze, dann trifft das auch auf sie zu, nicht wahr? Letztlich gibt es dieses „wir“ gar nicht, diesen statistischen Querschnitt des Innenlebens aller Menschen, sehr wohl jedoch deine und meine Innenwelt und die aller anderen. So erhebt sich die Frage: Bei welchen Lebewesen, bei welcher Art endet die Innenwelt? Haben nur Lebewesen mit einem dem Menschen ähnelnden Nervensystem eine Innenwelt? Welche Innenwelt haben Vögel, Fische, Schlangen, Insekten, Pflanzen? Andreas Weber konnte unter dem Mikroskop beobachten, wie sich Einzeller furchtsam vor dem tödlichen Tropfen Alkohol auf dem Glas unter der Linse zurückzogen. Wollen schon Einzeller leben? Alles spricht dafür. Nicht nur wir blicken auf unsere Mitwelt, sie blickt auch zurück – und vermutlich vom Menschen dauertraumatisiert.

Radikale Wechselseitigkeit statt Romantik

Wenn wir einen Apfel essen, dann wird er zu einem Teil unseres Körpers; mit anderen Worten: Ein Teil eines Apfelbaums verwandelt sich in dich oder mich. Der Gedanke mag zunächst verblüffend erscheinen, und doch handelt es sich bei diesem Vorgang um den Normalzustand in der Natur und gilt sogar für die Steine, auch wenn deren Verwandlungsprozess hin zum Mineral und damit zum Pflanzennährstoff länger dauert als bei anderen Wesen. Nichts ist auf der Erdoberfläche, das nicht in den großen Stoffwechsel einbezogen wäre, und wer weiß: Vielleicht ist unser Planet ja ein Molekül im Stoffwechsel des Universums?

Hier geht es um keine Hirngespinste, romantischen Gefühle oder Rousseauschen Ideale, sondern um eine notwendige Revolution, wenn wir das Niveau unserer Zivilisation halbwegs aufrechterhalten wollen. Was ansteht, ist eine radikale Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die uns von Grund auf erfasst und in der der Mensch auf eine fundamentale Art und Weise Verantwortung übernimmt, wie er sich einer fühlenden, verletzlichen, gleichwürdigen Welt gegenüber verhält. Dann endet die seit Jahrhunderten andauernde Suche nach dem Sinn, weil wir auf eine ganz selbstverständliche Weise in Verbundenheit blühen und weil dieses Blühen nur geschieht, weil jedes Wesen mit dem anderen verschränkt, verknüpft und verwoben ist. Es ist ein Blühen von Geschwistern.

Symbiose statt Kampf

„Zurückkehren in die Natur“ würde bedeuten, respektvoll anzuerkennen, dass die anders-als-menschliche Welt eben nicht aus Dingen besteht, mit denen wir verfahren können, wie es uns beliebt oder gefällt; dass wir auch dann in die Welt eingreifen, wenn wir dort kein Leben erkennen können. Denn jeder Eingriff bleibt ein Eingriff in die Lebensströme und Zusammenhänge der Welt, und nur selten – wenn überhaupt – wissen wir genau um die Folgen unseres Tuns. Schon morgen kann unser Eingriff etwas anderes bedeuten als heute. „Zurück in die Natur“ erkennt: Leben ist Synergie und Symbiose, nicht Kampf. Noch wehren wir uns gegen die Umarmung der Bäume. Deshalb, so Andreas Weber, brauchen wir „eine Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen“. Nur dann haben wir eine Chance auf eine lebenswerte, der bisherigen Gegenwart ähnliche Zukunft.

Zur Vertiefung: Andreas Weber, Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik, Verlag thinkOya, ISBN 978-3-947296-09-5, 26,80 Euro

 

Wenn man sonst nichts zu tun hat, kann man sich darüber streiten …
Aber egal, Asra hat dazu einen schönen und wie ich finde, sehr lesenswerten, Blogbeitrag verfasst:

“Was ist männlich? Was ist weiblich? Und was hat das mit Männern und Frauen und Anderen zu tun?
Was ist normal? Heißes Thema. Fettnäpfchen bis zum Horizont.

Hier findet ihr den ganzen Beitrag.

Und hier als ziemlich aufwändig gemachten Videobeitrag:

von Peter Wyler*

Wir hören und lesen: Der Juli 2023 war temperaturmässig der heisseste in der Geschichte der Menschheit. Weltweit schmelzen die Gletscher und der «ewige Schnee» in den Bergen. Auch die Eisflächen an den Polen unserer Erde nehmen drastisch ab.

Die menschengemachte Klimaerhitzung ist wie eine Metapher. Je mehr zwischen den Menschen, ja selbst in mir und dir, so scheint mir, Kälte und Eiszeit herrscht, Gefühle und Beziehungen abgekühlt oder eingefroren sind, desto mehr und schneller schmilzt das Eis auf unserem Planeten. Eiseskälte gibt es (zum Glück nicht überall) zwischen Frauen und Männern, zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Familien, unter Gruppen, Völkern und Staaten. Auch zwischen Regierungen und «dem Volk» herrschen Abkühlung bis eisige Erstarrung. In der Politik geschieht eiskaltes Lobbying und knallharte Interessensvertretung – anstatt wirklichem Erschaffen von Gemeinwohl und dringend notwendigen Lösungen.

Vor lauter Ansprüchen von uns Menschen haben die Bedürfnisse vieler Mit-Lebewesen auf dieser Erde nichts mehr in unseren frierenden Herzen verloren. Tausende Lebewesen-Arten sind durch unser Verhalten ausgestorben, bevor wir die Wunder des Lebens in ihnen erkennen und bestaunen konnten. Unsere Gefühle sind abgekühlt bis tiefgefroren, abgeschottet, abgestumpft, weggedrängt. Die Verbindung in unser Innerstes und Wärmendes wie durch eine «Eiswand» getrennt.

«Je erkalteter unsere Gefühlswelt, desto mehr und rascher schmilzt das Eis auf unserem Heimatplaneten.»

Oder als konstruktivere, aufmunterndere Version:  «Je erwärmender, lebendiger und friedfertiger unsere Gefühlswelt und unsere allseitigen Beziehungen, desto weniger überhitzen wir mit unserem Konsumverhalten den blauen Planeten. Und desto weniger zerstören wir die Natur und unsere Lebensgrundlagen.»

Ob die Klimaerhitzung noch rechtzeitig von uns gemeinschaftlich und weltweit gestoppt, sowie das Eis auf den Bergen, an den Polen und die Biodiversität wieder regenerierbar sind, können wir nicht sicher voraussehen.

Lassen wir das Eis in unseren Herzen schmelzen. Begegnen wir uns selbst und allem wieder mit Offenheit, Wärme und Zuneigung. Das ist der fruchtbare Boden für wachsende Verbundenheit, mehr Lebenstiefe, Freude und Geborgenheit. Wenn das Eis in uns und zwischen uns schmilzt, erwärmt sich der Boden des Verbundenseins, gedeihen daraus frische, kräftige, vielfältige, tragfähige Gemeinschaften. So beginnen die eigenen Probleme, wie auch die der Menschheit, zu schmelzen …

*© Peter Wyler, CH-8707 Uetikon am See, 24. August 2023

Ein wundervolles Video, in dem Andreas Weber anhand eines Kindheitserlebnisses Interbeing in zugleich lyrische wie nachdenkliche Worte fasst, Trauer eingeschlossen:

Wir sind die Guten. Wir essen Brot vom regionalen Biobäcker und trinken unser Wasser von Rhönsprudel. Wir kaufen keine gespritzten Kartoffeln, wir kaufen faire Rosen bei Lidl und wir fahren noch viel öfter Rad als die anderen; wenn wir zu Fuß gehen wollen, gehen wir wandern, und wir haben den Fernseher abgeschafft, weil uns der Mainstream soooooo auf den Geist geht.

Wir telefonieren mit Fairphone, wir beziehen grünes Gas von Lichtblick und Strom vom Dach, und wir fliegen nur selten oder gar nicht. Unsere Miele-Waschmaschine wäscht mit Regenwasser aus der Zisterne, unser Auto fährt mit Gas. Irgendwie sind wir schon ziemlich vorbildlich. Wir schicken unsere Kinder auf die Waldorfschule, wir kaufen nur Holzspielzeug und spenden an Weihnachten für Indigene. Wir lassen uns unsere Druckerpatronen, so grün wie möglich, von Memo schicken, und wir beziehen Biowein von einem Demeterhof in der Toskana.

Das kostet alles Geld, das wir uns mühsam erarbeitet haben und nachhaltig investieren. Wir beuten niemanden aus, sondern werden höchstens ausgebeutet oder beuten uns selber aus, und wir verheizen unser Gas bei niedriger Raumtemperatur. Wir schauen uns freches Kabarett an und auf Youtube schon mal Kaiser TV. Wir lesen weder den Spiegel noch den Stern, sondern Contraste und Zeitpunkt und hören den Greenpeace Podcast über Frieden, Krieg und Sicherheit im 21. Jahrhundert.

Wir sind die Guten. Würden alle so leben wie wir, dann wäre die Welt in Ordnung; jedenfalls Europa und die sonstige westliche Welt. Wenn der Rest des Globus nur aus unseren Fehlern lernen würde und nicht so dumm wäre zu meinen, jeden Tag warm duschen zu müssen, zweimal im Jahr Urlaub machen oder einmal im Monat schön vegetarisch essen gehen zu müssen. Oder eine Apotheke haben zu müssen gleich um die Ecke, und einen Hausarzt, eine Nanny und eine Sozialstation. Man muss sich auch keine Babynahrung kaufen in Angola, Belize oder Bangladesh; dort braucht man wirklich keinen Supermarkt, kein Schuhgeschäft, keine Biokosmetik und erst recht keinen Friseur. Man muss sich nicht unbedingt einen Computer kaufen oder einen Rasenmäher. Das alles macht nicht glücklich. Das wissen wir auch, aber wir sind’s nun mal gewohnt und können nichts dafür. Wir haben uns unseren Geburtsort nicht ausgesucht, da fühlen wir uns mit den Ärmsten der Welt vollkommen solidarisch. Es ist unser Glück, dass wir satt sind und Fastenkuren machen, und deren Pech, dass sie nicht wissen, wo sie am nächsten Tag Nahrung für ihre Kinder herbekommen.

Irgendwie ist das eben Schicksal; auch dass wir ein Krankenhaus haben und die, wenn sie Glück haben, einen Schamanen; dass wir Geld in die Forschung pumpen können und die Analphabeten sind; dass wir Geld auf dem Konto haben und die nicht mal wissen, was ein Konto ist. Dass wir hier einen öffentlichen Nahverkehr haben und die vierzig Kilometer zu Fuß gehen müssen. Dass es dort keine Arbeit gibt, weil ihr Land vertrocknet oder die Tiere verdursten, und wir hier für die nächste Lohnerhöhung streiken. Darum können wir es uns ja auch leisten, Kaffee aus fairem Handel zu kaufen und Demeter-Schokolade und Recycling-Klopapier. Wir können für die Umwelt kämpfen und schützen den Regenwald immer wieder mal und die Korallenriffe auch ein bisschen, solange es denen nicht zu warm wird. Wenn wir so wenig Geld hätten wie die, wäre alles noch viel schneller kaputt. Mit unserer Erfahrung und unserem technischen Know-how werden wir ihnen irgendwann einmal beibringen, wie Umwelttechnik funktioniert, wie man Häuser voll isoliert, damit man nur die Hälfte der Energie braucht. Wir werden ihnen auch zeigen, wie man Traktoren baut, die locker die Arbeit von hundert Menschen erledigen, solange es Bio-Diesel gibt, und wie man in nachhaltige Geldanlagen investiert, damit sie auch einmal zu den Guten gehören – in naher oder ferner Zukunft.

In diesen jeweils ca. 15 Minuten dauernden Gesprächen unterhalten sich Thomas Hann und Bobby Langer über die Möglichkeiten unserer Zeit, zum Beispiel darüber, ob es so etwas wie deutsche Tugenden gibt, ob es im Gegensatz zum zwölfjährigen “1000jährigen Reich” ein tatsächliches “1000-jähriges Reich der Menschheit” geben könnte oder über eine resiliente Gesellschaft und die entsprechenden Perspektiven daraus. Hier beginnt die Playlist:

Ein Katalysator für die Wandelbewegung – das ist eine Selbstbeschreibung von Ökoligenta, einer Plattform, die unzählige Mosaiksteinchen des ökosozialen Wandels zusammenträgt. Damit will Ökoligenta zeigen, was es alles schon gibt und vor allem, wie das gute Leben für alle aussehen kann. Im Mut-Talk erzählt Bobby auch über seinen persönlichen Lebens- und Wachstumsweg und die bunten Biografien der Menschen hinter Ökoligenta.

von Peter Zettel

Rote oder blaue Pille?

Gestern sah ich in einem Video-Gespräch im Hintergrund ein Bild mit einer roten und einer blauen Pille. Ganz klar eine Anspielung auf den Film „Matrix“. Was mich zu der erstaunten Frage veranlasste „Du hast dich noch nicht entschieden?“

Sein „Doch, habe ich!“ klang mir jedoch nicht überzeugend, denn hätte er sich entschieden, wäre da eine Pille weg. Falls Sie den Film nicht kennen:

Neo wird vor die Wahl gestellt, eine blaue oder eine rote Pille zu schlucken. Nimmt er die blaue, geht es für ihn zurück in seine heile Welt, die nicht der Realität entspricht. Die rote Pille bewirkt das genaue Gegenteil und befreit ihn aus der Simulation.

Also ich kenne keinen Philosophen oder Wissenschaftler, den ich ernst nehmen würde, der nicht die rote Pille geschluckt und eine eindeutige Meinung hätte. Der Weg Suche nach der Wahrheit lässt nämlich keinen anderen Weg zu. Rote oder blaue Pille?

Die Entscheidung muss man treffen: Will ich wirklich die Wahrheit über mich selbst wissen oder möchte ich nur meine Ansichten bestätigt haben? Die Wahrheit kann nämlich ganz schön hart sein.

Weiter mit Mit den Wölfen heulen …

Permakultur lässt sich aufs eigene Leben übertragen

“We are all elders in training …”
Mala Spotted Eagle

Mit „Krisen-Fest – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz“ schreibt Marit Marschall ein Handbuch für alle Menschen, die nicht „in Jammern und Leiden“ verharren wollen. „Wir Menschen haben Mist gebaut, und jetzt machen wir es besser“, konstatiert sie. Krisen-Fest ist ein poetisches, kluges Lehrbuch für all jene, die nach einer Methode suchen, wie sie in einer krisengeschüttelten Zeit persönlich als Mensch, aber auch – sofern sie das wollen – gärtnerisch, stabil werden und bleiben können.

Von Bobby Langer

Wie kann es sein, dass ein Ökosystem Jahrhunderte, ja Jahrtausende funktioniert, so lange der Mensch es in Ruhe lässt? Was sind die ineinandergreifenden Prinzipien eines solchen „Wunders“, haben sich die beiden Australier Bill Mollison und David Holmgren vor ein paar Jahrzehnten gefragt und haben sich auf die Suche nach Antworten gemacht. Heraus kam die „Permakultur“ mit Erkenntnissen, die sich in Windeseile über den Erdball verbreitet haben. Auch in Deutschland gibt es inzwischen Tausende von Anwendern der Permakultur-Prinzipien, die in Hausgärten ebenso gut funktionieren wie auf dem Bauernhof.

Längst hat sich Permakultur zu einer Agrar-Systemwissenschaft entwickelt, die die Grundlagen des biologischen Anbaus sowohl vervollständigt als auch erweitert. Und Permakultur lässt sich erlernen, in Deutschland in privaten Akademien, in Österreich sogar an der Universität für Bodenkultur Wien. Nach einer mehrjährigen Ausbildung erhält man den Abschluss als Permakultur-Designer/in.

Auch Marit Marschall hat auf der Suche nach der Quelle unserer natürlichen Resilienz diesen Weg gewählt. In ihrer Abschlussarbeit hat sie dargelegt, dass sich die „geistigen Werkzeuge“ der Permakultur auch auf die menschliche Lebensplanung anwenden lassen, als Design für die innere Landschaft. „Wir können uns ausprobieren als innerer Gärtner und Designer unseres Lebens“, sagt Marit Marschall. Dazu hat sie den „Baumplan“ entwickelt und seine Verwendung in ihrem Buch leicht verständlich, übersichtlich und kleinschrittig nachvollziehbar beschrieben. Die anmutigen und überraschenden Farbbilder der englischen Naturkünstlerin Amber Woodhouse verleihen dem Buch schon beim ersten Durchblättern einen gewissen Zauber.

„Krisen-Fest“ – die Schreibweise verweist auf eine Doppelbedeutung: Einerseits unterstützt die Autorin psychologisch wie permakulturell sachkundig dabei, krisenfest zu werden; dies aber nicht in einem statischen Sinn, sondern flexibel und widerstandfähig wie die Natur, in der jede Krise das Potential zu Entwicklung und Wachstum birgt.

Schritt für Schritt führt dieses Kompendium der Achtsamkeit aus der Permakultur-Perspektive die LeserInnen voran: vom sinnvollen Aufbau der eigenen Resilienzwurzeln über den Stamm des persönlichen Lebensbaums – die Analyse – bis hin zur zuverlässigen Ernte der Früchte: des eigenen Lebensertrags. Dabei gelingt Marit Marschall die Gratwanderung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und spirituellen Einsichten. Krisen-Fest ist kein Aufruf „Zurück auf die Bäume“, sondern vielmehr die Vision eines indigenen europäischen Lebens, bei dem Mitwelt und Mensch harmonisch klug miteinander verschmelzen. „Du lebst mehr im Einklang mit deinen Bedürfnissen und denen aller Lebewesen. Nicht mehr als Ausbeuter und ignoranter ‚Mensch‘, sondern als integrierter Bewohner des Planeten. So wie du es dir immer gewünscht hast.“

Im Kapitel „Die Wurzeln der Bedürfnisse“ zitiert die Autorin en berühmten Erfinder und Architekten R. Buckminster Fuller:

„Ich glaube, wir befinden uns in einer Art Abschlussprüfung, ob der Mensch mit dieser Fähigkeit zur Informationsbeschaffung und Kommunikation jetzt wirklich qualifiziert ist, die Verantwortung zu übernehmen, die uns übertragen werden soll. Und es geht hier nicht um eine Prüfung der Regierungsformen, es geht nicht um Politik, es geht nicht um Wirtschaftssysteme. Es hat etwas mit dem Individuum zu tun. Hat der Einzelne den Mut, sich wirklich auf die Wahrheit einzulassen?“

Krisen-Fest ist ein Mut-Buch in diesem Sinn, und ein Aufbruchsbuch für alle, die vielleicht noch einen letzten Impuls brauchen, um sich auf den Weg zu machen; ein Aufruf, die uns mögliche Souveränität anzunehmen und damit Verantwortung für unseren Lebensstil. Es ist aber auch eine detaillierte Aufmunterung voller gärtnerischer und permakultureller Details für alle, deren Weg sich manchmal beschwerlich anfühlt. „Handlungsfähig werden im individuellen wie im globalen Sinn“ – darum geht es hier. „Unsere innere Ausrichtung auf die konsequente Lebensqualität ist, was uns noch fehlt“, sagt Marit Marschall. „Mit diesem Buch kannst du dich darin schulen und ausbilden, deine Bedürfnisse als gesundes Ökosystem wieder zu spüren, deine Gedanken, dein Fühlen und Handeln an dem Maßstab der Prinzipien der Ökosystem zu prüfen und auszurichten. Du kannst damit deine ganze Qualität auf diesem schönen Planeten ohne Reue ausleben und verschenken.“

KRISEN-FEST – wie wir aus Lebenslust die Welt retten. Eine Ode an unsere natürliche Resilienz. Von Marit Marschall. Mit einem Interview mit Gerald Hüther.
310 S., 21,90 Euro, Europa Verlagsgruppe, ISBN 979-1-220-11656-5